(pri) Fast als ein Wunder galt 2021 die Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler. Es wird sich 2025 nicht wiederholen; eher besteht die Gefahr einer Wahl zwischen zwei Übeln und danach einer üblen Koalition beider. Oder haben die Landtagswahlen in drei Ostländern einen Ausweg gezeigt – in der Tradition der Umbrüche vor 35 Jahren?
Seit siebzehn Tagen ist die Kanzlerschaft von Olaf Scholz Geschichte; von Anfang an beruhte sie auf falschen Voraussetzungen, zu denen ein ebenso falsches Sendungsbewusstsein des Emporkömmlings trat, das ihm zwangsläufig das Genick brach. Das Wunschdenken, das sich in der westdeutschen Politikszene in dem Maße breit macht, wie sie global an Einfluss verliert, fand im kurzzeitigen bundesdeutschen Regierungschef einen Prototyp von besonderer Unbeirrtheit, eben einen Scholzomaten ohne Gespür für die Realitäten.
Schon sein Wahlerfolg 2021 war nicht einer von eigener Leistung, sondern ist der damaligen leicht linksorientierten SPD-Führung von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie – vor allem – dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert zu verdanken. Sie hatten nach Jahren die Partei auszehrender »großer« Koalition mit der Union eine neuen Kurs eingeschlagen, der traditionelle sozialdemokratische Werte in Erinnerung rief und – was wohl selbst ihrer Urheber überraschte – die SPD wieder auf Augenhöhe mit CDU und CSU brachte. Ohne ihre Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel zerstritt sich die Union und verlor tatsächlich knapp das Duell gegen den Vizekanzler der Groko, der objektiv für nichts weniger stand als für eine von Mitgliedern und Wählern der SPD herbeigesehnten Politik sozialer Gerechtigkeit.
Vollends klar wurde dies, als Scholz wegen des knappen Wahlsiegs neben den Grünen auch die FDP in die neue Ampelkoalition aufnehmen musste; ihm kam das zupass, denn damit konnte er vieles, was im Wahlkampf an sozialen Wohltaten versprochen worden war, zu den Akten legen. Die Liberalen waren eine sichere Gewähr für die Beerdigung.
Doch mit solch marginalen Korrekturen wollte sich Olaf Scholz nicht zufrieden geben. Er nutzte den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zu einer Attacke gegen eine seit Jahren tragende Säule sozialdemokratischer Politik, das Ringen um Entspannung und Ausgleich mit der östlichen Supermacht Russland und nannte diese Kehrtwendung in eitler Selbstüberschätzung eine »Zeitenwende«.
Die hatte zwar tatsächlich stattgefunden – seit 1989 und in die 1990er-Jahre hinein, als das Sowjetsystem zusammenbrach und Europa vor der Aufgabe stand, eine neue Sicherheitsarchitektur zu gestalten. Diese Chance jedoch wurde vertan, weil den USA ein solch selbstbewusstes Europa suspekt war und sie es stattdessen gegen den Konkurrenten Russland in Stellung bringen wollten. Scholz und einige andere aus dem rechten Flügel der SPD, aber auch die von der einstigen Friedenspartei zur Kriegspartei mutierten Grünen und die FDP sahen darin eine Chance, den friedenspolitischen Ballast abzuwerfen und zum transatlantischen Lieblingspartner zu werden, was ihnen die nahezu uneingeschränkte militärische Unterstützung der Ukraine ebenso wie das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen wert war, mit dem sie die Bundeswehr »kriegstüchtig« zu machen gedenken.
Soweit der Plan; er ging aber offensichtlich nicht konform mit dem Denken und Hoffen einer Mehrzahl in der deutschen Bevölkerung. Hatte es wegen des völkerrechtswidrigen und brutalen Vorgehens Russlands zunächst dafür noch überwiegend Zustimmung gegeben, so änderte sich dies schon bald. In der SPD, nicht zuletzt in ihrer Bundestagsfraktion, wie deren Vorsitzender Rolf Mützenich unmissverständlich kund tat, besannen sich viele der Politik Willy Brandts und Egon Bahrs, die nicht nur maßgeblich zur Überwindung der deutschen Spaltung beigetragen, sondern auch die Kriegsgefahr gemindert hatte. Scholz jedoch veranlasste dieser Widerstand lediglich zu taktischen Manövern, die er jetzt gern als »Besonnenheit« verkauft. Tatsächlich jedoch schloss er sich den Waffenlieferungen der USA stets nahtlos an und brüstete sich ungeachtet der damit verbundenen Eskalation damit, die Bundesrepublik zum zweitgrößten Unterstützer der Ukraine gemacht zu haben. Dass er jetzt die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper verweigert, ist angesichts des USA-Wahlsiegers Trump und seiner Erklärungen zum Ukraine-Krieg wohlfeil und passt in diese Camouflage.
Die Sanktionen gegen Russland, die zu einer Erhöhung der Energiekosten führten, dazu die finanzielle Belastung durch ständig neue Milliardenbeträge zur Aufrüstung der Ukraine überdehnten neben anderem bald den Bundeshaushalt; Forderungen nach einer Reduzierung der Sozialleistungen waren die Folge, was die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter verstärkte. Die demoskopischen Werte sanken, die Unruhe in der Partei wuchs, worauf der Kanzler mit einem personellen Rechtsruck in der SPD-Führungsspitze antwortete. Der Versuch, vor Jahresfrist beim Parteitag das Ruder noch einmal herumzureißen, scheiterte ebenso wie seine gegenwärtige verzweifelte Wiederholung im Wahlkampf bislang erfolglos blieb. Olaf Scholz wurde das Opfer seines eigenen Kurses.
Denn mit dieser Vorgeschichte ist sein plötzliches Auftreten als sozialer Wohltäter und geradezu penetrant als »Friedenskanzler« für die Wähler und auch viele Anhänger der SPD völlig unglaubwürdig. Er kann einzig darauf bauen, dass er angesichts der vom CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz vertretenen offen reaktionären Programmatik den Wählern als das kleinere Übel erscheint. Gegen Angela Merkel gelang das weder Frank-Walter Steinmeier 2009 noch Peer Steinbrück 2013 noch Martin Schulz 2017; gegen Merz könnte es gelingen, tut dieser doch alles, um sich sowohl bei der sozialen Gerechtigkeit als auch bei der Ukraine-Frage tatsächlich als das größere Übel für eine Bevölkerung zu inszenieren, die durch Existenzangst und Kriegsgefahr nachhaltig verunsichert ist.
Zu einem erneuten Sieg der SPD bei der Bundestagswahl dürfte dies dennoch nicht reichen; vielmehr steht zu befürchten, dass es zu einer Koalition eines großen Übels mit einem kleineren kommt – eine sehr bedrohliche Aussicht. Nicht nur die so genannte große Koalition würde sich wieder wie Mehltau über unser Land legen; das Zusammenspiel der von Merz und Söder geprägten CDU/CSU-Reaktion mit dem konservativen Opportunismus der rechten SPD verheißt zum einen soziale Schwindsucht und Demokratie-Abbau im Inneren, vor allem aber einen aggressiven Kurs in der Außenpolitik mit der Speerspitze gegen Russland.
Zwangsläufig ist eine solche Entwicklung freilich nicht, wie im vergangenen Herbst die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zeigten. Zwar sind deren Resultate angesichts der besonderen Motivlage in den östlichen Ländern nicht überzubewerten, schon gar nicht im Blick auf eine Bundestagswahl, aber sie zeigen dennoch eins ganz deutlich: Es gibt in der Bevölkerung einen verbreiteten Wunsch nach einer anderen Politik, und viele Wähler sind bereit, ihre Stimme Kandidaten zu geben, die diese versprechen, auch wenn sie ansonsten mit den hinter ihnen stehenden Parteien in vielem nicht übereinstimmen.
Ungeachtet aller Unwägbarkeiten haben diese Wähler im Osten eines schon erreicht: In allen drei Bundesländern ist das Deutungsmonopol der jeweils stärksten Partei durchbrochen worden. Sowohl die SPD in Brandenburg als auch die CDU in Sachsen und Thüringen unterwarfen sich einem schriftlich fixierten »Geist der Zusammenarbeit und einer neuen politischen Kultur«, wie es der thüringische Ministerpräsident Mario Voigt ausdrückte. Sachsens SPD-Chef Henning Homann erklärte, Regierung und Opposition müssten sich aus ihren Ritualen herausbewegen, immer nur gegeneinander zu sein. »Dann muss man sich auch die Hand reichen.« Am schwersten tat sich die Brandenburger SPD mit den für die einzig mögliche Koalition mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht notwendigen Kompromissen, betrachtet sie doch das Land rund um Berlin als ihr ureigenes Spielfeld. Letztlich aber blieb Ministerpräsident Dietmar Woidke keine andere Wahl, wollte er sein Amt behalten.
So erinnern die Koalitionsverträge in allen drei Ländern ein wenig an die runden Tische der Wendezeit. Die demokratischen Kräfte üben sich in Zusammenarbeit statt in gnadenlosem Gegeneinander. Vor 35 Jahren wurde dieses Politmöbel zwar gern genutzt, um die DDR möglichst konfliktfrei abzuwickeln, doch danach kehrte das alte Freund-Feind-Denken zurück, wurde teilweise gar noch forciert. Es hat offensichtlich spätestens jetzt seine Unbrauchbarkeit bewiesen – nicht durch die Einsicht der Politiker, sondern durch das Votum des Souveräns, der des Dauerstreits überdrüssig ist und konstruktive Arbeit zum Wohle des Landes erwartet. Letztlich entscheiden die Wähler, wie sich die Parlamente zusammensetzen und stellen damit ihre gewählten Vertreter vor die Aufgabe, miteinander sachgerecht um die besten Lösungen zu ringen.
Darin liegt eine Chance – und in gut sieben Wochen ist Gelegenheit, sie zu nutzen.