Die Achillesferse des Stellvertreters Ukraine – und seines »Chefs«, der NATO

(pri) Die Ukraine allein kann Russland im Krieg nicht besiegen, aber diese Schwäche Kiews bindet auch der NATO die Hände.

Eigentlich hatte die NATO zu ihrem 75. Geburtstag allen Grund zum Feiern. Nie zuvor war sie größer und stärker. Nach den Beitritt Finnlands und Schwedens gehören ihr 32 Staaten an. Ihre Militärausgaben werden für dieses Jahr auf 1,5 Billionen US-Dollar geschätzt. 3,4 Millionen Soldaten stehen unter Waffen, etwa noch einmal so viele sind Reservisten. Sie verfügt unter anderem über 3275 Jagdflugzeuge, 11390 Kampfpanzer und 16 Flugzeugträger.

Beste Voraussetzungen also, jenen Gegner zu erledigen, dessentwegen sie 1949 gegründet wurde – den Feind im Osten. Damals die Sowjetunion, deren Gesellschaftsmodell gefürchtet wurde, besaß es doch bis weit in den Westen hinein eine beträchtliche Anziehungskraft. Nach dem – weitgehend friedlichen – Zusammenbruch des Sozialismus Anfang der 1990er-Jahre der profane imperialistische Konkurrent Russland. Für ambitionierte Weltbeherrscher war das Land, schon wegen seiner Größe und Bevölkerung, stets im Wege. Die NATO stand und steht damit unter Führung der USA ganz in der Tradition Napoleons wie Hitlers, die den großen Rivalen im Osten fürchteten und zugleich nach dessen Ressourcen gierten.

Die selbstverschuldete Schwäche der östlichen Alternative wurde als einmalige Chance begriffen. Es galt, Russland zur »Regionalmacht« zu stutzen; eine Schlüsselrolle war dabei der Ukraine zugedacht. Sie mäanderte mit ihren Regierungen lange zwischen Russland und dem Westen. US-Präsident Obama machte seinen Vize Joe Biden zum Sonderbeauftragten für die Ukraine. Sechsmal hat er sie in dieser Mission besucht, dabei auch wesentlich Einfluss auf den »Maidan« genommen, durch den ein demokratisch gewählter Präsident durch Waffengewalt abgesetzt und aus dem Land getrieben wurde.

Dass dies durchaus in Übereinstimmung mit großen Teilen der Bevölkerung geschah, hängt mit dem starken Nationalbewusstsein der Ukrainer zusammen, das neben dem großen russischen Nachbarn nie so recht zur Geltung kommen konnte. Zwar erkannte der Internationalist Lenin nach der Oktoberrevolution 1917 schnell die Gefahr des Nationalismus und warnte gar vor einem »großrussischen Chauvinismus«. Stalin folgte dem zunächst, doch als es später darum ging, alle nationalen Kräfte zu bündeln, um die Sowjetunion aus der Rückständigkeit zu führen, störten ihn die nationalen Ambitionen ihrer einzelnen Völker. Er sah die russische Sowjetrepublik als Führungskraft und weitete deren Einfluss systematisch aus – wenn nötig auch mit Gewalt.

Nach Stalins Tod wurde Nikita Chruschtschow, der in der ukrainischen KP seine politische Laufbahn begonnen hatte, KPdSU-Generalsekretär und bemühte sich um eine ausgleichende Nationalitätenpolitik. 1954 gliederte er die Krim in die Ukrainische Sowjetrepublik ein. Solch

symbolische Umarmungspolitik wechselte sich in der Sowjetunion immer wieder mit Unterdrückung von Nationalbewusstsein ab, doch im Kern mussten die Teilrepubliken die Vorherrschaft des Russischen anerkennen; gerade dies machte die Ukrainer, die sich mit Recht als großes und starkes Bindeglied zum westlichen Europa empfanden, empfänglich für Signale aus dieser Richtung.

Im Maidan kulminierten diese Widersprüche, eine prowestliche Regierung wurde eingesetzt, woraufhin Putin die Krim annektierte, im Donbass separatistische Tendenzen militärisch unterstützte und in der Folge der Ukraine eine eigene nationale Existenzberechtigung absprach, die große Teile der Bevölkerung aber nun gerade entschlossen unter Beweis stellten. Das Land wurde zu einer politischen und militärischen Kraft, das in der Lage schien, Russland Paroli zu bieten. Es wurde für die USA und die NATO zu jenem Stellvertreter, mit dem der Westen den Kampf mit Russland aufnehmen konnte, ohne dabei selbst auf dem Kampffeld in Erscheinung treten zu müssen. Man musste der Ukraine nur eine Atempause verschaffen, wozu unter anderem das Minsker Abkommen 2014 diente, das die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2022 als Versuch bezeichnete, »der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.«

Merkel meinte damit den Widerstand gegen die russische Aggression, die das vermutliche Ziel Putins, eine russlandfreundliche Regierung in Kiew zu etablieren, scheitern ließ und den Angreifer partiell zum Rückzug zwang. Gleichzeitig befeuerten diese Erfolge den Widerstandsgeist der Ukrainer zusätzlich und ihren Glauben, den Gegner im Osten mit westlicher Hilfe besiegen zu können. War die ukrainische Führung anfänglich noch bereit, zum Beispiel bei den Istanbuler Verhandlungen Zugeständnisses in Betracht zu ziehen, rückte sie davon auch wegen westlicher Versprechungen, alles für den Sieg der Ukraine zu tun, ab und versuchte in die Offensive zu kommen.

Der nationale Überschwang, gepaart mit dem blinden Vertrauen auf Unterstützung durch NATO und EU, erwies sich jedoch als Achillesferse der Ukraine, als ihre verwundbare Stelle. Sie wollte ihre objektive Schwäche gegenüber Russland durch subjektive Mobilisierung und die uneingeschränkte Akzeptanz ihrer Stellvertreterrolle in einem geopolitischen Konflikt ausgleichen, was aber nicht gelingen konnte. Denn die Formel, dass Frieden nur möglich ist, wenn beide Seiten sich vom Krieg keine Vorteile mehr versprechen können, greift hier nicht. Hinter der objektiven Schwäche der Ukraine verbirgt sich nämlich – Lob der Dialektik – die Achillesferse des Westens, also, um im Bilde zu bleiben, des »Chefs« des Unternehmens.

Denn die NATO kann diese Schwäche der Ukraine nicht wirklich kompensieren; es sei denn, sie selbst tritt in den Krieg ein. Auf diesem Wege ist sie bereits. Schon wurden mehrere rote Linien der Waffenlieferungen überschritten, inzwischen wird der Einsatz von Soldaten auf ukrainischem Boden erwogen. Die näheren wie ferneren Nachbarstaaten der Kriegszone rüsten in Windeseile auf, die USA stationieren demnächst auf deren Territorium Marschflugkörper. Noch schreckt die NATO vor dem letzten Schritt über die Grenze des direkten Krieges zurück, aber wie lange noch?

Ähnliches vollzieht sich in Russland, das seine Wirtschaft – wie schon vor mehr als 80 Jahren – auf Kriegsbedingungen einstellt. Die Folgen sind vor allem für die Ukraine verheerend, denn systematisch zerstören russische Angriffe die Infrastruktur des Landes, verbunden mit zunehmender Demoralisierung der Zivilbevölkerung, aber auch der Armee. Immer schwerer fällt es, neue Soldaten zu mobilisieren, und inzwischen nehmen auch in der Gesellschaft die Stimmen zu, die nach einem Ende des Tötens und Zerstörens verlangen.

Doch Kiew hat sich in eine neue Abhängigkeit begeben, in die vom Westen. Es muss unaufhörlich um neue Waffen betteln, kann aber nicht eigenständig über Schritte entscheiden, wann und wie der Krieg zu beenden wäre. Oder glaubt jemand im Ernst, dass die NATO angesichts ihrer Ziele im Osten und nach ihren milliardenschweren Waffenlieferungen einem Kompromiss des Landes mit Moskau zustimmen würde? Dabei ist das angesichts der Alternative eines ewigen Krieges mit Russland der einzig gangbare Weg für die Ukraine.

Aber auch für Russland, das sich auf der Siegerstraße wähnt und seinerseits den Krieg eskaliert. Es kann jedoch bei einem Dauerkonflikt mit seinem größten westlichen Nachbarn ebenfalls nichts gewinnen. Er bindet Kräfte, die für die Entwicklung des Landes gebraucht werden. Außerdem hängt sein Renommee in der Welt davon ab, wie die Ermahnungen sowohl solcher Verbündeter wie China als auch aufstrebender Mächte des globalen Südens wie Indien, Südafrika oder Brasilien zeigen. Ein langer Krieg ist nicht in ihrem Interesse, aber ebenso wenig eine Schwächung Russlands, das sie – nicht zuletzt wegen seiner Größe und Ressourcen – als wichtigen Verbündeten in ihrem Kampf gegen den dominierenden Westen betrachten. Ihr Realitätssinn lässt sie und die Mehrheit der Weltgemeinschaft Abstand von der Sanktionspolitik des Westens halten.

Insofern ist die Zeit reif für ernsthafte Verhandlungen abseits von ambitionierten Großkonferenzen zur Propagierung der eigenen Positionen wie vielleicht gut gemeinter, aber kontraproduktiver Alleingänge egozentrischer Politiker; es fehlt jedoch bislang an vertrauenswürdigen Akteuren, die sich dieser schweren Aufgabe annehmen. Hoffnungsvoll stimmt allein die langsam wachsende Ungeduld der Öffentlichkeit, die angesichts des lauten Kriegsgeschreis aus Regierungsinstitutionen und Redaktionsstuben immer stärker ihre Sorgen artikulieren.

Schon einmal, Anfang der 1980er-Jahre, hatten Millionen Menschen angesichts der Stationierung US-amerikanischer wie sowjetischer Atomraketen in Europa ihren Protest auf die Straße getragen und damit zur folgenden Entspannungspolitik beigetragen. Deren positive Resultate, von denen wir noch heute profitieren, zeigten, was möglich ist, wenn statt imperialistischer Hybris, von welcher Seite auch immer, die Vernunft regiert.

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