(pri) Die Insel in der Nordsee musste lernen, mit ihrer ungestümen Natur weitgehend im Einklang zu leben und meidet wohl auch deshalb politische Scharmützel.
Wollte man aus heutiger Sicht die geopolitische Stellung Islands beschreiben, dann verlockt dazu der lange Felsspalt, der am Südwestzipfel der Insel, bei Þingvellir, jene Stelle markiert, an dem zwei große tektonische Platten aufeinanderstoßen – die nordamerikanische und die eurasische Kontinentalplatte. Etwa 2,3 cm bewegen sich die Platten im Jahr auseinander – taugt das als Sinnbild für die Entfremdung zwischen Nordamerika und Europa, die sich seit einigen Jahren auch politisch vollzieht und für Unruhe an vielen Fronten sorgt – weit über das nordische Eiland hinaus? Oder ist solche Betrachtung zu holzschnittartig, auch wenn man bedenkt, dass es die Wikinger waren, die im neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erstmals auf Island landeten? Ihre robuste Lebensweise wie ihr Unabhängigkeitsstreben wurden beinahe sprichwörtlich, und die Isländer sehen in ihnen auch diesbezüglich Stammväter, denen es nachzueifern gilt.
Die Landschaft der Insel ist ohnehin unwirtlich, bis zu drei Vierteln ihrer Fläche im Zentrum bilden das Hochland Islands und sind fast unbewohnt. Mehr als zehn Prozent sind von Gletschern bedeckt. Schon bei der Anreise von Süden her bekommt man einen Eindruck von der Wildheit des Terrains, denn dem Land sind die Westmänner-Inseln vorgelagert, oftmals nur schroffe Felsen und Schären, größere in der Regel unbewohnt, aber eine imposante Naturkulisse, ehe dahinter das eigentliche Inselland beginnt. Und eben auch die Schlucht von Þingvellir, die Allmännerschlucht, ebenso wild und unangepasst in die Landschaft gesetzt, einer schrundigen Wunde ähnlich, in der es aber unaufhörlich arbeitet. Hier steht man westlich der Schlucht in Amerika und kann nach Europa hinüberschauen. Hätten dies die Wikinger vor mehr als tausend Jahren schon gewusst, ihre beschwerliche Suche nach Landmasse jenseits des Atlantik wäre vielleicht etwas einfacher gewesen. Heute kann man sogar von Kontinent zu Kontinent tauchen, in der Silfra-Spalte, wo das Wasser selbst bei zweistelligen Minustemperaturen nicht zufriert, mit zwei bis vier Grad aber dem Taucher dennoch einiges abverlangt.
Zwar ist Island inzwischen touristisch fast gänzlich erschlossen, doch sollte der Reisende stets auf Überraschungen gefasst sein, selbst dort, wo er auf ausgebauten Wegen zu wandeln scheint. So öffnete sich 2011 auf einem der Pfade durch die Allmännerschlucht ein Loch und darunter eine etwa zehn Meter tiefe Spalte; eine Holzbrücke sichert heute diesen Wegabschnitt. Immerhin durchstreifen jährlich Tausende Þingvellir – und das nicht nur wegen der geologischen Kuriosität und der wildromantischen Landschaft, sondern auch, weil dieser Ort als Geburtsstätte der isländischen Nation gilt.
Denn nicht weit von hier, im Gebiet des heutigen Reykjavik, ließen sich aus Norwegen angereiste Wikinger nieder und bildeten bald eine Stammesgemeinschaft, die allgemeingültiger Regeln bedurfte. Diese erließ eine Versammlung der Stammesältesten, die sich, beginnend im Jahre 930, alljährlich am See Þingvallavatn traf, um Gesetze zu beschließen und Gerichtstag zu halten. Da kamen Hunderte angereist, von allen Ecken der Insel, machten Quartier, indem sie Steinfundamente bauten, mit Rasenstücken belegten und darüber Leinenzelte errichteten. Denn der AlÞing, wie sie die Versammlung nannten, dauerte Tage und Wochen.
Noch heute flößt diese Stätte dem Besucher Ehrfurcht ein. Gewaltige Basaltmauern türmen sich hier auf, wie von Riesenhand aneinandergereiht; sie schirmen das sich anschließende Tal bis hin zum Þingvallavatn ab – und diese Ebene steht in scharfem Kontrast zu den kantigen Felsen, denn sie weitet sich geradezu lieblich bis zu entfernten Bergen – von unzähligen Wasserläufen durchzogen, aus denen Inselchen und Sandbänke lugen. Dazwischen im Sommer Streifen satten Grüns, sparsam Bäume und Sträucher, aber immer wieder steinerne Aufbrüche, Kratern ähnlich, die ahnen lassen, wie diese Landschaft entstand – und sich immer wieder veränderte.
Den Reiseschriftsteller Erich Wustmann, der Island mehrfach besuchte, übermannte bei diesem Blick die Phantasie, und er malte sich aus, wie es hier während des AlÞings zuging: »Achtbare Männer durchschritten die Schlucht, schöne Frauen bewegten sich auf der Ebene, buntes Treiben herrschte ringsum, Händler priesen ihre Waren an, Sänger verbreiteten ihre Skaldenlieder, und Alte erzählten sich Geschichten, die als Sagas in die Weltliteratur eingegangen sind. Da gab es viele Herren und Knechte, Reiche und Arme, Gehuldigte und Verfolgte. Was heute oben war, konnte andern Tags tief unten sein. Der Gunst und dem Glück war nie zu trauen. Locker stak das Schwert in der Scheide des Starken, hoch auf loderten die Flammen, wenn die Blutrache zur Ausrottung eines ganzen Geschlechtes rief.«
Gern sehen die Isländer im AlÞing die Geburtsstunde der Demokratie, preisen ihn als das erste Parlament der Welt, was freilich nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass schon damals die Welt sorgsam aufgeteilt war. »Landnahmezeit« heißt zutreffend die Periode vor dem ersten AlÞing, und bei dieser entschieden Tatkraft und Stärke, Machthunger und Einfluss, wer das größte und beste Stück vom Kuchen bekam. Nicht demokratische Teilhabe war das Anliegen der Versammlungen in Þingvellir, sondern die Festschreibung der so entstandenen Besitzverhältnisse.
Die Hauptprofiteure der Landnahme wurden zu Stammesfürsten; ihr Platz auf dem Gesetzesberg war ganz oben, während die Masse der einfachen Bauern vom Fuße des Steinkolosses hinauf blickte – und nur hoffen konnte, nicht eines Vergehens beschuldigt zu werden, das zu Enteignung, Verbannung in die Wüste oder gar zur Todesstrafe führte. Die isländische Literatur ist voll von frühen Sagas, die die damaligen Herrschaftskonflikte reflektieren, gemeinhin in dokumentarischer, oft dialogischer Form. Meist ging es dabei um Eigentum, und diese Fixierung auf das, was nur mir gehört, gilt bis heute. Selbst das öde Hochland hat seine Besitzer, wovon Zäune zeugen, die die Schafherden am Wechseln auf fremdes Territorium hindern sollen.
Die große Bedeutung von Eigentum für die Isländer begründet ebenfalls ihre überwiegend konservative politische Haltung. Bei Wahlen – so auch im vergangenen September – liegen in der Regel die Unabhängigkeitspartei, im konservativen Spektrum verwurzelt, und die bäuerlich-liberale Fortschrittspartei vorn, die beide jedoch flexibel genug sind, um mit der links-grünen Bewegung zu koalieren und dieser sogar das Ministerpräsidentinnenamt zu überlassen, das Katrin Jakobsdottir inne hat. Alle drei Parteien fühlen sich Islands Unabhängigkeit, die 1944 in Þingvellir vor Tausenden feierlich besiegelt wurde, verpflichtet und lehnen zum Beispiel einmütig einen Beitritt zur EU ab.
Zwar ist das Land Mitglied der NATO, doch unterhält es keine Armee, was seinen Beitrag zum Militärbündnis auf die Zulassung von Fläche und Infrastruktur sowie finanzielle Unterstützung reduziert; zum Beispiel betrieben die USA von 1951 bis 2006 eine Basis in Keflavik. Islands Erfahrungen mit NATO-Partnern, vor allem Großbritannien, waren nicht gerade die besten. Nach langer Fremdherrschaft durch Norwegen und Dänemark besetzten 1940 die Engländer die Insel unter dem Vorwand, einer deutschen Invasion zuvorzukommen, 1941 folgten ihnen die Amerikaner. Und nach dem Krieg machten die Briten Island seine Fischfanggebiete streitig und verzichteten dabei auch auf militärische Aktionen nicht.
Die Insel im Nordatlantik mühte sich eher um friedlichen Ausgleich. So fand 1986 in der Hauptstadt Reykjavik das sowjetisch-amerikanische Gipfeltreffen zwischen Michail Gorbatschow und Ronald Reagan statt, mit dem das Ende des Kalten Krieges eingeleitet wurde. Im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der NATO sieht Island keinen Anlass, sich dem Bündnis anzunähern, um eigene Streitkräfte politisch aufzuwerten und finanziell besser auszustatten – wie es in Schweden und Finnland gerade versucht wird.
Architektonisch ist Reykjavik nicht sonderlich auffällig. Weit zieht sich die Stadt an der Küste entlang und wird hier vor allem geprägt von Hafenanlagen und Speichergebäuden, die der Silhouette jede Eleganz nehmen. Es überwiegen drei- bis vierstöckige Gebäude, die das Stadtgebiet zersiedeln. In den letzten Jahrzehnten wurden allerdings etliche spektakuläre Bauten hinzugefügt. Weithin sichtbar ist die Hallgrímskirkja, eine lutherische Kirche, mit ihrem 74,5 Meter hohen Turm. Sie wurde 1986 eingeweiht; ihr Bau hatte 40 Jahre gedauert.
Flotter kam man mit dem Rathaus voran, das in moderner Sichtbetonbauweise von 1987 bis 1992 im Zentrum Reykjaviks, am Tjörnin-See, entstand. Seit 1991 fällt nahe dem Flughafen auf einem Hügel der Glaskuppelbau Perlan, die Perle, auf, eigentlich ein profaner Warmwasserspeicher, der jedoch die ganze Stadt mit Heißwasser aus 70 Bohrlöchern versorgt und mit einem Drehrestaurant gekrönt wird. Es erlaubt einen schönen Rundblick über die Hauptstadt und auf einen künstlichen Geysir, der wie eine Rauchfahne aussieht; Man sagt, Reykjavik, zu deutsch »Rauchbucht«, habe seinen Namen deshalb erhalten, weil hier mehrere solcher »Fahnen« die Ankömmlinge empfing.
Dass die heißen Quellen nicht nur für Islands Energieversorgung bedeutsam sind, sondern sogar mediterranes Flair auf die eisige Insel zu zaubern vermögen, kann man unweit von Reykjavik, in Hveragerði, bestaunen. Dort befindet sich ein Hochtemperaturgebiet mitten im Ort, und aus nicht wenigen Gärten steigen weiße Rauchfahnen auf. Ein Einkaufszentrum, das sich beziehungsreich »Eden« nennt, nutzt diese natürliche Fußbodenheizung und bietet nicht nur prächtige tropische Blumen an, sondern auch Südfrüchte aller Art aus eigenem Gartenbau.
Dass sich der weiße Rauch, der vielerorts über isländische Ländereien dahinschwebt, sogar vergolden lässt, zeigt das wohl berühmteste Hochtemperaturgebiet Haukadalur, etwa 100 Kilometer östlich von Reykjavik. Es bildet zusammen mit Þingvellir und dem Gullfoss-Wasserfall zehn Kilometer weiter den sogenannten Goldenen Ring des Island-Tourismus, denn hier befinden sich die bekanntesten Geysire und eine Vielzahl heißer Quellen – ein Areal also, dass sich im wahrsten Sinne »vergolden« ließ, obwohl man das lange nicht wahrhaben wollte.
Noch im 19. Jahrhundert galt das öde, landwirtschaftlich nicht nutzbare Land als unverkäuflich und wechselte mehrfach für geringe Beträge den Besitzer. 1935 schenkte es der Eigentümer dem Staat; er solle diesen »Schatz« vor Eingriffen schützen und zum Nationalpark machen. Doch lange tat sich nicht viel. Bis in die 1990er-Jahre fuhr nur zweimal täglich ein Linienbus zu den Geysiren. Erst die Finanzkrise 2008, in der sich Island hoch verschuldete und das Land nach neuen Geldquellen suchen musste, brachte die Wende. Seitdem wurde das Gebiet systematisch für den Fremdenverkehr erschlossen. Für ganz Island hat die jährliche Touristenzahl die Millionengrenze weit überschritten, acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch ihn erwirtschaftet – und die meisten Besucher lassen sich die Geysire nicht entgehen, jene heißen Quellen, die das Wasser stoßartig nach oben transportieren, wenn ein Überdruck im Gestein entstanden ist.
Bereits im 13. Jahrhundert wurde solch eine Erscheinung erstmals auf Island beschrieben und später – abgeleitet vom isländischen »gjósa« (sich ergießen, herausspritzen) – Geysir genannt. Dieser Große Geysir soll das Wasser zeitweise bis zu 170 Meter hoch geschleudert haben, doch seit 1915 ist von Größe nicht mehr viel zu spüren. Durch Erdbeben veränderte Druckverhältnisse brachten ihn erst zum Erlöschen, ehe er 20 Jahre später wieder kurze Zeit aktiv war. Um dann erneut zu »schlafen« und erst im Jahr 2000 erneut zu erwachen, wo er einige Tage lang das neue Jahrtausend mit über 120 Meter hohen Fontänen begrüßte. Seither ist es wieder ruhig um ihn geworden; uns präsentierte er sich nur als ein siedender Wasserkessel.
Versuche, ihn durch Menschenhand wieder in Gang zu setzen, gab es mehrfach. Wustmann beschrieb, wie man bei seinem Besuch in den 1940er-Jahren 75 Kilo Kernseife in den Krater schippte. »Die Seife zergeht in dem heißen Wasser, wirkt wie die Fettschicht bei siedender Milch und verursacht sehr rasch den Ausbruch des Geysirs«, erklärte ein Geologe. Tatsächlich erhob sich die Wassersäule bis zu einer Höhe von 50 Metern. Doch nicht immer reagierte er so prompt. Außerdem hatte man beobachtet, dass andere Geysire nach solchen Manipulationen ihre Tätigkeit ganz eingestellt hatten. In den 1980er-Jahren wurde die Prozedur verboten; nur zu besonderen Anlässen und unter Aufsicht von Experten praktiziert man sie noch gelegentlich.
Die Island-Besucher müssen jedoch auf das ungewöhnliche Schauspiel nicht verzichten, denn nur 150 Meter vom Großen Geysir entfernt befindet sich der Strokkur (Butterfaß). Er schießt das heiße Wasser alle fünf bis zehn Minuten in die Höhe, zwar lediglich bis zu 20 Metern hoch, aber schon das ist beeindruckend genug. Touristen umstellen ihn in mehreren Reihen und warten geduldig, um das Spektakel auf ihre Handys zu bekommen. Manchmal treibt der Strokkur mit ihnen sein Spiel, lässt sie warten oder liefert nur eine schwache Verpuffung. Wir erlebten, wie er zweimal kurz hintereinander »explodierte«; jene, die nach dem ersten Ausbruch voreilig zum Kraterrand zurückgekehrt waren, bekamen eine warme Dusche.
Sehenswert auch der Geysir Blesi mit seinen beiden Wassertöpfen. In dem einen siedet es, während das in den anderen abgeflossene Wasser nur 50 Grad warm ist. Das ermöglicht Kieselsäurepartikeln die Kristallisation und taucht das Wasser durch die Lichtbrechung in ein tiefes Blau. Zwischen all den dampfenden Wasserschüsseln erstaunlich viel Vegetation, Blumen und Kräuter, denen weder der heiße Boden noch der Brodem offensichtlich etwas ausmachen. Und auch die Menschenmassen nicht, aber das wohl nur, weil allenthalben davor gewarnt wird, den kochenden Kratern allzu nahe zu kommen. Hier hält die Natur sehr wirksam jene auf Abstand, die ihr schaden könnten.
Wo das der Natur allein nicht gelingt, hilft mitunter die isländische Eigenart der Dickköpfigkeit – wie zum Beispiel am Wasserfall Gullfoss. Er gilt als schönster seiner Art auf Island, sollte aber in den 1920er-Jahren dennoch mit einem Staudamm für die Stromgewinnung verschandelt werden. Die Bäuerin Sigríður Tómasdóttir vom nahen Brattholt-Hof kämpfte dagegen mit allen Mitteln an, drohte gar, in die brausenden Fluten und damit in den Tod zu springen. Der Staudamm wurde nicht gebaut und der frühen Umweltaktivistin am Ufer ein Denkmal gesetzt. Ausschlaggebend dürfte jedoch gewesen sein, dass ihr Rechtsanwalt, der spätere erste Präsident Islands Sveinn Björnsson, dem britischen Investor eine verspätete Pachtzahlung nachwies und ihr Sohn bei der Übertragung des Grundstücks an den isländischen Staat eine Ewigkeitsklausel für den Erhalt des Wasserfalls festschrieb.
Der Gullfoss wird von zwei Gletschern gespeist und fällt in zwei Kaskaden insgesamt 32 Meter in die Tiefe. Eine feuchte Gischtwolke schwebt dauerhaft über der 230 Meter breiten Abbruchstelle, das Wasser ergießt sich in eine 70 Meter tiefe Schlucht, die sich jährlich um 25 Zentimeter erweitert.
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Vom Süden zum Norden per Schiff entlang der Küste Islands, vorbei an der Halbinsel Snæfellsnes mit dem 1446 Meter hohen, seit fast zwei Jahrtausenden untätigen Vulkan Snæfellsjökull, dessen Gipfel ein Gletscher ist und deshalb eine beständige Eiskappe zeigt, die sich uns noch zur Mitternachtsstunde beschneit in makelloser Schönheit präsentierte. Für Jules Verne war der Krater des Berges in seinem Roman »Reise zum Mittelpunkt der Erde« der Einstiegsort zur Unterwelt. Er mochte, so schrieb er, »einen Durchmesser von fünf Kilometern haben. Seine Tiefe schätzte ich auf etwa 400 Meter … Der Trichter hatte unten schwerlich mehr als fünfzig Meter Umfang, so dass man auf dem ziemlich sanften Abhang leicht hinuntergelangen konnte.« Nicht wenige Wissenschaftler und Reisejournalisten haben später diesen Zugang ins Innere des Planeten tatsächlich gesucht, natürlich erfolglos. Auch die NASA muss dem Vulkan aber etwas Mystisches abgewonnen haben, denn sie schickte ihre Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin dorthin, um sie auf die Mondlandung 1969 vorzubereiten.
Gegen Mittag erreichen wir Akureyri, mit 18925 Einwohnern die nach dem Großraum Reykjavik zweitgrößte Stadt Islands. Sie liegt am Ende des mit 60 Kilometern längsten Fjords Islands, des Eyjafjörður. Rechts und links geht der blaue Fjord in sattes Grünland über, das nach und nach seine Farbe verliert, hellbraun wird, dunkel, schwarz, bis sich weiße Schneefinger auf die Felsen legen, zu Handflächen wachsen, weiter oben aber das durchgängige Weiß hinter Wolkengebirgen verbergen.
Für Akureyri bleibt uns wenig Zeit, denn wir wollten zum Mývatn, dem Mückensee, gilt doch das Gebiet um ihn herum als das vulkanreichste der Insel. Wir fahren in Richtung Hochland und merken das schnell an den Straßen. Findet man in Küstennähe Autobahnen normalen Standards, so gehen sie schon bald in wenig befestigte Asphaltstraßen über, dann in Schotterpisten und schließlich in Bahnen, die in Lava gespurt wurden. Schon Wustmann machte eine überraschende Erfahrung: »In den isländischen Autobussen werden ebenso viele Leute seekrank wie auf den Küstenschiffen. An jedem Sitzplatz hängt eine Tüte.« So schlimm war es dann zwar nicht, aber das lag wohl eher an dem jetzt besser gefederten Bus.
Der See selbst liegt sehr idyllisch und ist umgeben von zahlreichen heißen Quellen, die unaufhörlich ihre Wasserdampffahnen in die Luft schicken. Zahlreiche kleine Vulkane haben Lavafelsen und Asche zurückgelassen; dazwischen haben sich flache Teiche und Sumpfgebiete gebildet, was der Landschaft etwas Ur- und zugleich Endzeitliches aufprägt. Wenn man sich nur wenige Schritte von den Straßen entfernt, überkommt einen ein Gefühl der Verlorenheit, einer verunsichernden Einsamkeit. Man kommt sich vor wie auf einem fernen Planeten und kehrt schnell zur vertrauten Fahrbahn zurück.
Wie überall in Island werden auch hier im Norden die heißen Quellen zum Heizen genutzt, zumal es auf der Insel weder ausreichend Holz noch Kohle oder Öl gibt. Früher hängte man einfach den Wasserkessel in den Krater, heute sorgen ausgeklügelte Rohrsysteme für die Verbreitung des Heißwassers überall dorthin, wo es gebraucht wird. Am Mývatn-See baute man 2004 gar ein ausgedehntes offenes Thermalbad, 5000 Quadratmeter groß und gut besucht. Das schwefelreiche Wasser kommt natürlich aus den Tiefen des Vulkangesteins, ist bis zu 40 Grad warm und lädt weniger zu sportlicher Betätigung als zum Relaxen ein. Die Besucher sind oft ganze Familien, die ihre Getränke mitbringen und im flachen Wasser zusammensitzen, plaudern, trinken, es sich gut gehen lassen. Wir gesellten uns bei nicht mehr als zehn Grad Lufttemperatur dazu und spürten bald einme wohltuende Wirkung. Der Körper genoss die Wärme und die Therapie für die Haut, der Geist erbaute sich an der landschaftlichen Schönheit und der Ruhe, denn die Dampfschwaden milderten alle Geräusche und machten die Gedanken frei für Höhenflüge oder auch nur zum Studium der Wolken am Himmel.
Auf dem Rückweg vom Mückensee noch ein Halt am Godafoss-Wasserfall. Er wird in der Mitte durch zwei Felsen geteilt, auch rechts und links rahmen ihn gewaltige Steinblöcke. Das erlaubt, nahe an die Abbruchkante heranzutreten, und man kann tatsächlich Touristen bei solch waghalsigen Aktionen beobachten. Doch nicht nur deswegen und ob seiner Schönheit lohnt ein Besuch, sondern auch weil er ebenfalls eng mit Islands Geschichte verknüpft ist. Vor mehr als 1000 Jahren soll der norwegische König Olav I. die bis dahin heidnischen Göttern huldigenden Isländer dadurch zum Christentum genötigt haben, dass er der brennstoffarmen Insel ein Holzembargo androhte. Der AlÞing beschloss darauf notgedrungen, sich dem Christentum zu unterwerfen, allerdings nur pro forma. Privat konnten die Isländer weiterhin an jene Götter glauben, die sie für die richtigen hielten.
Es bedurfte aber gegenüber dem norwegischen Herrscher eines symbolischen Akts, um ihn zu befriedigen. Deshalb soll der Gesetzessprecher Þorgeir Ljósvetningagoði Þorkelsson die heidnischen Götterbilder im Godafoss, dem Wasserfall der Götter, versenkt haben. Wenn die Legende stimmt, kann der Name des Katarakts sich jedoch eher auf die alten Götter beziehen, weniger auf den Christengott; in den Tiefen des Flusses Skjálfandafljót, der hier in einer Breite von 158 Metern elf Meter nach unten stürzt, werden sie für alle Ewigkeit aufbewahrt.
Die Geschichte korrespondiert sehr schön mit dem den Isländern nachgesagten Streben nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, das aber ohne ideologische Überhöhung und Prinzipienreiterei aufkommt. Fremde Wünsche misst man sorgfältig an den eigenen und gesteht zu, was zu wenig verpflichtet. Gleichzeitig findet man Wege, die eigenen Interessen zu wahren, und sei es – wie bei der Religion – mit einem gewissen Hintersinn.
Natürlich schließt dies Konflikte nicht aus, wenn es um existenzielle Fragen geht – für Island zum Beispiel die Landwirtschaft, vor allem die Fischerei, aber auch Spätfolgen der Finanzkrise 2008. Besonders daran scheiterten die Beitrittsverhandlungen mit der EU, gleichzeitig aber ist Island Mitglied des europäischen Binnenmarktes und gehört zum Schengen-Raum, nützt also Vorteile des Integrationsprozesses. Das Land vermeidet Zuspitzungen mit nahen und ferneren Nachbarn und ist damit bislang gut gefahren. Seit 2011 steht es beim Global Peace Index, der die Friedfertigkeit von Nationen anhand einer Reihe konkreter Kriterien der innenpolitischen Situation wie des außenpolitischen Verhaltens zu messen versucht, stets an erster Stelle in der Welt.