(pri) Fast als ein Wunder galt 2021 die Wahl von Olaf Schulz zum Bundeskanzler. Warum es sich 2025 nicht wiederholen wird.
Wer von sich meint, schon einmal ein Wunder vollbracht zu haben, ist in der Überzeugung nicht zu erschüttern, es könnte ihm ein weiteres Mal gelingen. Als Olaf Scholz im Sommer 2020 zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt wurde, kam seine Partei in Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen gerade einmal auf 14 Prozent Zustimmung für die 2021 bevorstehenden Bundestagswahlen, während den Unionsparteien 38 Prozent vorhergesagt wurden. Niemand konnte damals mit seinem Sieg rechnen, und vielleicht wurde er gerade deshalb für dieses Amt nominiert, gewissermaßen als Bauernopfer, das die Niederlage auf sich zieht und damit ein Stück weit die Partei entlastet.
Scholz selbst mag auch nicht so recht daran geglaubt haben, zumal er gerade erst mit Klara Geywitz im Kampf um den SPD-Vorsitz dem linksgerichteten Duo Saskia Esken/Norbert Walter-Borjans, die vom Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert massiv unterstützt wurden, unterlegen war. Aber vielleicht wollte er diese Scharte im Interesse seiner künftigen Rolle in der Politik auswetzen oder sah mit seiner langjährigen Erfahrung in Führungsämtern sogar die Chance, gerade mit einem dezidiert linken Kurs doch zum Erfolg zu kommen. Zwar billigte er diesen Linksdrall kaum, aber das müsse man ja nicht zeigen und könne gewissermaßen unter einer »fremden Flagge« in den Kampf ziehen.
So geschah es denn auch. Zwar stiegen die demoskopischen Werte der SPD zunächst nicht, gerade weil man in ihrem Kanzlerkandidaten keinen überzeugenden Vertreter linker Politik sah, aber zugleich verloren CDU/CSU massiv, weil sich Angela Merkel nicht wieder zur Wahl stellte , was einen Machtkampf in der Union auslöste. Bereits im Juli 2021 betrug deren Vorsprung vor der SPD nur noch zwölf Punkte, und da sich Scholz wacker für den Mindestlohn, das Bürgergeld, mehr Wohnungsbau und eine bessere Bezahlung der in der Pflege Tätigen aussprach, stiegen nun auch die sozialdemokratischen Werte. Im August lagen beide gleichauf, einen Monat später erreichte die SPD 25 Prozent, und aus den Wahlen ging sie schließlich mit 1.6 Prozent Vorsprung als Siegerin hervor. Das Wunder war vollbracht.
Aber schon in diesem mühsam errungenen Sieg sind die Gründe erkennbar, warum er sich nicht so leicht wiederholen lässt. Der Erfolg einer stärker links orientierten SPD-Spitze 2019 beruhte auf der Abkehr der Partei von der jahrelang praktizierten großen Koalition – in der Hoffnung, es käme danach zu einer Politik, die wieder mehr traditionell sozialdemokratischen Grundprinzipien entspricht. Die SPD musste jedoch aufgrund des knappen Wahlausgangs außer den Grünen auch die FDP in die Regierung nehmen, also eine Partei, die Ziele verfolgt, die in der Regel im Gegensatz zu jenen der Sozialdemokratie stehen. Olaf Scholz war das im Grunde recht, konnte er damit doch rechtfertigen, dass sich nicht alles, was seine Genossen im Wahlkampf versprochen hatten, realisieren ließ.
Norbert Walter-Borjans, der sich über die politischen Standpunkte Olaf Scholz’ offensichtlich im klaren war, erklärte wenige Tage nach dessen Wahlsieg sein Ausscheiden aus der Parteispitze. Er, der sowohl finanzpolitisch als auch in der Sicherheitspolitik sehr dezidiert linke Positionen vertrat, sah diesbezüglich wohl keine Erfolgsaussichten mehr, machte aber zugleich den Weg für eine Verschiebung des personellen Kräfteverhältnisses im Willy-Brandt-Haus frei, die Scholz entschlossen nutzte. Zum neuen Co-Partner Saskia Eskens wurde Lars Klingbeil, früher Mitglied des parlamentarischen Linken der SPD, seit 2015 aber beim konservativen Seeheimer Kreis. Er bestimmte nun wesentlich die Linie der Partei, während sich Kevin Kühnert durch seine Wahl zum Generalsekretär auf vorrangig organisatorische Fragen reduziert sah.
Doch Olaf Scholz hatte noch einen anderen starken Sekundanten für die von ihm angestrebte »Zeitenwende«. Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine lieferte ihm der russische Präsident Wladimir Putin einen zusätzlichen Anlass, die seither vollzogene Abkehr von originär sozialdemokratischer Politik sowohl im Inneren als auch nach außen zügig voranzutreiben.
Es begann mit der Zertrümmerung der bedeutendsten politischen Leistung der Nachkriegs-Sozialdemokratie, nämlich der von Willy Brandt, Egon Bahr und anderen entworfenen und praktizierten Entspannungspolitik. Ohne das dadurch bei der Sowjetunion gewonnene Vertrauen hätte es eine friedliche Wiedervereinigung der beiden Deutschlands ebenso wenig gegeben, wie die gedeihliche Zusammenarbeit der vereinigten Bundesrepublik mit Russland bis über die Jahrtausendwende hinaus. Scholz’ Kurswechsel, materialisiert in dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr, fand unter dem Eindruck der russischen Aggression zunächst Zustimmung, doch zugleich äußerten 75 Prozent der Bürger Sorge über einen größeren Krieg in Europa.
Schon zwei Monate später wandelte sich das Bild, und der demoskopische Schwund der SPD begann. Er ging einher mit zunehmender Verunsicherung in den Reihen innerhalb der Partei über den neuen Konfrontationskurs. Nicht nur in der Fraktion regte sich Unmut, auch die Verteidigungsministerin Christine Lamprecht, Mitglied der parlamentarischen Linken ihrer Partei, hatte augenscheinlich Schwierigkeiten damit. Sie äußerte sich zu Waffenlieferungen an die Ukraine zurückhaltend und fühlte sich durch das gewachsene Selbstbewusstsein der Bundeswehr-Spitzen unter Druck gesetzt. Eine gezielte Medienkampagne zog ihre Befähigung in Zweifel, so dass sie Anfang 2023 zurücktrat. Da lag die SPD in den Umfragen schon nur noch bei 20 Prozent.
Dieser Trend setzte sich fort und verfestigte sich zum Jahresende bei 15 Prozent. Auf dem Dezember-Parteitag gab es einen letzten verzweifelten Versuch, das Blatt noch einmal zu wenden, indem man die soziale Verantwortung der SPD beschwor und sich sogar der schwächelnden Linkspartei als neue Heimat anbot. »Das ist unser politisches Terrain«, erklärte Kühnert damals, und die Partei hoffte noch, bestätigte den Generalsekretär mit 92,8 Prozent im Amt. Doch beim Wähler verpuffte das Manöver. Im Januar 2024 wollten nur noch 13 Prozent für die SPD votieren. Und bei der Europawahl im Juni taten es dann tatsächlich nur 13,9 Prozent. Sie glaubten einfach nicht mehr daran, dass die Versprechungen ernst zu nehmen seien, denn zu oft waren sie enttäuscht worden.
Die Parteiführung sah dem Niedergang tatenlos zu. Die Führung war unverändert wiedergewählt worden, und mit der alten Garde kehrte auch der für die Sozialdemokratie sprichwörtliche und in den Jahren der großen Koalition besonders verinnerlichte Opportunismus zurück. Saskia Esken, die anfangs als besonders konsequente Vertreterin linker Forderungen hervorgetreten war, folgte wie andere der neuen Linie, erklärte sie oft als alternativlos. Innenministerin Nancy Faehser, die auch als links verortet galt, begab sich mit einigen ihrer Maßnahmen, so der Kürzung sozialer Hilfe für Asylsuchende, der Erleichterung von Abschiebungen und der Einführung von Grenzkontrollen an allen deutschen Außengrenzen, in bedenkliche Nähe zu AfD-Forderungen. Bei der Abwehr des Rechtsextremismus beschränkte sie mit dem Verbot des Compact-Magagzins nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts in unverhältnismäßiger Weise die Medienfreiheit. Arbeitsminister Hubertus Heil ließ sich bei der Umsetzung von Beschlüssen zur sozialen Absicherung, so zum Bürgergeld, auf faule Kompromisse ein. Immer öfter blieben sozialdemokratische Positionen in der Auseinandersetzung mit der FDP auf der Strecke.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. In der zerstrittenen Ampelkoalition konnte die SPD ihrer Rolle als Kanzlerpartei nie gerecht werden, nicht zuletzt wegen der Führungsschwäche von Olaf Scholz, der zwar meist wusste, was er nicht wollte, aber selten, was dringend zu tun war. So erlebte die Partei im Herbst ein politisches Waterloo. In zwei ostdeutschen Bundesländern schaffte sie nur mühsam, mit einstelligen Werten, den Einzug ins Parlament, und der klare Erfolg in Brandenburg wurde mit der Kannibalisierung möglicher Koalitionspartner erkauft. Aus der Linkspartei, dem vermeintlichen »politischen Terrain« der SPD, erwuchs mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht eine neue Kraft, auf die alle anderen Parteien diesseits der AfD bei einer Regierungsbildung angewiesen sind.
Die SPD reagierte darauf mit einem Papier, das an den Erwartungen und Wünschen sozialdemokratisch Gesinnter vorbeigeht. Die Wirtschaft müsse angekurbelt, Arbeitsplätze sollten geschafften werden – Forderungen, die man eher in einem FDP-Programm erwartet. Auf wundersame Weise würden damit und durch eine Reform der Schuldenbremse die Probleme, mit denen die Ampelregierung drei Jahre lang nicht fertig geworden ist, gelöst.
Auf sozialem Gebiet werden lediglich 15 Euro Mindestlohn und Entlastungen für 95 Prozent der Steuerzahler, gegenfinanziert durch höhere Abgaben von Spitzenverdienern mit mehr als 15 000 Euro Monatseinkommen, versprochen – Wechsel auf eine ungewisse Zukunft und für viele unglaubwürdig, die zum Beispiel gesehen haben, was aus dem Versprechen der SPD-Bauministerin Klara Geywitz geworden ist, jährlich 400 000 neue Wohnungen zu bauen; tatsächlich waren es 2023 294 000 und und wird 2024 gar nur mit etwa 200 000 gerechnet. Andere wichtige Themen wie die Migrationspolitik, die Außenpolitik und der Klimaschutz fehlen in dem Strategiepapier ganz; die Parteispitze weiß, dass sie mit ihren diesbezüglichen Positionen im Widerspruch zur Mehrheit ihrer Wähler steht.
Nur einer zog daraus die Konsequenz – und das defensiv. Kevin Kühnert trat von seinem Posten zurück – und zwar vor Verkündung dieses Programms, das ihm bekannt gewesen sein dürfte. Das überraschte nur auf den ersten Blick. Denn vergleicht man die furiosen Auftritte des erst 35-jährigen, als es darum ging, nicht wieder in eine große Koalition einzutreten, mit seinem Einsatz für die Ampel, dann ist schon lange eine große Diskrepanz erkennbar. Zwar argumentierte er gewohnt eloquent und meinungsstark, aber zugleich auch geschäftsmäßig, nicht mit Herzblut. Es klang wie eine Pflichtübung und nicht mehr wie die Kür eines Heißsporns. Der früher so unangepasste Juso-Vorsitzende schien sich in seiner neuen Rolle, die von ihm mehr den Sekretär als den General verlangte, nicht sonderlich wohl zu fühlen und gab sie ab. Er sah wohl keinen Sinn darin, sich in einem Wahlkampf mit einem wenig zugkräftigen Programm und einem eben solchen Kanzlerkandidaten zu verschleißen und nahm eine Auszeit.
Er begründete das mit seiner Gesundheit und ließ ür die Zukunft manches offen. Die Parteispitze ging gern darauf ein, schon um eine Auseinandersetzung über mögliche inhaltliche Gründe zu vermeiden. Sie nominierte zwar mit Matthias Miersch einen Sprecher der parlamentarischen Linken als neuen Generalsekretär, doch das galt dem Vorsitzenden Klingbeil nicht als besonderes Qualitätsmerkmal, sondern dass er gut vernetzt sei und einen professionellen Wahlkampf führen könne.Tatsächlich ist Miersch durch Initiativen mit konsequent sozialdemokratischer Handschrift bislang nicht aufgefallen.
Und scheint deshalb kaum der Wundertäter zu sein, den sich viele in der Partei wünschen. Denn Wunder fallen nicht vom Himmel; sie wollen organisiert sein. Gerade Kühnert hatte das einst bewiesen. Für die Zukunft der heutigen SPD gilt eher, was schon Friedrich Schiller wusste: »Die Wunder ruh’n, der Himmel ist verschlossen«.