(pri) Heute vor einem Jahr begann mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ein Krieg, der das Zeug hat, zu einer ewigen Schlacht zu werden – weil er eben nicht nur der Angriffskrieg Russlands gegen seinen westlichen Nachbarn ist, sondern vielmehr der Auftakt einer globalen Auseinandersetzung imperialistischer Mächte um die Vorherrschaft auf dieser Erde. Einer Auseinandersetzung, die vor mehr als einhundert Jahren schon einmal begann, dann aber unterbrochen wurde durch den Auftritt einer neuen, antiimperialistischen Kraft in Gestalt des Sozialismus. Diese Gesellschaft einer anderen, von Marx und Engels geschaffenen Philosophie wurde zur Bedrohung der sich entwickelnden Imperialismen generell. Fortan hatte für diese die Bekämpfung und Beseitigung des Sozialismus Priorität. Ihr Erfolg erlaubte und befeuerte jetzt die Rückkehr in die alte Schlachtordnung.
Mit der seit mehr als 30 Jahren verschwundenen Sowjetunion hat dieser Waffengang nichts zu tun, denn Eroberungskriege dieser Art hat sie nie geführt. Die wenigen Feldzüge über ihre Grenzen hinaus dienten in der Regel der Prävention, wobei man ihre Rechtmäßigkeit in jedem einzelnen Fall durchaus in Frage stellen kann. Sie sind jedoch keineswegs vergleichbar mit dem imperialistischen Landraub, mit dem der erste Weltkrieg zu Ende ging und für den der zweite angezettelt wurde. Und der jetzt, da Russland dem Sozialismus abgeschworen hat, eine Fortsetzung erfahren soll – ganz ähnlich, aber in seinen Ausmaßen deutlich über das hinausgehend, was sich vor fast 25 Jahren abspielte, als im Zuge des Jugoslawienkrieges die NATO dessen autonome Provinz Kosovo vom Nachfolgestaat Serbien abspaltete und mit Hilfe der USA, die dort einen großen Militärstützpunkt errichteten, und der Europäischen Union als Vasallenstaat etablierte.
Dem russischen Eroberungskrieg gegen die Ukraine ist daher auch nicht mit moralischen Kategorien beizukommen; er ist – imperialistische – Politik »mit anderen Mitteln«, wie schon Clausewitz befand. Er dient dazu, als »ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«. Und sein Erfolg hängt nicht von subjektiven Befindlichkeiten und Wünschen der jeweiligen Kriegsgegner ab, sondern von objektiven Faktoren, die niemand straflos ignorieren kann.
Zu diesen Faktoren gehören solche unumstößlichen Gegebenheiten wie die territoriale Ausdehnung und die daraus resultierenden Ressourcen an Rohstoffen, die Bevölkerungszahl und die Mentalität und Belastbarkeit der Menschen. Selbst die Lage eines Landes kann für sich schon zu diesen subjektiven Umständen gehören, wie das Beispiel der Türkei zeigt, die ihre geostrategisch relevante Örtlichkeit gekonnt nutzt, um Einfluss auszuüben. Schaut man unvoreingenommen auf die unmittelbaren Kriegsparteien, sprechen diese Faktoren überwiegend für Russland. Auch die westlichen Unterstützer der Ukraine wissen das natürlich, doch die meisten von ihnen wollen es nicht wahrhaben; sie hängen dem Irrglauben an, man könne der Geschichte seinen subjektiven Willen aufzwingen.
Dabei stützen sie sich auf die Hoffnung, andere Faktoren könnten wirkmächtiger sein, vor allem der überbordende Nationalismus vieler Ukrainer, die sich – auch abgeleitet aus der Größe ihres Landes und der Mentalität der Bevölkerung – für mindestens ebenbürtig mit Russland halten und vor allem deshalb unter dem russischen Herrschaftsanspruch sowohl zur Zarenzeit als auch in der Sowjetunion litten. Besonders die USA betreiben seit Jahrzehnten eine Politik der Förderung nationalistischer Tendenzen in und um Russland; man denke nur an ihre Propagandasender »Radio Free Europe« und Radio Liberty«.
Nach dem Ende der Sowjetunion konzentrierte sich der Westen auf die Ukraine und versuchte, dort eine ihm genehme Administration zu etablieren. Lange ging das Konzept nicht auf, wechselten doch in Kiew prowestliche Regierungen immer wieder mit russlandfreundlichen, hervorgegangen jeweils aus demokratischen Wahlen. Es brauchte, um dieses fragile Gleichgewicht zu beenden, den Putsch. Der heute zu einer demokratischen Großtat hochstilisierte »Maidan« war der gelungene Versuch, dauerhaft eine prowestliche Herrschaft in der Ukraine durchzusetzen. Federführend dabei waren die USA, deren Präsident Obama seinen damaligen Vize Joe Biden 2014 zum Sonderbeauftragten für die Ukraine gemacht hatte. Damit war der Weg frei für eine forcierte militärische Aufrüstung, die zumindest im nationalistisch gesinnten Teil des Landes die Hoffnung schürte, es mit dem bis dato übermächtigen Russland aufnehmen zu können.
Schon damals aber war klar, dass der östliche Nachbar eine solche Entwicklung nicht hinzunehmen gewillt war – und dass er die Mittel besaß, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Russland hatte sich nach anfänglichem Zögern – nicht zuletzt desillusioniert durch die Verweigerung aller substantiellen Kooperationsangebote – in den 2010er-Jahren aus seiner Sicht notgedrungen zu einer eigenständigen imperialistischen Politik entschlossen. Schließlich gibt es im weltweit dominierenden Kapitalismus, dem imperiales Denken und imperialistisches Handeln inhärent ist, dazu für große Staaten kaum eine Alternative; zwei verheerende Weltkriege zeugen davon.
Russlands Präsident Putin jedenfalls antwortete auf die westliche Vereinnahmung der Ukraine mit der Annexion der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine. Ohne Zweifel völkerrechtswidrige Aktionen, so wie sich über Jahrzehnte hin imperialistische Mächte nie vom Völkerrecht hatten hindern lassen, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollten. Der Westen wiederum setzte die militärische Aufrüstung der Ukraine forciert fort. Schon damals war eigentlich absehbar, dass sich der russisch-ukrainische Konflikt hin zum Krieg entwickelt, zumal alle Versuche, diese bedrohliche Entwicklung – zum Beispiel durch die Minsker Abkommen – zu stoppen, den beiderseitigen imperialistischen Zielen zuwider liefen und daher nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt wurden. Und der Krieg kam dann auch, als Russland die Gefahr heraufziehen sah, dass sein westlicher Nachbar nicht nur alsbald Mitglied der NATO, sondern in dieser auch noch einer der hochgerüstetsten Staaten sein könnte.
Der Versuch des Westens, Russland nach der Auflösung der Sowjetunion und seinem damit verbundenen Bedeutungsverlust in untergeordneter Position in das eigene System einzugliedern, ist somit gescheitert; es war von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen. Man kann ein Land solcher Größe und Potenzen nicht zur »Regionalmacht« (Barack Obama) herunterstufen und damit faktisch zu einem Satelliten machen. Das ist Washington nicht einmal mit den großen europäischen Staaten gelungen; die Bildung der Europäischen Union war nicht zuletzt der Versuch, sich gegenüber den USA als Machtfaktor zu behaupten, wenn auch – wie die Gegenwart zeigt – mit begrenztem Erfolg. Russland wird einen solchen Status nie akzeptieren und muss es auch nicht. Erst recht nicht, seit mit China ein weiterer Groß-Player auf dem geopolitischen Feld aufgelaufen ist und sich damit auch für weitere aufstrebende Staaten neue Kooperationsmöglichkeiten ergeben.
Putin kann also gelassen zusehen, wie sich der Westen mehr und mehr in den Konflikt verstrickt und damit im eigenen Lager immer neue Unruhe auslöst. Ihm genügt es, die ukrainische Armee an einigen neuralgischen Punkten, wie zum Beispiel um Bachmut, zu binden und sie langfristig zu schwächen. Das ist zwar mit im Grunde sinnlosen Opfern auf der eigenen Seite verbunden, doch die westlichen Reaktionen darauf – verstärkte Waffenlieferungen und vereinzelte Angriffe auf russisches Territorium – geben diesen Opfern im Bewusstsein der russischen Bevölkerung dann doch eine gewisse und ständig steigende Sinnhaftigkeit. Andererseits braucht auch Selenskyj solche kontraproduktiven Aktionen, um die Kriegsbereitschaft sowohl der heimischen Kämpfer als auch ihrer westlichen Helfer aufrecht zu erhalten. Der jüngste EU-Gipfel in Brüssel und die demonstrative Reisetätigkeit Bidens zeigten, dass der Westen den schwindenden ukrainischen Siegeshoffnungen wenig entgegenzusetzen hat und sich zunehmend in showartige Symbolpolitik flüchtet, auf die sich freilich auch Putins Russland versteht. Das krampfhafte und zunehmend erfolglose Bemühen der westlichen Regierungen und ihrer beflissenen Lohnschreiber, die Vorgeschichte des Krieges aus der aktuellen Debatte herauszuhalten, zeugt nicht nur von ihrer unprofessionellen Geschichtsvergessenheit, sondern auch von argumentativer Hilflosigkeit.
Beide Kriegsparteien sind sowohl in ihrer jeweils eigenen Logik gefangen als auch aneinander gekettet. Wer sich daraus als erster befreit und der anderen Seite ein Angebot macht, das sie zum Überdenken ihrer Positionen zwingt, kann damit ein neues Spiel eröffnen – nicht ohne Risiko, aber eben auch nicht zwangsläufig zum eigenen Schaden. Das ist übrigens auch die Botschaft der aktuellen Studie der Rand-Corporation »Avoiding a Long War: U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict«, die ein realistisches Bild der gegenwärtigen militärischen Situation zeichnet, gleichwohl wenig Hoffnung hegt, dass daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden.
Für Europa zeichnet sich somit als Alternative ein dauerhafter Krieg und der Verzicht auf jegliche Kooperation mit Russland auf Jahrzehnte hin ab. Die in den letzten Dezennien für beide Seiten fruchtbringende wirtschaftliche Zusammenarbeit hat jetzt ihr Ende gefunden. Europa und sein russischer Teil, der immerhin 40 Prozent zur kontinentalen Landmasse beiträgt und in dem etwa 100 Millionen Menschen leben, also etwa ein Fünftel der Europäer insgesamt, werden künftig getrennte Wege gehen und die Vorteile nachbarschaftlicher Zusammenarbeit kaum noch nutzen. Im Gegenteil, sie werden gegeneinander arbeiten und sich ökonomisch behindern, wo immer es geht.
Dazu kommt das bereits in vollem Gange befindliche neue Wettrüsten, das nicht nur die insgesamt 4750 Kilometer lange Grenze zwischen Russland und seinen westlichen Gegnern zu einem neuen Eisernen Vorhang zu machen droht, sondern die schon jetzt bestehenden sozialen Ungleichheiten in der Welt weiter verschärfen wird, vor allem aber existentielle Gefahren für die gesamte Menschheit in sich birgt.
All dies wird nicht ohne Folgen für den Austausch auf solch für das menschliche Zusammenleben wichtigen Gebieten wie Kultur und Wissenschaft bleiben. Schon jetzt sind die in langen Jahren entstandenen Kontakte und Kooperationen oft irreparabel zerstört. Gleiches gilt für die Raumfahrt. Selbst der Sport könnte demnächst in zwei getrennten Ligen betrieben werden – das Ende der olympischen Idee. Und ob man künftig noch so selbstverständlich wie in den letzten 30 Jahren überall dorthin reisen kann, wohin man möchte, ist äußerst zweifelhaft; schon jetzt ist es fast unmöglich.
Was uns nach dieser »Zeitenwende« in eine überwunden geglaubte Vergangenheit bevorsteht, ist also eine gespaltene, sich belauernde Welt, die zwangsläufig immer neue Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen produziert und auch die persönliche Freiheit jedes einzelnen einschränkt. Bereits heute wird oft jener mit einer anderen Meinung als Gegner betrachtet und behandelt; dies droht zur Norm in der künftig bipolaren Welt mit ihren scharf gezogenen Grenzen zu werden, weil diese hier wie dort echte Meinungsfreiheit als Risiko beargwöhnt.
Für diese Entwicklung tragen die deutsche Regierung und speziell Olaf Scholz eine wesentliche Mitverantwortung – und das nicht zuerst, weil der Bundeskanzler das Wort von der »Zeitenwende« prägte, sondern weil er aus transatlantischer Hörigkeit und Opportunismus die lange Jahre mit Geduld betriebene und am Ende erfolgreiche Entspannungspolitik seiner Partei, der SPD, mit einem Überrumpelungsmanöver aufkündigte und in ihr Gegenteil verkehrte. Was bei Scholz ziemlich irrtümlich als Zögern und verantwortungsbewusstes Abwägen interpretiert wurde, war in Wirklichkeit eine bewusste Salamitaktik, um seine widerstrebende Partei Schritt für Schritt auf die neue Generallinie festzulegen. Das ist ihm letztlich gelungen, weil bei vielen Sozialdemokraten der leichtfertige Umgang mit Prinzipien beinahe von Anfang an zur DNA gehörte und gehört.
Berauscht von der Idee, innerhalb der EU eine Führungsrolle spielen zu können, manövrierten sich Scholz und seine Stichwortgeber mit dem dominanten Co-SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil an der Spitze in ein unvorhergesehenes Dilemma. Denn sowohl die USA als auch vor allem die osteuropäischen EU-Staaten und nicht zuletzt die Ukraine selbst erwarten von der Bundesregierung solche Führung vor allem auf dem Schlachtfeld. Das taktisch bedingte temporäre Zögern von Scholz bei Waffenlieferungen interpretieren sie als partielles Festhalten an früheren Positionen seiner Partei und damit als Unzuverlässigkeit, die nur durch besonderen Kriegseifer vergessen gemacht werden kann.
Die Folge hat jüngst die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr ausgesprochen: »Deutschland ist zusammen mit seinen westlichen Partnern Schritt für Schritt in Reaktion auf die russischen Angriffe in Akte der Gegengewalt hineingezogen worden und damit de facto nun selbst Kriegspartei – auch wenn dies in aller Offenheit nur unsere unglückliche Außenministerin ausgesprochen hat.« Weil das so ist, wird sich auch künftig die Bundesregierung weiteren Waffenlieferungen nicht verschließen – weder bei Kampfjets noch bei sonstigem Kriegsgerät, das die NATO und die Ukraine für erforderlich halten.
Umso wichtiger ist, dass sich hierzulande die Friedensbewegung von unten neu zu formieren beginnt. Jene, die für mehr Anstrengungen zur Beendigung des Krieges plädieren, haben weder in den Parteien noch in Friedensforschungsinstituten und leider auch nicht in den etablierten Strukturen der Friedensbewegung zuverlässige Verbündete; sie alle haben sich entweder der »Kriegseuphorie« (Marius Müller-Westernhagen) unterworfen oder schweigen dazu. Aber 59 Prozent der Deutschen fürchten laut einer Umfrage von Infratest dimap eine Eskalation des Ukraine-Krieges. Und mehr als eine halbe Million unterschrieben bereits das »Manifest für den Frieden« von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Täglich werden es mehr – trotz des Widerstandes fast der gesamten politischen Klasse. Sie eint die Überzeugung, dass der Marsch in den ewigen Krieg noch verhindert werden kann. Sie wollen in einer Welt der Sprachlosigkeit, des Misstrauens und der offenen Feindseligkeit nicht leben – eingedenk der Botschaft Willy Brandts: »Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.«