(pri) Ziemlich erstaunt, gar verunsichert realisieren Politiker und die mit ihnen verbundenen Medien, dass die Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Politik trotz all ihrer Bemühungen um Geschlossenheit und Einmütigkeit ständig zunehmen. Muss man gar befürchten, dass sich die Verantwortlichen in Amts- und Redaktionsstuben schon bald an Bertolt Brechts berühmten Ratschlag erinnern, dieses unbotmäßige Volk aufzulösen und sich ein neues zu wählen? Nun, ganz so schlimm ist es noch nicht. Immerhin sind über 70 Prozent der Deutschen bereits zweimal geimpft, tun also, was man von ihnen verlangt. Was freilich nicht heißt, dass sie mit allem zufrieden sind, was der Regierung zur Bekämpfung von Covid-19 einfällt, auch wenn es in aller Regel von der journalistischen Zunft mit Beifall bedacht wird.
Solche Unzufriedenheit wird auf die Straßen getragen, und man kann vermuten, dass dort auch nicht wenige unterwegs sind, die sich haben impfen lassen – viele gerade deshalb, weil sich ihre Situation trotzdem nicht besserte, eher im Gegenteil. Schließlich tragen nicht wenige Demonstranten auch Masken; die Mehrzahl entstammt – wie inzwischen auch unverdächtige Beobachter wie der Staatssekretär im brandenburgischen Innenministerium, Uwe Schüler, zugeben – dem »bürgerlichen Spektrum«. Es sind oft »normale Bürger«, gebildet, konservativ denkend, die eigene Unabhängigkeit schätzend. Sie stellen also das kapitalistische System nicht in Frage, fühlen sich aber zu wenig ernst genommen, gegängelt, teilweise ausgegrenzt. Und werden wütend, wenn man sie an Protestformen hindert, für deren Einfluss auf die Infektionsgeschehen sie keine belastbaren Belege erhalten und die sie schon gar nicht als staatsgefährdend betrachten.
Dabei dominieren die oft beschworenen Rechtsextremisten keineswegs die »Spaziergänge«. Brandenburgs Verfassungsschutzchef Jörg Müller konstatierte gar: »Die Extremisten sind in der absoluten Minderzahl.« Sie sind es freilich andererseits, die sich an die Spitze des Protests zu stellen versuchen, die Organisation übernehmen und ihre Inhalte verkünden. Sie kapern den berechtigten Unmut der Demonstranten, weil niemand sonst deren Interessen vertritt, im Gegenteil.
Die etablierten Parteien von Mitte bis links haben sich von Anfang an ungeachtet der schweren Versäumnisse der Regierenden in Bund und Ländern schon bei der Vorsorge vor einer solchen Pandemiesituation und später auch angesichts zahlreicher vermeidbarer Fehler und Pannen weitgehend kritiklos hinter die Regierung und ihre Entscheidungen gestellt und dadurch rechten Kräften die Unzufriedenen überlassen.
Ergab sich das bei den Koalitionären CDU/CSU und SPD aus ihrer eigenen Verantwortung für die Situation und war es bei den Grünen deren Streben in ein Bündnis mit der Union geschuldet, so stellte es bezüglich der anderen Oppositionsparteien ein unverständliches Versagen dar. Lediglich die FDP bezog partiell Stellung gegen einzelne Maßnahmen der Regierung und wurde nicht zuletzt deshalb mit einem guten Ergebnis bei den Bundestagswahlen belohnt. Die Linkspartei war hingegen ein Totalausfall, was wesentlich zu ihrer eklatanten Wahlniederlage beitrug. Auch die Grünen schnitten letztlich schlechter ab als erwartet.
Die aus den Wahlen hervorgegangene Ampelkoalition trägt diese Widersprüche weiter in sich und ist daher nicht in der Lage, auf die Pandemie mit einem geschlossenen, durchdachten Konzept zu reagieren. Auf der einen Seite statistische Panikmache und zugleich Maßnahmen, die solchem Alarmismus in keiner Weise entsprechen – und dennoch offensichtlich ausreichend sind, weil zu Panik gar kein Anlass besteht. Die Omikron-Variante sollte »wie eine Wand« auf uns zukommen; tatsächlich ist es »nur« eine mittelgroße Welle, die zudem die Intensivstationen eher ent- als belastet. Der »Freitag« zählte jüngst seit Ende November 35 515 Omikron-Infizierte; davon mussten 361 im Krankenhaus behandelt werden, neun starben.
Immer mehr verstärkt sich der Eindruck einer Beliebigkeit der Schutzmaßnahmen, nämlich unter dem Vorbehalt ihrer Realisierbarkeit. Quarantänezeiten, die gegenüber einzelnen Betroffenen unnachsichtig durchgesetzt wurden, sind plötzlich obsolet – wegen der »kritischen Infrastruktur«, die arbeitsfähig bleiben müsse. Ist also Corona bei für staatliches Handeln wichtigen Personen nicht so schlimm wie bei Otto Normalverbraucher?
Auch zur Behebung der größten Defizite der abgewählten Regierung bei der Bekämpfung von Covid-19 hat auch das neue Bündnis noch nichts Substanzielles auf den Weg gebracht. Nach wie vor sind die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altersheimen schlecht und die Gehälter unzureichend, so dass sich die Fluktuation fortsetzt. Lüftungsanlagen in Schulen fehlen auch im dritten Corona-Winter weitgehend. Und mit der versprochenen allgemeinen Impfpflicht tut sich die Ampelkoalition schwer, wobei jetzt ausgerechnet die FDP bremst und damit ein verheerendes Signal an alle Impfskeptiker sendet. Für den Bundestag jedoch kein Grund, schnell zu einer Entscheidung zu kommen. Stattdessen werden wegen Karnevalsveranstaltungen die eigentlich unaufschiebbaren Debatten darüber auf die lange Bank geschoben.
All dies untergräbt in beträchtlichem Maße das Vertrauen der Menschen, ob die Regierenden in Bund und Ländern das Pandemiegeschehen tatsächlich unter Kontrolle haben und ihre Entscheidungen dementsprechend zielführend sind. Damit wächst zugleich der Unwille, sich offensichtlich schlecht begründeten Anti-Corona-Maßnahmen zu unterwerfen, was zum einen die Zunahme der Proteste erklärt und zum anderen die mangelnde Motivation, solche Proteste abzulehnen oder gar dagegen aufzutreten.
So steht der Staat nicht nur den erklärten »Querdenkern« auf der Straße gegenüber, sondern auch solchen zu Hause. Schon ersteren kommt er nicht bei, weil das Grundgesetz, Art. 8, unmissverständlich feststellt: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« Zwar kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel per Gesetz eingeschränkt werden, doch an diesem mangelt es hinsichtlich des aktuellen Demonstrationsgeschehens oftmals, und die Polizei wird vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Die Folge sind Bilder, die jenen ähneln, die wir bisher nur aus Moskau, Minsk oder Hongkong sahen. Was dort als Aufbruch der Zivilgesellschaft gefeiert wurde, gerät hier in den Verdacht krimineller Handlungen. Dass sich auch Linke dabei hervortun, verstört besonders, erinnert es doch an deren unselige Vergangenheit repressiver Problemlösung.
Noch weniger aber erreicht der Staat jene, die sich den Vorschriften zwar beugen, nichtsdestotrotz aber nicht von ihnen überzeugt sind. Auch sie sind letztlich Querdenker – und sei es nur, weil ihnen widerstrebt, sich in den regierungsamtlichen Mainstream einzuordnen, wie es derzeit allenthalben gefordert wird. Sie sollen Geradeaus-Denker sein; früher nannte man sie Linientreue. Doch mit solch grundsätzlicher Unterordnung unter die Regierungsmeinung ist Veränderung noch nie erreicht worden, werden vielmehr Fehlentwicklungen toleriert und dadurch verfestigt. Schon denken Sicherheitsexperten darüber nach, ob sogenannte Querdenker-Demonstrationen nicht als »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« bearbeitet werden müssten – eine Gummi-Formulierung, die sich letztlich auf jede Art von Protest übertragen lässt.
Dabei ist unbestritten, dass es aus solchen Querdenker-Demonstrationen heraus immer wieder zu Straftaten kam und kommt, die unnachsichtig zu verfolgen sind. Dafür aber ist die Polizei trainiert, sie muss es nur tun. Doch anders als oft bei Kundgebungen linker Aktivisten oder kurdischer Emigranten lässt sie Rechtsextremisten nicht selten viel Spielraum, ihre Losungen vor sich her zu tragen und zu skandieren, gar Gegendemonstranten und Journalisten tätlich anzugreifen. Mehr Konsequenz der Polizei, gezielt gegen solche Gewalttäter vorzugehen, erleichterte es auch friedlichen Demonstranten, sich von ihnen abzugrenzen.
Das Anwachsen der Proteste gegen viele der Anti-Corona-Maßnahmen in Bund und Ländern signalisiert, wie sehr sich der Rechtsstaat in eine Sackgasse manövriert hat. Er zeigt sich nicht in der Lage, angemessen auf die Pandemiesituation zu reagieren und damit den Bürgern Sicherheit und Zuversicht zu vermitteln, sondern erzeugt Unmut und Misstrauen, was in Widerstand mündet – aktiv auf den Straßen und passiv durch stille Verweigerung. Diese Entwicklung ist letztlich nicht weniger besorgniserregend als die Kurve der Inzidenzzahlen.