Als am 9. November vorigen Jahres überraschend der langjährige DDR-Spionagechef Markus Wolf starb, suchte ein Leser dieses Blogs »unter dem Datum des denkwürdigen 9. Novembers eine Epistel zum Mauerfall und zu dem zeitgleichen Kuriosum, dass der Teufel ausgerechnet an diesem Tag einen bekannten Kochbuch-Autoren zu sich in die Hölle kommandiert hat…« Mir schien, dass sich ein Todesfall selten für eine kurze Minibuch-Eintragung eignet – und das umso mehr, weil ich zusammen mit dem inzwischen leider verstorbenen Klaus Rösler bereits 1992 einen ausführlichen Text über Wolf verfasst hatte. Der – veröffentlicht in dem Büchlein »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report« – erscheint mir noch immer gültig, weshalb er heute, dem Tag, an dem Markus Wolf 84 Jahre alt geworden wäre, noch einmal publiziert werden soll.
Überlebensgroß – Markus Wolf
Als am 6. Februar 1987 das damalige SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« – verpackt in eine Meldung über Auszeichnungen und Ehrungen »verdienter Tschekisten« aus Anlass des 37. Jahrestages des MfS – berichtete, Generaloberst Markus Wolf scheide »auf eigenen Wunsch aus dem aktiven Dienst im Ministerium für Staatssicherheit« aus, führte diese Meldung vor allem im Westen zu vielfältigen Spekulationen. Denn bisher galt für hohe Funktionsträger der DDR, dass sie gewissermaßen »in den Sielen« sterben; ein vorzeitiger Abgang signalisierte in der Regel, sie seien in Ungnade gefallen.
Im Falle von Markus Wolf enthielt diese Version zwar auch ein Körnchen Wahrheit, aber die Gründe für seine Demission lagen tiefer. Sie ergaben sich wohl aus der großen Desillusionierung, die den mehr als dreieinhalb Jahrzehnte unangefochtenen Chef der DDR-Aufklärung spätestens in den 80er Jahren heimgesucht hatte. Immer mehr erkannte er, ein scharfsichtiger, zur Analyse fähiger und weit in die Zukunft denkender Geistesmensch, dass die Ideale, unter denen er schon in frühester Jugend angetreten war, an der Realität der DDR zerbarsten. Jetzt, wenige Jahre nach dem ihn tief berührenden Tod seines Bruders Konrad, des langjährigen Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, raffte er sich auf, seinem Leben noch einmal eine Wende zu geben. Letzter Anstoß mag die Entwicklung in der Sowjetunion gewesen sein, die unter Gorbatschow eine Richtung einschlug, der er mit seiner undogmatischen Sicht und seinem jedem Tabu abholden Denken leicht zu folgen vermochte. Markus Wolf fühlte sich seinem Bruder Konrad und dessen Vermächtnis verpflichtet; er wollte auch einen Beitrag zur Würdigung des Vaters, des Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf, leisten.
Im MfS, dem von Erich Mielke beherrschten Apparat, war das nicht möglich. Er musste ihn verlassen, um Freiräume zu gewinnen. Aber er wollte doch an ihn insoweit gebunden bleiben, dass der Zugriff zum nachrichtendienstlichen Wissen und auch manch liebgewordenes Privileg nicht verloren gingen. Sein Wunsch war zwar ungewöhnlich für den Minister für Staatssicherheit, und er lehnte zunächst rundweg ab. Wolf aber blieb hartnäckig, und da sich sein Begehren letztlich doch mit den insgeheimen Absichten Mielkes traf, der seinen so gründlich verschiedenen Spionagechef nie gemocht hatte, fanden beide einen Kompromiss: Wolf verließ den Posten als stellvertretender Minister und Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, blieb aber ins MfS und seine Parteiorganisation eingebunden. Der Ex-Spionagechef bekam so ein Stück relative Freiheit; sein ehemaliger Dienstherr jedoch behielt die Kontrolle über sein Tun und Lassen.
Diese Entscheidung dürfte Markus Wolf nicht leicht gefallen sein, denn in seinem Innersten war er stets ein autoritätsgläubiger Mensch. Der im Januar 1923 geborene kam schon als Elfjähriger mit seinen Eltern in die Sowjetunion. Sein Vater Friedrich Wolf, der linke Schriftsteller jüdischer Herkunft, musste Deutschland nach dem Machtantritt der Nazis verlassen. In Moskau besuchte Markus ebenso wie sein Bruder Konrad zunächst die deutsche Karl-Liebknecht-Schule und dann die 110. Mittelschule, die den Namen des Naturforschers Fridtjof Nansen trug. Diese Jahre, gekennzeichnet durch die Bindung an die Schutz vor den Faschisten gewährende Sowjetunion und eine Erziehung, die sich kommunistisch nannte, prägten Markus Wolf für sein Leben. Später schrieb er über die widersprüchlichen Moskauer Jahre: »Willkür, Ungerechtigkeit und Grausamkeit passen so gar nicht zu all dem, was wir von unseren Eltern, unseren nächsten Freunden, in der Schule, in den von uns geliebten Filmen und Büchern über die Revolution, über die Ziele ud Ideale des Kommunismus erfahren und tief in unser junges Bewusstsein aufgenommen haben. Wir begannen schon früh, in den Büchern von Marx, Engels und Lenin (wohl auch Stalin – d. Verf.) zu lesen. Deren Ideen sind für uns lebendig in dem Land, das uns immer mehr zur Heimat wird, das wir lieben, dessen Menschen unsere Freunde sind und bleiben, dessen Sprache und große Kultur wir immer besser beherrschen und schätzen lernen.« Weder die spätere Aussiedlung nach Kasachstan noch die auch von ihm nicht mehr geleugneten Verbrechen Stalins erschütterten sein Vertrauen in das Sowjetland. Auch später glaubte Wolf stets an das, was aus Moskau kam, nahm er unkritisch hin, was in den dortigen Zeitungen stand und auch, was ihm die Vorbilder aus dem KGB als notwendig und nützlich für die operative Arbeit beschrieben. Bis fast fünf nach Zwölf folgte er den Empfehlungen seiner früheren Kollegen oder alten Freunde – hießen sie nun Krjutschkow oder Falin, Der Widerspruch zwischen Wissen und emotionaler Bindung führte zu einer Bewusstseinsspaltung, die rational kaum nachvollziehbar ist.
Dies und die früh erfolgte Prägung auf Autoritäten – den Vater, den er noch jetzt wie ein Kind Paps nennt, die Lehrer in Moskau, die kommunistischen Erzieher auf der Komintern-Schule, die er 1942/43 besuchte, und später eben Ulbricht und Mielke – ermöglichte ihm die Loyalität zu einem System und Personen, die seiner innersten Mentalität zutiefst widersprachen. Obwohl seine Liebe dem Journalismus gehörte und er nach der Rückkehr nach Deutschland von der Gruppe Ulbricht auch zunächst im Berliner Funkhaus an der Masurenallee eingesetzt wurde, folgte er doch willig dem »Ruf der Partei«, die ihn zunächst als Diplomaten an die nach der Gründung der DDR 1949 in Moskau eröffnete Botschaft versetzte, um ihn schon bald zur Übernahme einer besonders delikaten Aufgabe zurückzuholen. 1951 gehörte er zu jenen, die mit dem Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung den Vorläufer der späteren DDR-Spionage aufbauten.
Die relative Selbständigkeit, die er dabei unter der Oberherrschaft des Außenministeriums genoss, war von kurzer Dauer. Schon 1955 wurde die Aufklärung Bestandteil des Ministeriums für Staatssicherheit, erst unter Wollweber und seit dem 1. November 1957 unter Mielke. Wolf ordnete sich dem unter, war jedoch stets bemüht, für die HVA ein gewisses Maß an Selbständigkeit zu erhalten. Zwar mussten dabei immer wieder Kompromisse gemacht werden, aber anfangs gelang es durchaus, den Sondercharakter der Aufklärung zu betonen. Dabei halfen Wolf die unbestreitbaren Erfolge seiner Kundschafter und die Linie Ulbrichts, Mielke mit seinem Apparat nicht zu stark werden zu lassen. Der Umschwung kam Anfang der 70er Jahre. Damals – 1971 war Honecker an die Spitze der Partei getreten – wurde der Minister für Staatssicherheit Kandidat des SED-Politbüros und zog damit in den obersten Machtzirkel ein. Zugleich verlor die Spionage – wie dargestellt – aufgrund der weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR an Exklusivität und Einfluss. Mielke gelang es, diesen Vorteil zu nutzen. Er unterband in den Jahren darauf konsequent jeden Versuch Wolfs, selbst einen Draht in die SED-Spitze zu schalten. »Er verlegte mir stets alle Wege in das Zentralkomitee«, schilderte der HVA-Chef später die Situation; selbst als solche Verbindungen dann unumgänglich wurden, »beauftragte er damit meinen Stellvertreter«.
Die immer widersprüchlichere Entwicklung in der DDR ermöglichte es Mielke außerdem, sich und seinen Apparat unersetzlich zu machen. Sein Sicherheitsdenken lief darauf hinaus, alles unter Kontrolle zu haben – was den ständigen Ausbau des MfS erforderte. Da war es selbstverständlich, dass sich alle seine Teile, die HVA eingeschlossen, der »Gesamtaufgabenstellung« unterzuordnen hatten. Und so mussten Aufklärungsoffiziere dabei helfen, die Protokollstrecke bei Staatsbesuchen zu sichern, mischten sie sich befehlsgemäß unter die Zuschauer bei Spielen des BFC Dynamo, saßen in Einsatzstäben während »gesellschaftlicher Höhepunkte« usw. Wolf besaß nicht die Kraft, sich diesen Forderungen seines Ministers zu entziehen; er betrachtete sie als notwendige Übel, über die Diskussionen nicht sinnvoll seien. Und wenn er doch einmal Widerspruch einlegte, rief ihn Mielke sofort zur Ordnung. Nicht selten musste sich Wolf am Telefon oder auch in aller Öffentlichkeit demütigen lassen, indem ihn Mielke irgendeiner Nichtigkeit wegen angriff oder mit plumpen Geistreicheleien ins Unrecht zu setzen versuchte. Wolf beschrieb das als »übermäßige, in den letzten Jahren ins Unerträgliche gesteigerte Egozentrik«.
Die Rivalität der beiden war im MfS kein Geheimnis – und auch nicht die Meinung, die Markus Wolf von Erich Mielke hatte. Er verachtete ihn. Doch das hinderte den berühmten Spionagechef nicht, sich vor ihm wie ein Wurm zu winden, wenn es ihm opportun erschien. Mancher mag zwar aus dem penetranten Lob, das Wolf bei solchen Gelegenheiten über Mielke ausgoss, die Ironie herausgehört haben, aber in dem herrschaftsgläubigen Apparat des MfS wurde es zumeist ernst genommen, und distanzierende Bemerkungen des HVA-Chefs über seinen Vorgesetzten an anderer Stelle stifteten so mehr Verairrung als Klarheit. Sie trugen Wolf schnell den Vorwurf ein, er sei arrogant und »ein intellektueller Spinner«. Tatsächlicher Widerstand gegen den Herrscher über 85000 MfS-Mitarbeiter war daraus nicht abzuleiten; bis in den Herbst 1989 hinein unterwarf er sich seinen Weisungen, obwohl er ihm formell gar nicht mehr unterstellt war. Heute fragt er sich wohl zurecht, »ob das, was ich tat, nicht viel zu zaghaft, zu zahm, viel zu spät gedacht und begonnen war.«
Die »Zivilcourage«, die sein Vater den Söhnen in einem Brief an Konrad Wolf anempfohlen hatte – »das heißt, in allen wichtigen Dingen seine Überzeugung zu vertreten und seine Meinung zu sagen! Das kann einen gewiss manchmal bei kleinen Geistern missbeliebt machen; aber letzten Endes ist es das richtige, hat auch den Aufrichtigen niemals gereut« –, er ließ sie lange vermissen.
Erst am 4. November 1989 fand er auf dem Alexanderplatz den Mut, sich den dort versammelten 500 000 Demonstranten zu stellen. Aber das erwies sich als ein grandioses Missverständnis. Er, der aufgrund vorsichtiger Kritik am Stalinismus und seinem Nachfolgeregime in der DDR in den ersten Monaten des Wendejahres noch als »Hoffnungsträger« gegolten hatte, wurde nun ausgepfiffen. Die Entwicklung war auch über ihn hinweggefegt, und später bekannte er seinen Irrtum: »An jenem Tag glaubte ich, meinen Weg von Stasigeneral zur Fürsprecher von Glasnost und Perestroika gegangen zu sein. Dass mich die Entwicklung der Dinge zu meiner Verantwortung für die Vergangenheit zurückholen würde, zu der ich mich auf dem Platz bekannt hatte, ahnte ich damals nicht.«
Mehr noch: Das Scheitern der DDR war für Wolf zu jenem Zeitpunkt noch kein Thema. Er sah zwar, dass die bisherige Politik ausgespielt hatte, nicht jedoch, dass es mit dem Sozialismus in Deutschland endgültig zu Ende war – ebenso wie er Monate später das Ende der Sowjetunion nicht wahrhaben wollte. Er setzte sich vorsichtig ab – wohl auch, um die eigene Haut zu retten. Zu echten Konsequenzen war er nicht fähig, aber da stand er nicht allein …
Wie viele von uns – die Autoren rechnen sich ausdrücklich dazu – muss auch er sich den Vorwurf machen, aus Unterwürfigkeit und Beharrung, aus Angst und Feigheit nichts getan zu haben, letztlich erst aktiv geworden zu sein, als es zu spät und wohl auch schon nicht mehr riskant gewesen ist. Die bis zuletzt nicht in Frage gestellte Bindung der Aufklärung an den Repressionsapparat des MfS ist die entscheidende Ursache für die heutige Verfolgung der HVA-Mitarbeiter und auch ihres langjährigen Chefs Markus Wolf. Doch in solchem ängstlichen Zaudern und Zagen liegt – zumindest für Markus Wolf – nicht die ganze Wahrheit. Für ihn war der große und schlagkräftige Apparat, den er in die Hand bekommen hatte und den er zielstrebig – und fast ohne Begrenzungen von außen – ausbaute, zugleich das Mittel, mit dem er seine intellektuellen Entwürfe verwirklichen konnte. Wolf ist ein äußerst kreativer Mensch – wie auch sein Vater und sein Bruder. Aber während sie ihr Schöpfertum auf künstlerischem Gebiet auslebten, hatte er sich für jene politische Aufgabe entschieden, durch die sich Ideen und Phantasie in ganz eigener Weise materialisieren ließen. Sein früherer Kamerad aus der Gruppe Ulbricht, Wolfgang Leonhard, charakterisierte ihn als »Typ des sehr klugen, ruhigen, im Hintergrund stehenden Funktionärs, der alles, was die anderen Genossen ernst nehmen, wofür sie kämpfen, wovon sie begeistert sind, nur als eine große Schachpartie ansieht«.
Die »Schachpartie« des Markus Wolf war die große Politik. Noch heute rückt er nicht von jenem übergeordneten Auftrag für alle DDR-Spione ab – nämlich »der rechtzeitigen Aufdeckung gefährlicher Überraschungen für die DDR«, obwohl er doch die schließlich entscheidende »Überraschung«, dass sich das Volk total von seiner Führung abwendet, nicht sah. Noch heute bewertet er den Einfluss seines Dienstes auf die politische Nachkriegsentwicklung hoch: »Ohne die Arbeit der Nachrichtendienste wäre die deutsch-deutsche Friedenspolitik schwerlich möglich gewesen.« Und: »Die Tätigkeit der HVA hat dazu beigetragen, dass es in Europa eine so lange Friedenperiode gab.« Für diese Auffassung spricht manches, aber über ihre Richtigkeit wird letztlich erst die Geschichte entscheiden. Für Wolf war sie jedoch eine persönliche Überzeugung, die im Entspannungsprozess, der sich in Europa – bei allen Rückschlägen – seit Mitte der 70er Jahre vollzog, ihre Bestätigung fand. Gerade daraus ergab sich für ihn die Faszination seiner Arbeit – aus dem Hintergrund, unerkannt, aber wirksam nahm er Einfluss auf Geschichtsabläufe.
1953 warb er den Foto-Großhändler Hanns-Heinz Porst an; nicht weil dieser ihm aus seiner Branche besondere Geheimnisse verraten konnte, sondern aufgrund seiner politischen Haltung und der Affinität zur FDP, in die er bald danach eintrat. Als Porst später enttarnt wurde, formulierte die Anklageschrift seine Aufgabe so: »Auf Weisung des MfS bemühte er sich ab Februar 1955 mit Erfolg in der Freien Demokratischen Partei (FDP) der Bundesrepublik um eine zentrale Stellung, in der er dem MfS geheimen Zugang zu wichtigen Erkenntnissen über die politischen Bestrebungen der FDP-Führung und schließlich auch über die von der FDP mitverantwortete Politik der Bundesregierung eröffnen und gleichzeitig Einfluss auf die entsprechenden partei- und staatspolitischen Entscheidungen verschaffen könnte.« Und seine Richter befanden: »Porst war ein äußerst gefährlicher Einflussagent und Informationsbeschaffer sowie eine Zentralfigur im Nachrichtenspiel des MfS.« Später war es Guillaume, der ihm das prickelnde Gefühl gab, mehr zu wissen als der Bonner Kanzler und der eigene SED-Chef zusammen. Trotz der großen Gefährdung des Spions an seinem sensiblen Platz neben Brandt und der damit verbundenen politischen Risiken beließ er ihn dort, denn so glaubte er mitspielen zu können im Konzert der Großen.
1978 reiste er gar inkognito nach Schweden, um sich mit dem bayerischen SPD-Landtagsabgeordneten Friedrich Cremer zu treffen. Auch dieser galt weniger als Spion denn als ein Mann, über den die Politik der Bundesregierung beeinflussbar sein könnte. Und als die Grünen ins Bonner Parlament einrückten, galt es, auch in ihren Reihen Prominente zu gewinnen, die politische Ideen unauffällig umsetzten.
Wolf verstand sich so als Moderator politischer Entscheidungen, und er nutzte dazu den Geheimdienst mit seinen vielfältigen Möglichkeiten. Sie reichten von der unverbindlichen Diskussion über das insistierende Gespräch bis hin zur Desinformation – und all das war stets verbunden mit der Gewinnung von Informationen, die ihrerseits wieder im nachrichtendienstlichen und politischen Spiel eingesetzt werden konnten. Es war kein Zufall, dass sich Wolf die für aktive Maßnahmen zuständige Abteilung X direkt unterstellte, bot sie ihm doch die Möglichkeit, durch Lancierungen in die Medien Wirkung zu erzielen. Nicht wenige der später von von großen Magazinen, aber auch Informationsbulletins der parlamentarischen Opposition bereitwillig übernommenen politischen Enthüllungsstories sind an seinem Schreibtisch entstanden. Ein Beispiel dafür ist der Stoltenberg belastende Brief zur Barschel-Affäre. Andere sind angeblich interne Papiere über innerparteiliche »Abweichler« in der Union.
Wolf genoss dabei im Unterschied zu allen seinen Gegnern einen unschätzbaren Vorteil: Er konnte sich auf einen schlagkräftigen Apparat mit beträchtlichem Hinterland stützen und unterlag keinerlei Kontrolle – von Mielke abgesehen, der jedoch dem Ausbau seines Ministeriums, ganz gleich an welcher Stelle, nie Hindernisse in den Weg legte. Er erhielt sogar die Unterstützung anderer. MfS-Bereiche, so der elektronischen Funkaufklärung, durch die Gespräche über das Autotelefon abgehört werden konnten. Da erfuhr er dann Intimitäten, die für klassische nachrichtendienstliche Arbeit kaum von Belang waren und die er heute selbst als »absurd« bezeichnet: »Ich habe solche Dinge im Grunde genommen immer für Spielereien gehalten.« Und dennoch nutzte er sie in seinem Spiel!
Ebenso erlag auch Wolf der mit derart extensiver Aufklärung verbundenen Gigantomanie, zumal diese im KGB ebenfalls gang und gäbe war. Ständig wurden Personal aufgestockt, neue Struktureinheiten geschaffen, der Wirkungskreis der HVA immer mehr erweitert. Noch 1989 gab Wolf der Einweihung einer neuen Schule der HVA im Berliner Vorort Gosen mit seiner Anwesenheit Glanz, wollte er damit seiner gewiss erfolgreichen Praxis den theoretischen Überbau nachliefern und das profane Spionage-Gewerbe zu einer Art Wissenschaft aufwerten. Forschungsbeiräte wurden geschaffen, verdiente Aufklärer wie Wolfs alter Mitkämpfer Horst Jänicke als Berater abgestellt und das große Projekt einer »Geschichte der HVA« in Angriff genommen.
Zu diesem Zeitpunkt dachte Markus Wolf wohl schon über seinen Platz in der Geschichte nach. Denn er wollte zumindest nicht weniger bekannt sein als sein Vater, dessen Stücke hin und wieder noch immer gespielt werden, als sein Bruder, dessen Name als Filmregisseur nach wie vor guten Klang besitzt. Wolf widerspricht nicht, wenn man die Vermutung äußert, John le Carre hätte sich ihn für seinen berühmten Roman »Der Spion, der aus der Kälte kam« als Vorwurf erkoren. Er lächelt auch nur geschmeichelt, wenn Reporter einer großen Illustrierte ihn in einer Kabine des Riesenrads im Wiener Prater interviewen und fotografieren wollen, dem Ort eines geheimen Treffs mit Orson Welles‘ »Drittem Mann«. Und auch seine grotesken Odysseen durch halb Europa sowohl kurz vor dem Ende der DDR als auch jenem der UdSSR verraten mehr Sinn für Dramaturgie und Showeffekte als dass sie sachlich zu begründen wären. Hier mischen sich Sendungsbewusstsein mit Eitelkeit – und diese Melange hat wohl schon oft seine Entscheidungen beeinflusst, nicht immer zum Besten für ihn selbst und die Sache, die er vertrat.
Die Prägung, die Wolf während seiner Jahre in der UdSSR, aber auch im Machtapparat der DDR empfangen hatte, wirkte bis zuletzt. Zwar kehrte er dem MfS den Rücken, verzichtete aber nicht auf Privilegien, die sich aus seiner früheren Stellung ergaben. Mielke selbst unterzeichnete eine »Festlegung« zur »Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für den genossen Generaloberst Wolf zur Verallgemeinerung seiner Erfahrungen und Aufarbeitung seiner Erinnerungen«. Sie ermöglichte ihm nicht nur den weiteren Zugang zu allen Informationen der HVA, sondern bot ihm auch manche Annehmlichkeit, von der seine Mitbürger in der DDR nur träumen konnten. Wolf verteidigte das ausdrücklich als ein Recht, das er sich in langen Dienstjahren erworben hatte.
Das Selbstbewusstsein eines Markus Wolf hat natürlich solide Grundlagen. Er ist eine starke Persönlichkeit, universell gebildet, präzise und analytisch denkend, mit scharfem Gedächtnis und treffsicherem Urteilsvermögen. Seine rhetorische Begabung ist ebenso unbestritten wie seine Fähigkeit, im Gespräch für sich einzunehmen. Die Forderungen, die er an seine Mitarbeiter stellte, waren hoch. Mit Mittelmaß und Routine gab er sich nicht zufrieden. Nicht selten schickte er Vorlagen, vor allem über Werbeeinsätze, mit solchen Bemerkungen zurück wie: »Unter unserem Niveau!« oder »Besser durchdenken!« Informationen, vor allem aber Analysen der Auswertungsabteilung ließ er nur dann passieren, wenn sie tatsächlich neue Gedanken oder Tatsachen enthielten. Und wenn er selbst eine Lageeinschätzung gab, wich diese zwar nicht von den zentralen Vorgaben von SED und DDR-Regierung ab, aber sie zeichnete sich doch durch eine eigenständige, originelle Argumentation aus. Auf der anderen Seite besaß aber auch ein Markus Wolf alle Schwächen des Machtpolitikers. Er war im persönlichen Umgang unnahbar, oft auf subtile Weise überheblich, in der Arbeit kalt und berechnend, den Erfolg nie aus den Augen lassend. Er duldete eine Art Kult um seine Person, den er zwar nicht moralisch missbrauchte, der aber seinem Selbstbild schmeichelte. Er genoss seine Ausnahmestellung und oft auch geistige Überlegenheit, hielt damit jeden, mit dem er umging, auf Distanz, was ihm gewiss bewusst und wohl auch gewollt war. Seine Personalentscheidungen traf er wie jeder Potentat so, dass an seiner Seite keiner zu stark wurde. Später wunderte sich Markus Wolf, dass die von ihm Favorisierten und Geförderten ihn schnell fallen ließen, in der Auseinandersetzung um einige unangepasste Bemerkungen nicht zu ihm standen. Sie waren jene Apparatschiks, die unter seiner Regie nur funktionieren gelernt hatten und nun unter anderer Befehl – das weiter taten. Unabhängige und unbequeme Geister, selbständige Denker, die auch einmal ein Widerwort wagten, zog auch er nicht heran. Insofern geht der weitere Niedergang der HVA nach seinem Ausscheiden aus der direkten Verantwortung nicht zum Geringsten auch auf sein Konto.