Ein Jubiläum ist zu begehen, eins der großen Zahl, und es fällt – wohl eher zufällig – in eine Zeit, da, am iranischen Beispiel, wieder einmal heftig diskutiert wird, welche Rolle das Internet in den aktuellen Weltenläuften spielt. Dies ist der 400. Beitrag dieser Internetseite – und eigentlich hat sich der Autor mit solch einem Satz bereits disqualifiziert. Denn in der Web-Sprache, die mit dem Deutschen wenig gemein hat, heißt der Beitrag natürlich »Post« und die Seite »Blog«; ansonsten aber ist diese Sprache noch immer derart unfertig, dass sich umfängliche Gesprächsrunden (»Communities«) zum Beispiel darüber ewig fetzen können, ob ein Blog männlichen oder sächlichen Geschlechtes ist. Aber – und damit sind wir bei seinem größten Vorzug – das Internet darf das – von rechts bis links, von oben nach unten, grenzenlos, uferlos, tabulos, sogar geschmacklos.
Jeder, der über irgendeinen Telefonanschluss verfügt (und den bekommt man heute schon für einen Euro), kann aller Welt mitteilen, was ihm gerade auf der Seele brennt – seinen Liebeskummer, seine Meinung zu Barack Obamas letzter Rede, den Ärger über das Hochschnellen des Benzinpreises spätestens an jedem Freitag, seine Befindlichkeit angesichts dauerhaften Regenwetters oder nach einer nächtlichen Fernsehdebatte hochbezahlter Professoren über den Wert oder Unwert von Büchern mit mehr als 1000 Seiten. Er kann über den aktuellen Standort an einer Straßenbahnhaltestelle informieren oder seine aktuelle Verrichtung, sofern er dazu nicht beide Hände braucht, über seine kleinen Wehwehchen oder großen Visionen. All das rufen Millionen millionenfach ab und scheren sich oft wenig darum, dass es dem einzelnen Post regelmäßig (was Ausnahmen einschließt) an Qualität gebricht ; diese generiert sich erst – ganz dialektisch – aus der Quantität. Womit der zweite Vorzug des Web beschrieben wäre, der sich logisch aus dem ersten ergibt: Absolute Freiheit der Kommunikation erzeugt jene große Zahl von Inhalten, die nach den Gesetzen der Statistik immer näher an die Wahrheit heranführt.
Insofern müsste man den iranischen Machthabern beinahe dankbar sein für ihre Versuche, die gesteuerte Informationsvermittlung zu unterbinden, denn daraus resultiert heute nicht etwa das angestrebte Versiegen des Informationsflusses, sondern seine stete Verbreiterung, was eine Kanalisierung bald unmöglich macht. Das allerdings auf allen Seiten, denn weder das Regime noch der vermeintlich objektive Beobachter, der aber auch nicht im luftleeren Raum lebt, und schon gar nicht der zufällige Passant mit der Handy-Kamera vermag seine Deutung der Ereignisse durchzusetzen, sobald über diese selbst uneingeschränkt berichtet wird und jeder, aber auch wirklich jeder die Möglichkeit hat, all dies ebenso uneingeschränkt zur Kenntnis zu nehmen.
Erwünscht ist eine solche Demokratisierung der Kommunikation bei den Mächtigen nicht; man erkennt das an ihren – weltweit und systemübergreifend – zunehmenden Versuchen, durch Sperren und Mauern den Informationsfluss wieder auf das von ihnen für erträglich gehaltene Maß zu begrenzen. Aber auch Nutzer im Web (»User«) haben oft selbst Angst vor der Vielfalt der Tatsachen und Meinungen, deren Kenntnisnahme sie zur Überprüfung und möglicherweise Infragestellung eigener vermeintlicher Gewissheiten zwingen könnte. Diese ziehen sich dann in ihre mehr oder weniger abgeschotteten Communities zurück, in denen sie sich die Bälle zuwerfen und einen verirrten Fremdkörper entweder ignorieren oder solange wütend attackieren, bis er sich wieder von ihrer Spielwiese entfernt und dort nicht mehr stört. Für sie erweitert das Internet paradoxerweise nicht die Freiheit, sondern ermöglicht ihnen den Rückzug auf den geistig kleinsten Nenner.
Die Freiheit des Web ergibt sich aus der Freiheit des Beteiligten, wenn der sie denn will – mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Es ist eine brotlose Freiheit, denn bezahlt wird nur für die Einordnung in das eine oder andere oder noch ein System; gerade die Blogospäre mit ihren vielen prekären Existenzen hat das sehr schmerzlich erfahren. Die Dividende des Bloggers ist die Aufmerksamkeit, die seine Posts erregen; sie steigt in dem Maße, wie sie über die verengte Community hinausreicht. Gleichgesinnte sind die Seitenaufrufen relativ leicht zu animieren, wer aber widerspricht, liefert mehr als nur einen Klick im Netz. Er bietet geistige Kost, die geschmeckt und verdaut werden muss – vielleicht Appetit auf mehr macht und im besten Falle sogar nährt.
Der Blick auf 400 Texte in knapp drei Jahren fällt unter diesem Gesichtspunkt nicht übermäßig befriedigend aus. 77 von ihnen fallen gleich ganz aus der Wertung, da die Zählung erst am 19. Oktober 2007, also nach gut einem Jahr, durch die famose Maschine Google analytics begann. Die übrigen 323 Posts wurden 31 641 mal angeklickt, etwa jedes sechste davon mehrfach von gleichen Interessenten. Kommentare zum aktuellen Geschehen standen dabei keineswegs an der Spitze; erst auf Platz 5 erscheint mit 303 Zugriffen die Glosse »Armer Fußball«, gefördert wohl durch den Enthusiasmus um die Weltmeisterschaft. Immerhin 231 User schauten auf »Und wieder zieht Koch gegen Ausländer in den Wahlkampf« (Platz 9) und 217 auf »Ist nur die richtige Meinung richtig frei?« (Platz 11),.187 auf »Ein Ferkel entlarvt die Heuchler der Meinungsfreiheit« (13) und 165 auf »Die Rentner als Störfaktor« (15), gefolgt von »Bestialisch: Knut frisst Fische« mit 157 Zugriffen.
Deutlich mehr Interesse fanden historische Texte. So rangieren vier Kapitel des »Honecker-Buches« unter den Top Ten, und auf die inzwischen zwölf Jahre alte Reportage »Wiebelskirchener Strohhalme« über Erich Honeckers Geburtsort wurde 265 mal zugegriffen (Platz 6), auf das noch ältere Porträt über Markus Wolf 210 mal (Platz 12). Sogar die fast 20 Jahre alte Folge über die Auseinandersetzung zwischen Bürgerrechtlern und Staatssicherheit am Ende der DDR gewinnt zunehmend Leser, 177 mal wurde »Vor 20 Jahren. Karl und Rosa zwischen den Fronten« angeklickt (Platz 14), 127 mal »Vor 20 Jahren: Der Countdown in der DDR läuft« vom 15. 01. 2009 (Platz 30) und 127 mal das auch erst 10 Monate verfügbare »Vor 20 Jahren: Ossietzky-Schüler als >antisozialistische Plattform< im Blauhemd« (Platz 37). Weit an der Spitze aber liegen zwei Reiseberichte aus der Ferne. Auf »Chilenische Schweiz« griffen 1200 User zu, der absolute Spitzenwert, für »Chiles Fjorde« interessierten sich 455 Internetnutzer. Es ist also offensichtlich der Gebrauchswert, der im Netz gesucht wird und der das Rating der Posts und damit auch der Blogs bestimmt. Vielleicht Ansporn, zu jener Reise, die nicht vor Kap Hoorn endete, noch einmal zurückzukehren.
Die Statistik führt den Blogger schnell auf seinen außerordentlich bescheidenen Anteil an weltweiter Meinungsbildung zurück. Klingt es noch recht gut, dass mehr als 31000 Zugriffe zu einem Blog erfolgten, so relativiert sich die Zahl beträchtlich, wenn man sie auf die 621 Tage seit dem 19. 10. 2007 verteilt, für die sie ausgewiesen wurden. Dann kommt im Schnitt nur eine zweistellige Ziffer im mittleren Bereich heraus – kaum mehr also, als vom beliebigen Hobby eines Freundes Kenntnis nehmen.
Und doch ist Bloggen mehr als das – allein dadurch, das es inzwischen von Millionen gleichermaßen betrieben wird. Die große Zahl der Beteiligten schafft Vielfalt, reduziert die Fehlerquote und bürgt so für Qualität. Und wenn da doch ein Rest von Unwägbarem bleibt, ist er allemal weniger problematisch als das Maß von Manipulation, das gesteuerte Information und Argumentation aufweisen. Denn kein Blog drängt seine Meinung als eine unbezweifelbarer Objektivität auf, wie es traditionelle Medien gern tun. Blogs und ihre Posts sind Angebote zur kritischen Prüfung, zum Vergleich mit anderen Texten. Sie verlangen den denkenden Leser, den prüfenden Rezipienten, einen, der aus der Vielfalt des Gebotenen das eigene Bild destilliert. Das ist anstrengend, mühsam gar, führt aber allein zu realitätsnahem Wissen und einer belastbaren Weltsicht. Iran hat dieser Tage einen hoffnungsvollen Beweis dafür geliefert. Die Blogosphäre hat ihre Leistungsfähigkeit demonstriert. Den etablierten Journalismus abzulösen, wie mancher Unkenruf bereits glauben machen will, beabsichtigt sie damit nicht – aber vielleicht trägt sie dazu bei, dass sich die Medienmacher angesichts dieser Konkurrenz wieder mehr auf ihre Verantwortung und ihre besten Traditionen besinnen.