(pri) Es entbehrte nicht einer gewissen Symbolik, wenn bei den letzten Talkshows vor der Sommerpause, bei denen es fast nur noch um die bedrohlichen Folgen des Krieges in der Ukraine nicht etwa für Russland, sondern für den Westen ging, hin und wieder das Foto Wladimir Putins eingeblendet wurde, der ernst, aber gelassen zuzuhören, da und dort sogar befriedigt zu nicken schien. Tatsächlich finden inzwischen auch sehr kritische Beobachter des russischen Präsidenten bei ihm keine Anzeichen von Nervosität mehr – so jüngst im »Freitag« Nik Afanasjew, der Putin bei der Verkündung der »Spezialoperation« als »fahrig, aggressiv, konfus wahrgenommen« hatte, »als hätte er den Verstand verloren«; jetzt aber sei »er wieder der lakonische Putin der vergangenen 20 Jahre«, der erzählt, »dass der Westen sich seine Probleme selbst zuzuschreiben habe und sie nur aus Unfähigkeit auf Russland schiebe«.
Von Gelassenheit und Lakonie kann jedenfalls bei den westlichen Debatten über Kriegsverlauf und mögliche Folgen keine Rede sein. Vielmehr entsteht der Eindruck zunehmender Panik, weil man offensichtlich die Geister nicht mehr bändigen kann, die man rief. Und dies betrifft fast alle Bereiche – die Entwicklung der militärischen Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld ebenso wie die Folgen der pausbäckig verkündeten wirtschaftlichen Sanktionen, die unkontrollierbare außenpolitische Gemengelage und nicht zuletzt die sinkende Bereitschaft der Bevölkerung, sich eine »Zeitenwende« aufschwatzen zu lassen, die vor allem durch Teuerung und Verzicht gekennzeichnet ist.
Was die Lage an der ukrainischen Front angeht, lassen sich aus den beiderseitigen offiziellen Verlautbarungen der Kriegsparteien keine belastbaren Schlüsse ziehen. Beide sprechen vorwiegend von Erfolgen, Verluste, gar Rückzüge konstatieren sie nur beim Gegner. Es genügt jedoch ein Blick auf die Karte der Ukraine, um zu sehen, dass sich die Größe des Landes seit dem 24. Februar um etwa 20 Prozent reduziert hat. Und der russische Vormarsch setzt sich – wenn auch nur langsam – fort. So verkleinert sich mit jedem Kriegstag das ukrainische Territorium, und Putin hat gerade erst erklärt, dass Russland die vom Westen gewünschte Entscheidung auf dem Schlachtfeld nicht fürchtet. »Gleichzeitig lehnen wir Friedensverhandlungen nicht ab«, fügte er hinzu. »Aber diejenigen, die diese ablehnen, sollten wissen, dass es schwieriger für sie wird mit uns zu verhandeln, je länger es dauert.«
So sehr die ukrainische Absicht verständlich ist, nicht aus der gegenwärtigen Defensive heraus in Verhandlungen einzutreten, so wenig besteht aber eine realistische Aussicht, jemals in die Offensive zu kommen, auch nicht mit der massiven Unterstützung der NATO, da diese bestimmte rote Linien nicht überschreiten kann und will. Die beabsichtigte Rückeroberung von Russland besetzter Gebiete wird die bereits weitgehend zerstörten Städte endgültig dem Erdboden gleichmachen und auch immer neue zivile Menschenopfer kosten, ohne an der Gesamtsituation Wesentliches zu ändern.
Verantwortungsbewusste Politik des Westens wäre es daher, gemeinsam mit der Ukraine die Lage nüchtern einzuschätzen und sich auf das Mögliche zu konzentrieren. Geschieht dies nicht, tragen weniger die Ukrainer als vielmehr ihre westlichen Einpeitscher die Verantwortung für ein bitteres Ende, das nicht nur die Ukraine als Torso zurücklässt, sondern auch die Grenze zwischen ihr und dem großen russischen Nachbarn zu einer Zone permanenter Spannungen macht – zum Schaden beider Seiten und Europas insgesamt.
Noch deprimierender als die Lage an der Front ist ein Blick auf den vom Westen entfesselten Wirtschaftskrieg als Antwort auf die russische Aggression. Von Tag zu Tag wird erkennbarer, dass er Russland weitaus weniger schadet als seinen Verursachern. Wie ein gewaltiger Bumerang fallen die Folgen der Sanktionen auf die westlichen Länder zurück; sie treffen aber auch unbeteiligte Dritte in vielen Weltteilen und scheinen geeignet, eine globale Wirtschaftskrise auszulösen. Russland hingegen ist in vieler Hinsicht autark, verfügt über genügend Energieressourcen, Nahrungsmittel und Geldreserven, um westlichen Embargos zu widerstehen. Zwar werden sich auf die Dauer auch dort auf zahlreichen Gebieten Probleme ergeben, aber sie sind offensichtlich viel eher beherrschbar als jene Verwerfungen, vor denen zahlreiche westliche Länder stehen. Allein die hysterische Debatte über die eigentlich unerwünschten, tatsächlich aber überhaupt nicht verzichtbaren russischen Gaslieferungen hierzulande zeigt, wie dilettantisch die Ampel-Regierung an dieses Problem herangegangen ist. Es ist ihr sogar gelungen, die schon für tot erklärte Pipeline Nordstream 2 wieder in die Diskussion zu bringen.
Ohne jede seriöse Risikoabwägung wurden langfristig zuverlässige Lieferverträge aufs Spiel gesetzt, und nun versucht auch noch der grüne Wirtschaftsminister Habeck, die dadurch ausgelöste Preisexplosion der russischen Seite in die Schuhe zu schieben, obwohl diese bis heute alle ihre Verpflichtungen korrekt eingehalten hat. Während Moskau offiziell keinerlei Absichten zur Einstellung der Gaslieferungen verlauten ließ, heizte Habeck mit unverantwortlichen Spekulationen die Situation an und will aus der selbstorganisierten Not offenbar noch eine Tugend machen, indem er sie zur brachialen Durchsetzung erneuerbarer Energien missbraucht. Der Ukrainekrieg gewissermaßen als ein »Stahlgewitter« für die Energiewende? Auf jeden Fall ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölkerung, der inzwischen nassforsch erklärt wird, es sei ihr doch wohl zuzumuten, »für die Freiheit zu frieren«.
Noch gravierender aber sind die Folgen des Krieges für viele Länder weitab von der Front. Zum Energiemangel tritt die Inflation; vor allem in armen Ländern drohen Hungersnöte. Und die betroffenen Staaten sind nicht bereit, die Ursachen allein in der Eroberungspolitik Russlands zu sehen. Zwar haben sie mit großer Mehrheit das Moskauer Vorgehen verurteilt, den vom Westen verkündeten Sanktionen aber schließen sie sich in der Regel nicht an. Eher im Gegenteil. Viele Staaten wir China, Indien und andere nutzten die Gelegenheit, mit Russland neue Lieferverträge zu schließen.
Die Mehrheit der Weltbevölkerung sieht im Krieg im Osten Europas keineswegs eine Schlacht um Freiheit und Demokratie; dazu hat der Westen diese Begriffe viel zu oft missbraucht, wenn es um die Durchsetzung der eigenen egoistischen Ziele ging. Die 25 Kriege und »Militäroperationen« westlicher Staaten seit 1950, an die Belgrader Fußballfans kürzlich mit einem riesigen Plakat in ihrem Stadion erinnerten, sind aus dem Bewusstsein der Völker nicht zu tilgen, ungeachtet allen Whataboutism-Geredes. Deshalb steht in der Sache der Westen in seinem Vorgehen gegen Russland auch ziemlich allein da. Die 19 : 1-Front, die die deutsche Außenministerin Baerbock beim G-20-Treffen in Bali schmieden wollte, blieb jedenfalls reines Wunschdenken, denn der russische Chefdiplomat Sergej Lawrow konferierte dort mit seinen Amtskollegen aus Brasilien, Indien, China, Indonesien, Südkorea und der Türkei.
Viele der bislang vom Westen dominierten Länder agieren inzwischen auf der Weltbühne mit einem neuen Selbstbewusstsein, und sie beobachten sehr genau, wie der Konflikt zwischen der NATO und Russland um die Ukraine ausgeht. Die Schwächezeichen des Westens entgehen ihnen nicht; sie sehen darin Möglichkeiten, ihre Unabhängigkeit zu stärken und nationale Interessen zu betonen. Und sie sind entschlossen, dafür Partner zu suchen, ohne sich an Vorgaben aus Washington, London, Paris oder Berlin zu halten, wenn es ihnen Nutzen verspricht.
Doch auch innerhalb des westlichen Lagers bröckelt die viel beschworene Einigkeit. Zum einen wachsen die Widersprüche zwischen einzelnen Ländern, die mit der Kriegsführung unterschiedliche Ziele verfolgen. Während die baltischen Staaten schärfste Maßnahmen gegen Russland fordern und auch selbst praktizieren, wie Litauen mit der Unterbrechung des Warenverkehrs in die russische Exklave Kaliningrad, mahnen andere zur Zurückhaltung und haben die litauische Regierung zurückgepfiffen. Ähnliches gilt für Kanada, das eine im Land gewartete Gasturbine für die Pipeline Nordstream 1 nicht ausliefern wollte, was Deutschland letztlich doch durchsetzte.
Eine vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten der EU kürzlich veröffentlichte Umfrage konstatiert, dass die ursprüngliche starke Unterstützung für die Ukraine in zahlreichen europäischen Ländern zurückgeht und sich die Meinung ausbreitet, »dass die meisten Europäer die EU als großen Verlierer des Krieges sehen, anstatt ihre relative Einigkeit als Zeichen einer stärkeren Union zu interpretieren«. Setze dies sich weiter fort, »könnte der Krieg die dauerhafte Marginalisierung Europas auf der Weltbühne signalisieren«.
Diese Entwicklung ist mit zwar unterschiedlicher, aber tendenziell sinkender Bereitschaft innerhalb des westlichen Länder verbunden, die Fortsetzung des Krieges auf unabsehbare Zeit zu unterstützen. 35 Prozent sprechen sich für Verhandlungen aus, 22 dagegen, 20 legen sich nicht eindeutig fest. Hierzulande ist die Meinung trotz einer sich weitgehend selbst gleichschaltenden kriegsbefürwortenden Medienlandschaft noch eindeutiger. 64 Prozent glauben nicht mehr daran, dass die Ukraine selbst mit schweren Waffen den Krieg gewinnen kann; nur 26 Prozent sind anderer Meinung. Folglich sind 49 Prozent für die Aufnahme von Verhandlungen, nach Italien (52 Prozent) der höchste Wert in Europa; nur 19 Prozent sind dagegen und 14 Prozent unentschlossen. Selbst in den Regierungsparteien sind 55 Prozent der SPD-Anhängiger und 35 Prozent der Grünen für Friedensgespräche.
Diese Tendenz dürfte sich mit der Dauer des Krieges fortsetzen und an Dynamik gewinnen, wenn die absehbaren negativen Folgen des Kriegskurses bei jedem einzelnen Bürger ankommen. Diese begreifen vielfach schon jetzt die »Zeitenwende« als einen Salto rückwärts mit dem Risiko des Genickbruchs – letztlich ein positives Zeichen. Denn diese Erkenntnis wird es den politischen Hardlinern schwer machen, auf ihrem kriegerischen Konzept unbeirrt zu beharren. Sie sind schon jetzt auf der Verliererstraße, während die Vernunft an Boden gewinnt.