Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es, und wenn, dann nur als Farce. Das könnte sich demnächst in den USA bewahrheiten, wo Präsident Barack Obama dabei ist, den Vertrauensvorschuss seiner Wähler deshalb zu verspielen, weil er kein Mittel gegen deren vorhersehbare – und von seinen Gegnern aggressiv geschürte – Verunsicherung findet. Zwar lassen sich Menschen, zumal wenn ihnen die Politik seit Jahren nur Misserfolgserlebnisse bescherte, gern von charismatischen Gestalten mitreißen, versprechen diese schnell und nachhaltig grundlegende Veränderungen. Aber sobald die Konsequenzen des tiefgreifenden Kurswechsels sichtbar werden, brechen oft Ängste auf – mit der Folge, dass eben noch begeisterte Mitläufer des Heilsversprechers unversehens von der Fahne gehen. Das musste vor zwanzig Jahren in Moskau Gorbatschow erleben; förmlich über Nacht verlor er seine Anhängerschaft – und in der Folge die Sowjetunion ihren Supermacht-Status. Angesichts solcher Perspektiven schwankt der Betrachter der aktuellen amerikanischen Entwicklungen allerdings unentschieden zwischen Hoffen und Bangen.
Ohne platten historischen Analogien das Wort reden zu wollen, sind doch einige Parallelen der späten sowjetischen wie der jüngsten amerikanischen Vorgänge offensichtlich. Die UdSSR der 70er und 80er Jahre war erst von der realitätsfernen, dogmatischen Politik der Breschnew-Ära und dann von der Agonie der Parteigerontokratie geprägt. Eine Herrschaft Seiner Senilität gab es zwar in den USA nicht, doch in punkto Realitätsverweigerung und Voluntarismus stand die Bush-Administration dem KPdSU-Politbüro der Breschnew-Zeit kaum nach. Beide wollten – bei allen Unterschieden in Philosophie und Vorgehen – die Welt nach ihrem Bilde formen. Beide sind gescheitert – und auf beide folgten Führer, die eine grundlegende Umorientierung der Politik für nötig hielten und sie in Angriff nahmen. Beide mit großem Elan und zunächst auch mit der Zustimmung einer großen Mehrheit ihrer Völker.
Gorbatschow hat das wenig genützt, denn mit dem Totalumbau der Gesellschaft gingen auch jahrzehntelang eingeübte Gewissheiten verloren; der machtbesessene Jelzin nutzte dies, um sich selbst an dessen Stelle zu setzen – allerdings ohne eigener Konzept außer dem persönlichen Ehrgeizes. Darauf allerdings lässt sich kaum reduzieren, was derzeit hinter der inneramerikanischen Angriffe auf Barack Obama steht. Zwar ist das Muster ähnlich; auch der US-Präsident ist daran gegangen, eine Politik, die sich – nicht zuletzt vor der Hintergrund amerikanischer Interessen – als absolut kontraproduktiv erwiesen hat, zu ändern. Doch gerade diese Politik war – spätestens seit Nixon – US-Staatsräson und damit über Jahrzehnte tief ins Bewusstsein der amerikanischen Gesellschaft eingebrannt worden.
Darauf bauen die Rechtskonservativen der USA, die sich nicht auf Bush und seine Mannschaft reduzieren, sondern ihre stärkste Kraft im militärisch-industriellen Komplex haben, der den Kriegskurs nach dem Niedergang der Sowjetunion verschärfte, um den USA die alleinige Weltherrschaft zu sichern – im Inneren verbunden mit dem Abbau demokratischer Rechte und der uneingeschränkten Entfesselung des Finanzkapitals. Der Widerstand gegen die Gesundheitsreform ist nur ein – wenn auch sehr wichtiger – Teil des Kampfes um Fortsetzung dieser strategischen Linie. Skrupellos nutzen die rechtskonservativen Ideologen die Verunsicherung vieler US-Amerikaner über Obamas »Perestroika« für ihre Zwecke aus.
Noch ist dieser Kampf nicht entschieden. Noch kann es dem Präsidenten gelingen, seine Anhängerschaft gegen die Vertreter des Gestern zu mobilisieren – wenn er weiter entschlossen Kurs hält und sich sein Programm nicht durch faule Kompromisse verwässern lässt. Noch aber besteht auch die greifbare Gefahr, dass er dazu nicht die Kraft oder nicht den letzten Willen hat und deshalb unterliegt und damit das Schicksal Gorbatschows teilt; die Folgen einer solchen Entwicklung für die ganze Welt wären unabsehbar.
Ein Unterschied zwischen Gorbatschow und Obama ist: Obama will die Gesellschaftsordnung der USA bewahren und zu dem Zweck allenfalls die eine oder andere ihrer miesesten Seiten schoenen. Gorbatschow hat zwar auch behauptet, die Gesellschaftsordnung der SU bewahren und verbessern zu wollen, aber „hinterher“ die Katze aus dem Sack gelassen: Er sei schon immer Sozialdemokrat gewesen und habe die sowjetische Grundordnung beseitigen wollen. Das war der wirkliche Zweck von „Glasnost“ und „Perestrojika“.
Analogien zwischen der Endzeit der SU und der heutigen Lage der USA lassen sich aber tatsaechlich herstellen. Die politische/wirtschaftliche Fuehrung des Landes erhebt einen Anspruch auf eine Rolle in der Welt, die ihren tatsaechlichen Moeglichkeiten immer mehr widerspricht. Die USA haben den Zenith ihrer Macht ueberschritten. Um 1950 herum war ihr Anteil am Welt-BIP nicht weit unter 50 %, heute ist er nur noch halb so gross. Das laesst sich auf Dauer nicht mit Militaer und Hegemonialpolitik kompensieren.
Obama wird aber, scheint mir, nicht der Mann sein, der die realen Moeglichkeiten und die illusionaeren Ansprueche in Uebereinstimmung bringt. Dazu braeuchte es ein Umdenken einer Mehrheit der Oligarchie, das vielleicht allmaehlich in Gang kommt, aber noch laengst nicht „mehrheitsfaehig“ ist. – Obama ist vielleicht, „bestenfalls“, in dieser Hinsicht ein „zu frueh gekommener Gorbatschow“ – aber im Gegensatz zu diesem ein aufrechter und ehrlicher Verteidiger der US-Gesellschaftsordnung.
Nicht ganz neu, aber wohl immer noch aktuell:
http://www.stern.de/politik/ausland/:Interview-David-Rothkopf-Wir-Ideale-Amerikas/541265.html
Interview mit David Rothkopf : ‚Wir verletzen die Ideale Amerikas‘ – Politik – Extra – STERN.DE
Nun muß Obama zeigen, ob er imstande ist, die den Menschen zahlreich unter den Nägeln brennenden Probleme in den Griff zu bekommen.