Die Renaissance der Bedrohungslüge

(pri) Um die Bevölkerung »kriegstüchtig« zu machen, entwirft die Politik wie im Kalten Krieg ein so realitätsfremdes wie manipulatives Horrorszenario

Die »auf absehbare Zeit größte Bedrohung für unsere Sicherheit und Freiheit in Europa« nannte Außenministerin Annalena Baerbock Russland; und Verteidigungsminister Boris Pistorius präzisierte, man müsse einkalkulieren, »dass Wladimir Putin eines Tages sogar ein NATO-Land angreift«. Und zwar nicht eines fernen Tages, er »rechne mit einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren, in denen das möglich sein könnte«. Die Sandkastenstrategen im Hintergrund werden noch konkreter. »Die Staaten, die mit Russland oder der Sowjetunion eine Erfahrung haben, die warnen alle. Bei denen sind alle Lichter auf Rot und auf Alarm gestellt. Das gilt für Polen, das gilt für das Baltikum, das gilt aber auch für Tschechien oder andere Länder«, so Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Polen zum Beispiel fürchte das schon in drei Jahren.

Was die Plausibilität solcher Verschwörungstheorien angeht, zeigt sich gerade an den Schwierigkeiten, die Russland damit hat, angesichts einer Tausende Kilometer langen Landgrenze ukrainische Entlastungsangriffe an auch nur einer Stelle, im Raum Kursk, zurückzuschlagen. Dennoch fehlen solcherart Aussagen in keiner aktuellen Sicherheitsanalyse, seit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann; die Bedrohungslüge ist zurück.

Für jemanden im fortgeschrittenen Lebensalter ein Déjàvu, das zugleich offenbart, wie wenig innovativ jene sind, die die Probleme dieser Welt nur mit Gewalt glauben lösen zu können und dafür vor allem einen bösen Feind brauchen, um gegen ihn ihre Geschütze in Stellung zu bringen. Schon einmal, als die Welt in zwei große, bis an die Zähne bewaffnete Blöcke geteilt war, beherrschte das Narrativ, wie man heute sagen würde, von der Bedrohung aus dem Osten die Schlagzeilen. Man konnte sogar genau nachlesen, wann der dritte Weltkrieg beginnt, wie er verläuft und was seine Folgen sind. Im August 1985 würden sowjetische Generale ihre Panzer losrollen lassen, Jugoslawien und die BRD überfallen, den Krieg in den Weltraum tragen und schließlich einen Atomschlag gegen Birmingham führen. Kein geringerer als ein früherer Oberbefehlshaber der britischen Rheinarmee und Befehlshaber des NATO-Kommandos Nord, der General a. D. Sir John Hackett, beschrieb aus der vorgeblichen Sicht des Jahres 1987 das Inferno aus »Napalm, chemischen Waffen und Atombomben«. Er kleidete die für den Normalbürger offenbar bis dato nicht allzu verständlich dargestellte Bedrohungslüge in das attraktive Gewand eines »authentischen Berichts«, der jedem zeigte, wie es ihm in jenem dritten Weltkrieg ergehen würde.

Hacketts Report stand nicht allein. In den USA gab es schon eine ganze Serie von Filmen und Büchern, die die atomare Katastrophe, ausgelöst selbstredend von den »Russen«, in allen Einzelheiten ausmalten. Schon damals hatten also Kriegsspiele Konjunktur; aber auch sie hatten ihre Vorbilder. Erinnert sei an jene schon legendäre Rundfunksendung unter dem Titel »Die Invasion vom Mars«, die am 30. Oktober 1938 über den US-amerikanischen Äther ging und eine Panik auslöste. Tausende US-Amerikaner stürzten auf die Straßen, flüchteten ziellos, riefen ihre Verwandten an, um sich aus diesem Leben zu verabschieden und beteten für ihr vermeintlich letztes Stündchen. Die Rundfunkstation hatte in einem Hörspiel mit allen Einzelheiten geschildert, wie Meteoriten auf der Erde landeten, ihnen grässliche Fabelwesen entstiegen, diese ein gelblich-grünes Gas abließen und in seinem Schutz das Land zu überrollen begannen.

Der Naturalismus der Darstellung führte zu der genannten Panik, die sofort zum Forschungsgegenstand flinker Psychologen wurde. Die Situation, so drückte es Hadley Cantril, einer von ihnen, aus, »zeigt uns, wie der Mensch in Zeiten der Anspannung und des Drucks reagiert. Sie vermittelt uns Einsichten in seine Intelligenz, seine Ängste und seine Bedürfnisse, die wir durch Tests oder strenge experimentelle Untersuchungen nie gewinnen könnten.«

So fand man damals heraus, dass mangelndes Wissen, ungenügende Kritikfähigkeit und – nicht zuletzt – soziale Unsicherheit selbst für die phantastischste Geschichte anfällig machen. Diese Erkenntnis – bereits 1895 in Gustave le Bons »Psychologie der Massen« zu finden und von den Nazis perfekt genutzt – hatte sich in den USA des Jahres 1938 bestätigt. Cantril schrieb: »Die Depression dauerte beinahe schon zehn Jahre. Die Leute waren immer noch arbeitslos. Warum tat niemand etwas dagegen? Was waren die Ursachen dafür? Wiederum konnte niemand voraussagen, was geschehen würde.« Und weiter: »Der komplexe ideologische Klassen- und nationale Antagonismus, der für die Krise verantwortlich war, wurde keineswegs völlig verstanden.«

Die Parallelen zum Heute sind unübersehbar. Die Weltwirtschaft schlingert; viele Länder sind von hohen Inflationsraten betroffen, die soziale Balance, wo es sie denn gab, schwindet. Die Kriegsgefahr wächst und mit ihr die Zahl von Flüchtenden weltweit. Der Terrorismus wurde zu einer permanenten Drohung. Klimaveränderungen verlangen tiefgreifende Maßnahmen. Die Folgen der Pandemie sind noch keineswegs ausgestanden. All das verunsichert die Menschen; sie rätseln über den Ursachen, suchen nach einfachen Antworten. Da werden ihnen gern Ersatzbegründungen geliefert, bevorzugt die russische wie die chinesische, aber auch eine islamistische Bedrohung.

Und es braucht vermeintliche Autoritäten, die solche Antworten geben; daher sind sich Regierungschefs, Minister, Spitzenmilitärs und Rüstungsexperten nicht zu schade, die Zukunft in düsteren Farben zu malen. Im Hörspiel über die Mars-Invasion traten Professoren, Generäle und schließlich der Innenminister auf. »Ich glaubte der Sendung sofort, als ich den Professor aus Princeton und die Offiziellen aus Washington hörte«, sagte ein Rundfunkhörer. Und ein anderer: »Nachdem diese ganzen Militärangehörigen da waren und der Minister gesprochen hatte, wusste ich, dass es sich um eine schrecklich gefährliche Sache handelte.« Auch Hackett ließt im »Dritten Weltkrieg« solche Fachleute zu Wort kommen. Das US-Magazin »Newsweek« resümierte, das Buch sei »unter Beachtung der Ratschläge ranghöchster Militärs der USA und der NATO, welche Hacketts Meinung teilen, geschrieben worden.«

Um die Menschen auch emotional anzusprechen, sollen ihnen – zum Beispiel über die Medien – möglichst viele Details mitgeteilt werden, die sie aus Erfahrung kennen. Cantril fand bei seiner Analyse des Hörspiels heraus, dass sich dessen Glaubwürdigkeit »durch Beschreibungen besonderer Vorkommnisse, die sich die Zuhörer leicht vorstellen konnten, noch vergrößert« hat. Da wurde der vermeintliche Meteorit in allen Einzelheiten geschildert, das ausströmende Gas als von »gelblichem Grün« genau bezeichnet. Da war von einem leichten Erdstoß bei der Landung die Rede und von Weisungen der Behörden, die konkrete, allbekannte Orte und geläufige Formulierungen enthielten.

Hackett ging noch weiter. In seiner fiktiven Darstellung finden sich militärische Karten des »Schlachtenverlaufs«, Zitate aus angeblichen Presseveröffentlichungen, fingierte Zeugenaussagen und Geheimdienstdokumente und nicht zuletzt »Fotos aus dem Jahre 1985«, mit solchen Unterschriften: »Sowjetische motorisierte Infanterie überquert die Weser«, »Der zweite Schub sowjetischer Panzertruppen landet in Dänemark« usw. Alles ist so vollständig und genau beschrieben, dass dem unbedarften Leser Schauer über den Rücken laufen.

Schon Cantril fand, dass die »Invasion vom Mars« die Menschen in Bewegung setzte – ziellos zwar, aber willig, jedem zu folgen, der ihnen einen denkbaren Ausweg zeigt. Hackett ging zielgerichteter vor und hatte die Lösung parat: »Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass ein Krieg mit dem Warschauer Pakt in einer raschen Katastrophe enden kann, wenn der Westen in den nächsten Jahren nicht vieles zur Verbesserung und Stärkung seiner Verteidigung tut.« Das könnten Baerbock, Pistorius und andere von ihm abgeschrieben haben.

Seinerzeit aber siegte die Vernunft. Zwar soll im Oval Office, dem Amtszimmer des US-Präsidenten von 1977 bis 1981, Jimmy Carter, das Buch »Der dritte Weltkrieg« gleich unter der Bibel gelegen haben, aber die Politiker der 1980er-Jahre empfanden die Bedrohung offensichtlich wechselseitig und leiteten zögernd, aber letztlich doch erfolgreich einen Entspannungsprozess ein, der Hacketts »rasche Katastrophe« verhinderte.

Wesentlich dazu beigetragen hat eine starke und entschlossene Friedensbewegung, die in den NATO-Staaten Hunderttausende auf die Straße brachte und in den Ländern des Warschauer Paktes das Umschmieden von »Schwertern zu Pflugscharen« populär machte. Das ist auch heute möglich; schon zeigt sich, dass immer weniger Menschen der aufgewärmten Bedrohungslüge folgen und schon gar nicht »kriegstüchtig« werden wollen. Sie betrachten das eifrige Bemühen imperialistischer Staaten, den Krieg als Mittel der Politik wieder hoffähig zu machen, als die eigentliche Bedrohung, der es Einhalt zu gebieten gilt.

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