Als sich heute vor 20 Jahren in Berlin der Runde Tisch konstituierte, verstand er sich als ein endlich demokratisches Organ der Deutschen Demokratischen Republik. Er wollte Maßnahmen ergreifen, die dem Volk, das sich gerade so nachdrücklich zu Wort gemeldet hatte, eine echte Mitsprache ermöglichten – in freien Parteien, durch freie Wahlen, in einer freien Gesellschaft.
An eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten mögen einige der Teilnehmer der Runden Tisches durchaus gedacht haben, doch als dringende Aufgabe sahen sie das nicht. Ihnen ging es um einen emanzipatorischen Akt; zunächst wollten sie sich ihrer selbst vergewissern – und dann entscheiden, wie es mit ihrem geteilten Land weitergehen soll. Andere, vor allem in der Bundesrepublik, sahen solches Selbstbewusstsein mit gemischten Gefühlen. Die einen wollten die schnelle Einheit aus tiefer Überzeugung, andere – mit ökonomischem Hintergrund – dachten schon an die Gewinne, die angesichts der Rezession im Westen aus einem neuen Absatzgebiet zu ziehen seien. Und es gab auch jene, die die neue, originär demokratische Entwicklung im Osten mit Sorge verfolgten. Entwickelte sich hier doch noch jene gesellschaftspolitische Alternative zum bundesrepublikanischen System, die die DDR schon lange nicht mehr war und das man natürlich mit großem Misstrauen betrachtete? Es wurde zwar begrüßt, dass eine Bürgerbewegung das DDR-Regime hinwegfegte, aber für den Westteil des Landes mochte man eine vergleichebare Unruhe nicht.
Einen interessanten Einblick in das durchaus differenzierte Meinungsbild in der Bundesrepublik über den Umgang mit den neuen politischen Kräften in der DDR und die Konsequenzen für den Bonner Staat, gibt eine Korrespondenz, die am 21. November 1989 in der inzwischen eingegangenen Zeitschrift »Die Weltbühne« erschien.
Komplimente für die Konkurrenz?
von Ulrike Forster (Bonn)Die Welt schaut in diesen Tagen fasziniert auf die DDR. Was sich dort seit wenigen Wochen ereignet, wie sich die politische Landschaft von Grund auf verändert, hat wahrlich historische Dimensionen. Darüber kam sogar die oft provinzielle, auf sich selbst und ihre satte Selbstzufriedenheit fixierte bundesrepublikanische Gesellschaft in Bewegung.
Sie spart nicht einmal mehr mit Komplimenten. Plötzlich ist das DDR-Fernsehen interessant. Die Einschaltquoten stiegen sprunghaft, und allenthalben ist das Urteil zu hören, die Sendungen aus Adlershof seien kompetenter, authentischer, einfach richtiger als die Beiträge der jahrelang nochgelobten Korrespondenten von ARD und ZDF. Nun sollen die DDR-Programme in unsere Kabelnetze eingespeist werden, und der mit dem ZDF liierte Privatsender 3 Sät sendet schon täglich eine Aufzeichnung der „Aktuellen Kamera“. DDR-Bürger aller Couleur sind gefragte Gesprächspartner von Zeitungen, Sendern, Politikern. Im ARD-Presseclub am vorletzten Sonntag waren gleich drei DDR-Journalisten vertreten. Der jahrelang übel beleumdete „Trabi“ wird fast zu einem Kultfahrzeug. Die Hamburger Dayidswache auf der Reeperbahn meldete am ersten Tag nach der Öffnung der Mauer bereits den Diebstahl eines solchen Gefährts, und das Kölner Stadtmuseum kaufte einen der in Zwickau gebauten Kleinwagen, um ihn als „Dokument deutscher Geschichte“ in seine Sammlung aufzunehmen.
Vor allem aber begeistert alle jene hier, die dafür noch ein Gespür haben, das Selbstbewußtsein, die Kompromißlosigkeit und zugleich die Besonnenheit, mit denen die DDR-Bürger ihre Rechte einfordern, mit der sie das ihnen jahrzehntelang theoretisch vermittelte sozialistische Ideal zur Realität werden lassen wollen.
Antje Vollmer von den Grünen nannte das, was in der DDR entsteht, „die erste selbsterkämpfte Demokratie auf deutschem Boden“, und der Westberliner Regierende Bürgermeister Momper bezeichnete die Entwicklung, die in der Gewährung eines freien Reiseverkehrs ihren ersten Höhepunkt fand, als eine „friedliche demokratische Revolution“.
Zugleich melden sich hier jedoch auch diejenigen zu Wort, die sich nun einer Wiedervereinigung ganz nahe wähnen, die — wie die „Frankfurter Rundschau“ bereits im September schrieb — „aus den Reformbewegungen im Osten die illusionäre Hoffnung schöpfen, doch noch den kalten Krieg der fünfziger Jahre gewinnen und den politischen wie territorialen Sieg über den Sozialismus feiern zu können“. Sie reichen von ganz rechts, von den Republikanern, über die CSU (deren Europa-Abgeordneter Otto von Habsburg forderte, eine „ganz konkrete Strategie für die Wiedervereinigung Deutschlands“ zu entwerfen) bis ins Regierungszentrum und hört auch bei der SPD nicht auf. So sieht Bundeskanzler Kohl weniger denn je Grund, sich „mit der Zweistaatlichkeit Deutschlands abzufinden“, wie er am 8. November im Bundestag erklärte. Bei den Sozialdemokraten gibt es eine Strömung, die das in Arbeit befindliche SPD-Grundsatzprogramm in puncto „deutsche Frage“ ergänzen will.
DDR-Staatsratsvorsitzender Egon Krenz hat dazu bei seinen Telefongesprächen mit Helmut Kohl erklärt, „was der Kanzler denke und sage, sei dessen Sache“; für ihn, Krenz, sei Wiedervereinigung „kein Thema, das auf der Tagesordnung steht“. Er befindet sich damit wohl auch in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Bundesbürger, die das kurzschlüssige Denken der Union, Selbstbestimmung der DDR-Bürger wäre identisch mit deren Wunsch nach schneller Vereinigung mit der Bundesrepublik, für wenig realistisch halten. Die Pfiffe, die der Kanzler am 10. November vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin — ganz im Gegensatz zu Willy Brandt, Momper und Genscher — zu hören bekam und die sich noch steigerten, als dort die bundesdeutsche Hymne angestimmt wurde, sollten ihn eines Besseren belehrt haben.
Sogar austseiner eigenen Partei kommen andere Stimmen, so die des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der überzeugt ist, daß die Mehrheit der DDR-Bürger eine Wiedervereinigung im Sinne eines „reinen Anschlusses“ an die Bundesrepublik nicht wünscht. Und nach Meinung des CDU-Vorstandsmitgliedes Biedenkopf müsse „aus grundsätzlichen Erwägungen der Selbstbestimmung“ das Recht der DDR-Bürger gesichert sein, „den nach vierzigjähriger Unfreiheit gewonnenen Gestaltungsraum nach eigenem politischen Willen und Ermessen auszufüllen“!
Diese DDR-Bürger halten offensichtlich wenig von einer Rückkehr in den Schoß eines „großdeutschen Reiches“. Dazu muß man nicht Krenz und die SED zitieren. Die Opposition denkt in diesem Punkt ebenso. Bärbel Bohley vom Neuen Forum sagte dem Pariser „Figaro“: „Nach 40 Jahren gibt es zwei verschiedene Gesellschaften. Die westdeutsche Lebensweise ist uns ganz und gar fremd. Wir sprechen die gleiche Sprache, das ist alles. Die glänzenden Jahre Deutschlands sind nicht die, in denen es vereint war.“ Ulrike Poppe von der Gruppe „Demokratie jetzt“ antwortete der „Stuttgarter Zeitung“ ganz ähnlich: „Eine Wiedervereinigung, bei der wir an die Bundesrepublik angegliedert werden, würde wieder Fremdbestimmung bedeuten. Wir müssen unsere Reformen erst einmal allein machen.“
Nachdenklichere Politiker hierzulande reflektieren in diesem Sinne bereits ernsthaft darüber, was eine attraktive DDR für die Bundesrepublik bedeuten könnte. Der schon zitierte Biedenkopf jedenfalls hält es angesichts mancher hiesiger Fehlentwicklungen für wichtig, „auch die Möglichkeit einer Entwicklung freiheitlicher Alternativen zu Gestaltungsformen und Institutionen offenzuhalten, wie sie in der Bundesrepublik entstanden sind“. Andere gehen noch weiter und schätzen die Aussichten des westlichen deutschen Staates in einem solchen Wettbewerb langfristig durchaus nicht rosig ein. „Sollte in der DDR aber tatsächlich aus dem Sozialismus Stalinscher Prägung eine Art demokratischer Sozialismus werden, stellen sich für die Gesellschaft der Bundesrepublik ganz andere Fragen“, sinnierte die „Frankfurter Rundschau“ am 4. November und fuhr dann fort: „Was aber, wenn dieser Sozialismus mit menschlichem Antlitz die bundesdeutsche Gesellschaft von der DDR aus herausfordert?“
Die meisten Linken in der Bundesrepublik jedenfalls hoffen auf eine solche Alternative. Sie stellen schon jetzt die Frage, ob es in Bonn denn möglich wäre, Losungen an das Bundeskanzleramt zu kleben (wie in der DDR-Hauptstadt an Staatsrat oder Volkskammer), ob hier Massendemonstrationen den Sturz der Regierung oder das Auswechseln führender Parteigrößen bewirken könnten, ob die Bundesregierung Forderungen des Volkes überhaupt so ernst nehmen würde, wie es die neue DDR-Führung tut. In der DDR schallte Egon Krenz nicht selten der Ruf von der „Konkurrenz“ entgegen. Kann es sein, daß diese DDR dereinst zur Konkurrenz für das bundesrepublikanische Gesellschaftsmodell wird?
Eine solche Konkurrenz galt es schnell zu verhindern. Das war zumindest eines der Ziele, das die bundesrepubilkanische Politik seit dem Herbst 1989 verfolgte. Helmut Kohl begründete seine Eile hernach stets mit den außenpolitischen Konstellationen, die nur für kurze Zeit das »Fenster der Gelegenheit« öffneten. Da ist gewiss etwas dran, aber genauso wichtig dürfte ihm gewesen sein, die unheimliche Bewegung in der DDR unter Kontrolle zu bringen – und das ging natürlich am besten dadurch, dass man das unruhige Nachbarland so schnell wie möglich an die etablierte Bundesrepublik anschloss. Er konnte dabei freilich – auch dass gehört zur historischen Wahrheit – auf die Sehnsucht einer Mehrheit der DDR-Bürger nach Einlass in den »goldenen Westen« bauen. Und der Kanzler mag geahnt haben, dass auch diesbezüglich das »Fenster der Gelegenheit« nicht ewig würde geöffnet sein.