(pri) Viel hatte sich der Westen von der Ukraine und deshalb auch ihr versprochen. Heute aber wissen wir, dass er sein Versprechen wird brechen müssen. Oder aber er lässt es auf einen neuen Weltkrieg ankommen.
»Wer leicht verspricht, hält selten Wort.« 2500 Jahr alt soll diese Weisheit sein und vom chinesischen Philosophen Laotse stammen. Dennoch wird sie bis heute oft nicht ernst genommen; eins ihr prominentesten aktuellen Opfer ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mitsamt seinem ganzen Volk. Es soll hier gar nicht noch einmal erörtert werden, ob die westliche Erzählung vom russischen Expansionsdrang gen Westen zutreffend war und ist oder nicht, denn ganz unabhängig von dieser gleichwohl strittigen Frage konnte man von Anfang an ahnen, dass der Westen sein Versprechen, die Ukraine bis zum Sieg über Russland zu unterstützen, nicht würde halten können und damit irgendwann vor die Entscheidung gestellt würde: Akzeptiere ich eine Niederlage oder riskiere ich die weitere Eskalation?
Begonnen hat es etwa einen Monat nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine. Damals marschierten Putins Truppen noch auf Kiew zu, und Selenskyj glaubte wohl nicht, dass die offensichtlichen Schwierigkeiten der Angreifer von Dauer sein würden und war deshalb zum Kompromiss mit dem Aggressor bereit. Doch seine westlichen Freunde, die schon in den Jahren zuvor so viel Geld und Material in die Umpolung des russischen Nachbarlandes gesteckt hatten und angesichts der hell aufflammenden Widerstandes der Ukraine gegen ihren Feind im Osten bereit waren, ins volle Risiko zu gehen, redeten ihm das aus. Er sehe doch angesichts der Rückschläge der russischen Invasoren, so könnten sie argumentiert haben, dass er keinesfalls verlieren müsse. Die Kampfbereitschaft der Ukrainer, gepaart mit umfangreichen Waffenlieferungen aus dem Westen würden das Blatt schnell wenden und zum Sieg der Überfallenen führen. Selenskyj wusste, dass er am Patriotismus der eigenen Leute nicht zu zweifeln brauchte; wenn nun noch das Versprechen der westlichen Waffenlieferungen hinzukomme, rückte auch für ihn der Sieg der Ukraine in den Bereich des Möglichen Er ignorierte den Spruch des alten chinesischen Gelehrten – und damit nahm das Unheil seinen Fortgang.
Zunächst ließ sich die Sache noch gut an. Nicht nur die Schwierigkeiten beim russischen Vormarsch, auch die große, zunächst beinahe weltweite Solidarität mit dem Angegriffenen und die Bereitschaft zur Hilfe machten Mut. Dabei war schon damals klar, dass der Westen sein vollmundiges Versprechen nicht würde halten können. Zu viele Unwägbarkeiten waren mit ihm verbunden, Unwägbarkeiten, die man bei nüchterner Analyse sofort hätte erkennen können, aber das wollte damals niemand; man befeuerte und ergab sich schließlich selbst dem siegestrunkenen Überschwang der Ukrainer.
Doch als der russische Rückzug zum Stehen kam und die Ukraine ihre Frühjahrsoffensive erst in den Sommer, dann in den Herbst verschob und Präsident <2b0ca95591ff488b84fdbb5d4f2a7d6f span style=“font-size: medium;“>Selenskyj noch im Winter nicht wahrhaben wollte, dass selbst sein Oberbefehlshaber Salushnij sie öffentlich für gescheitert erklärte, zeigten sich in der vermeintlichen Betonwand des westlichen Versprechens erste Risse. Man musste einräumen, dass sich weder Leopard-Panzer noch Langstreckenraketen oder anderes modernes Kriegsgerät als »Gamechanger« erwiesen und nicht einmal genug Artilleriemunition aufgebracht werden konnte. Selbst die versammelten Anstrengungen der NATO-Staaten, die Ukraine aus den eigenen Beständen ausreichend zu versorgen, schlugen fehl.
Das offensichtliche Patt an der russisch-ukrainischen Front, dass sich möglicherweise sogar zu einem zwar langsamen, aber stetigen Vormarsch des Aggressors – wie gerade mit der Eroberung des hart umkämpften Awdijiwka geschehen – entwickeln könnte, zeigt aber darüber hinaus, wie wenig die westliche Strategie zu Ende gedacht worden ist. Man meinte, die Situation unter Kontrolle halten zu können, muss aber nun konstatieren, dass man in einer Sackgasse gelandet ist. Mit der Begründung, sich als Militärbündnis nicht in den Krieg hineinziehen zu lassen, vermied man die Aufrüstung der Ukraine mit Waffen, die das russische Territorium erreichen. Zwar betonte man das Recht des Angegriffenen, den Krieg auch auf das Gebiet des Angreifers zu tragen, doch musste die Ukraine das mit eigenen Mitteln tun, was vereinzelt auch geschah, aber wenig Wirkung zeigte. Die Debatte um die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper und die Forderung des CDU-Hardliners Roderich Kiesewetter, den Krieg »nach Russland« zu tragen und dort »nicht nur Ölraffinerien … zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände«, zeigt, dass man sich auf die nächste Eskalationsstufe vorbereitet.
Damit aber wird es nicht getan sein, denn das größte Problem für die Ukraine ist personeller Natur. Wenn man davon ausgeht, dass die Verluste an Soldaten auf beiden Seiten etwa gleich hoch sind, Russland aber aufgrund seiner weit größeren Bevölkerungszahl und der autokratischen Führung über bessere Möglichkeiten verfügt, diese Ausfälle zu ersetzen, dann ist abzusehen, dass die Ukraine allmählich einfach nicht mehr genügend »Manpower« an die Front bringt. Während Russland über 830000 aktive Soldaten verfügt, sind es in der Ukraine nur 200000.
Bereits jetzt ist sie nicht in der Lage, einen großen Teil der seit zwei Jahren in unmittelbarer Feindberührung Kämpfenden zu ersetzen, so dass sich Erschöpfung breit macht – und eine Protestwelle bei den Angehörigen dieser Soldaten. Ein BBC-Reporter berichtete kürzlich aus der Dnjepr-Stadt Tscherkassy, wie sich immer mehr wehrfähige Männer dem Truppendienst entziehen, gewarnt durch Social-Media-Kanäle. Und selbst einer der Werber, der verletzt von der Front zurückkam, verweist auf die hohe Zahl der Opfer: »Die einzigen, die noch übrig sind, sind wie ich. Die anderen sind tot.«
Die NATO steht damit heute vor der Frage: Will sie von ihren einstigen Maximalforderungen abrücken und in Verhandlungen auch die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen – einschließlich einer Dezimierung des ukrainischen Territoriums oder geht sie die nächsten Eskalationsschritte, indem sie die Ukraine mit weitreichenden Waffen ausrüstet und bald darauf dem Land auch mit eigenen Kampftruppen zur Seite springt? Eine klare Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber die Logik der Eskalationsspirale spricht für letzteres, und der französische Präsident Macron war ehrlich genug, diese Konsequenz nicht zu verschweigen.
Und damit auch nicht die verheerende Wirkung des westlichen Versprechens an die Ukraine über dieses geschundene Land hinaus, denn es hat alles Potential für einen viel weiter ausgreifenden Krieg. Der Westen sah nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und damit auch der Sowjetunion die einmalige Chance, lange verfolgte Ziele gegenüber Russland, dem größten Land der Erde, doch noch zu erreichen und ist offensichtlich nicht bereit, so kurz vor dem Ziel diese Absicht aufzugeben. Schon wird hierzulande eine Diskussion über »Kriegstüchtigkeit« geführt, die in letzter Konsequenz immer auch eine über »Angriffstüchtigkeit« ist. Oder warum sonst sollte man mit solcher Verbissenheit alles tun, um möglichst dicht ans Territorium des ausgemachten Feindes heranzurücken?
Besonders tut sich dabei derzeit der deutsche Bundeskanzler hervor. Olaf Scholz mag ahnen, dass seine »Zeitenwende« angesichts der Situation auf dem ukrainischen Schlachtfeld zum Rohrkrepierer werden könnte – für die bundesdeutsche Politik und für ihn persönlich. Offensichtlich ist die Bereitschaft in der EU, durch weitere umfangreiche Militärhilfe den Krieg in der Ukraine zu verlängern, keineswegs so groß, wie von heimischer Politik wie Medien immer behauptet wird. Deshalb wohl gerierte sich Scholz auf der Münchener Sicherheitskonferenz als lautester Trommler für immer neue Waffenlieferungen an Kiew und eine exorbitante Aufrüstung der gesamten EU.
Das leichtfertige Versprechen gegenüber der Ukraine hat eine bedrohliche Sprengkraft entwickelt. Denn seine Einhaltung erfordert immer größeren Einsatz – mit ständig gewachsenen Gefahren. Da wäre es wohl besser, Laotse recht zu geben und einen Kurswechsel zu vollziehen, aber von soviel Weisheit ist der arrogante, sieggewohnte Westen noch weit entfernt.