(pri) Der US-Vizepräsident attackiert zunehmende Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Europa – und sitzt doch zugleich selbst im Glashaus.
Die Reflexe haben wieder einmal gestimmt. Kaum hatte der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance kürzlich auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten, die nicht dem europäischen Regelwerk folgte, traten die Lordsiegelbewahrer zulässiger Meinungen auf den Plan. Vance hatte gerügt, dass die europäischen Demokratien nicht mehr so recht wüssten, wofür sie sich verteidigen sollen: „Für viele von uns auf der anderen Seite des Atlantiks sieht es immer mehr so aus, als ob sich alte, fest verwurzelte Interessen hinter hässlichen Worten aus der Sowjetzeit wie Misinformation und Desinformation verstecken, denen es einfach nicht gefällt, dass jemand mit einem alternativen Standpunkt eine andere Meinung äußern oder, Gott bewahre, anders wählen oder, noch schlimmer, eine Wahl gewinnen könnte.“
Und er nannte konkrete, in den Tatsachen nicht bestreitbare Beispiele: die Annullierung der Präsidentschaftswahl in Rumänien auf der Basis „des fadenscheinigen Verdachts eines Geheimdienstes und des enormen Drucks seiner kontinentalen Nachbarn“, die Ankündigung, dass sich das auch bei Wahlen anderswo wiederholen könnte, Erwägungen der Brüsseler EU-Kommission, „die sozialen Medien in Zeiten ziviler Unruhen zu schließen: in dem Moment, in dem sie etwas entdecken, das sie als ‚hasserfüllten Inhalt‘ einstufen“, die Verurteilung eines Beteiligten an einer Koranverbrennung in Schweden, das Verbot von Demonstrationen von Abtreibungsgegnern in der Nähe von Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, in Großbritannien und nicht zuletzt die Ausschließung von „Gesetzgebern, die populistische Parteien sowohl der Linken als auch der Rechten vertreten“, von der Münchener Konferenz.
Zu all dem kann man seine ganz eigene, von Vance weit entfernte Meinung haben, aber darum ging es dem Vizepräsidenten nicht. Er fürchtet, dass die Missachtung Andersdenkender das gesamte demokratische System schwächen könnte: „ Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es keine Sicherheit gibt, wenn man Angst vor den Stimmen, den Meinungen und dem Gewissen hat, die das eigene Volk leiten. Europa steht vor vielen Herausforderungen. Aber die Krise, mit der dieser Kontinent derzeit konfrontiert ist, die Krise, die wir meiner Meinung nach alle gemeinsam erleben, ist eine Krise, die wir selbst verursacht haben.“
Wie sehr Vance damit ins Schwarze getroffen hatte, machte das Echo in München deutlich. „Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst“, erwiderte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius und trat umgehend den Gegenbeweis für diese Worte an. Denn er ging auf keines der konkreten Beispiele ein, zu denen er doch durchaus zumeist überzeugend hätte argumentieren können. Stattdessen fühlte er sich – seinem Amte gemäß? – bemüßigt, aus der Hüfte zu schießen: „Diese Demokratie wurde vom US-Vizepräsidenten für ganz Europa vorhin infrage gestellt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, vergleicht er Zustände in Teilen Europas mit denen in autoritären Regimen.“ Das sei nicht akzeptabel.
J. D. Vance ein Putin-Versteher oder gar ein Putin-Propagandist? Das erinnert an die bekannten Schlagworte und argumentativen Fertigstücke, mit denen seit Jahren der gesellschaftliche Diskurs gelenkt wird – überwiegend vorbei an den Sorgen und Befürchtungen der Bürger und daher mit dem Resultat wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung fast aller europäischen Länder, die in Protestwahlen und anschließender innenpolitischer Instabilität mündet. Davor warnt Vance: „Wir müssen nicht mit allem oder jedem einverstanden sein, was die Leute sagen. Aber wenn politische Entscheidungsträger eine relevante Wählergruppe vertreten, ist es unsere Pflicht, zumindest mit ihnen in einen Dialog zu treten.“
Daran jedoch mangelt es; der politische Diskurs wird dominiert von Regierungsinstitutionen, den sie tragenden „Parteien der Mitte“, von Medien, hinter denen große Konzerne stehen und in zunehmendem Maße Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der passenden Vita und Weltsicht. Für Cathryn Clüver-Ashbrook von der Bertelsmann-Stiftung zum Beispiel war „das erste Drittel der Rede … gespickt mit Verschwörungstheorien, mit Falschinformationen und einer Aufforderung, diese Verdrehungen ernst zu nehmen“. Konkret ging jedoch auch sie nicht auf Vances Vorhaltungen ein, tat sie vielmehr apodiktisch als „Verdrehung des faktischen, grundsätzlichen und eben auch durch Normen bestimmten Verständnisses dessen, was wir für Demokratie halten“, ab. Dabei hatte Vance mit Blick auf das rumänische Beispiel zurecht festgestellt: „Aber wenn Ihre Demokratie mit ein paar hunderttausend Dollar digitaler Werbung aus einem anderen Land zerstört werden kann, dann war sie von Anfang an nicht sehr stark.“
Natürlich wurde der Ball antidemokratischer Fouls auch genüsslich zurückgespielt, zumal Vance eingeräumt hatte, dass „dass die lautesten Stimmen für Zensur manchmal nicht aus Europa, sondern aus meinem eigenen Land kamen“ – natürlich von der Vorgängerregierung Joe Bidens. Jetzt aber gebe es einen „neuen Sheriff in der Stadt. Und unter der Führung von Donald Trump mögen wir mit Ihren Ansichten nicht einverstanden sein, aber wir werden dafür kämpfen, Ihr Recht zu verteidigen, sie öffentlich zu äußern.“
Die Realität ist freilich eine andere. Gerade wurde einem Reporter der Nachrichtenagentur AP der Zugang zu den Pressebriefings des Weißen Hauses verwehrt, weil er nicht bereit war, den Golf von Mexiko künftig als „Golf von Amerika“ zu bezeichnen. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz darauf: „Wir würden niemals eine Nachrichtenagentur aus dem Presseraum unseres Bundeskanzlers schmeißen.“ Und Robert Habeck, sein Konkurrent von den Grünen: „Kümmere Dich um Deinen eigenen Kram, da gibts Aufgaben genug in den USA.“
Tatsächlich sitzt J. D. Vance mit seinen Vorwürfen im Glashaus, denn es ist Mächtigen jeder Couleur eigen, die Herrschaft auch auf das Denken und Fühlen der Menschen zu erlangen. Da macht die Trump-Administration keine Ausnahme, eher im Gegenteil. Wer dem neuen Sheriff mit eigenen Meinungen allzu sehr in die Quere kommt, muss damit rechnen, umgehend gefeuert zu werden. Und für die Bearbeitung des allgemeinen Publikums hat er sich längst der Musks und Zuckerbergs versichert – mit Erfolg, wie sein jüngster Wahlerfolg zeigte.
Mit der Beschwörung grenzenloser Meinungsfreiheit will Vance letztlich reaktionäres Denken weltweit durchsetzen, allerdings positiv konnotiert. Darin liegt die Gefahr, doch ist diese nicht durch Reglementierung und Verbote zu bannen. Sondern nur durch Realitätssinn und Orientierung an Tatsachen, durch Bildung also, die jedem die Trennung des Spreus vom Weizen ermöglicht.