Zweimal innerhalb weniger Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Entscheidungen getroffen, die allgemein als Ohrfeigen für Parlament wie die inzwischen dahin gegangene schwarz-rote Koalition interpretiert wurden. Bei näherem Hinsehen jedoch fanden sich in beiden Fällen auch Aussagen im Karlsruher Urteil, die von Regierenden wie bedenkenlosen Parlamentariern – nicht zu Unrecht – als Ermutigung aufgefasst wurden, das Misslungene nicht etwa gänzlich aufzugeben, sondern »besser« zu machen. Oder wie es Bundesinnenminister de Maizière nach dem jüngsten Spruch zur Datenspeicherung ausdrückte: »So wie bisher geht es nicht. Aber anders geht es – und … anders muss auch gehen.«
Diese Janusköpfigkeit Karlsruhes, einerseits die allzu forsche Abkehr vom Grundgesetz zu rügen und auch zu korrigieren, andererseits aber die Verfassung vorsichtig durchaus weg von einigen ihrer Ursprungsgedanken zu relativieren und anderes Verfassungsrecht zu schreiben, ist ein durchgängiger Zug vieler Entscheidungen der Verfassungsrichter. Sie selbst bezeichnen dies als »Pragmatismus« und halten solches Vorgehen für legitim. Bereits vor 16 Jahren brachte dies der damalige Direktor des Bundesverfassungsgerichtes, Karl-Georg Zierlein, unmissverständlich zum Ausdruck. Deshalb mag es erhellend sein, die aus dem April 1994 stammende – und bis heute eher noch unterfütterte – Position des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Grundgesetz und »Zeitgeist« noch einmal zu dokumentieren.
Richter zwischen Gesetz und Gebot
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist ein Scharnier für Funktionieren der Staatsmaschinerie
Seit gestern verhandelt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über Auslandseinsätze der Bundeswehr – sowohl über die Beteiligung der Bundesmarine an der Überwachung des UNO-Embargos gegen Rest-Jugoslawien als auch über die Teilnahme deutscher Soldaten an AWACS-Aufklärungsflügen über Bosnien-Herzegowina und schließlich über die Rechtmäßigkeit des inzwischen abgeschlossenen Somalia-Einsatzes der Bundeswehr. In allen drei Fällen geht es um eminent politische Fragen, nicht gerade das tägliche Brot juristischer Koryphäen. Doch die Karlsruher Richter – erstmals unter Leitung ihrer neuen Vizepräsidenten Jutta Limbach tagend – sind solche Aufträge gewöhnt, denn immer wieder wird ihnen zugemutet, über politische Sachverhalte zu entscheiden – vordergründig deren Verfassungsmäßigkeit, jedoch realiter auch ihre politische Zweckmäßigkeit. Derzeit geschieht das so oft, dass der Eindruck entsteht, die Politiker machten ihre Hausaufgaben nicht mehr, sondern ließen sie in der Abgeschiedenheit eines badischen Provinzstädtchens von einem Gremium erledigen, zu dessen Selbstverständnis und fachlicher wie demokratischer Legitimation es viele Fragen gibt. PETER RICHTER suchte an Ort und Stelle nach Antworten.
Der Direktor beim Bundesverfassungsgericht, Dr. Karl-Georg Zierlein, bezweifelt, dass die hochpolitischen Anfragen an das Gericht in jüngerer Zeit tatsächlich nennenswert zunahmen. Es sei von Anfang an so gewesen, dass die unterlegene Seite im Parlament, die Opposition, von ihrer Möglichkeit, nach Abschluss des parlamentarischen Prozesses die Frage der Geltung eines neuen Gesetzes noch einmal aufzuwerfen, Gebrauch gemacht hat. »Und das war und ist gewollt, in der Verfassung so angelegt.«
Kontrollorgan gegen Mehrheitsmissbrauch
Der aus Bayern stammende Jurist nennt einen interessanten Aspekt für die Notwendigkeit einer solchen Berufungsinstanz, wenn er den Verlust parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten beklagt: »Indem sich die politischen Mehrheiten des Parlaments in der Regierung widerspiegeln, hat der Kanzler mit dieser einen starken Partner gerade in dem Organ, das eigentlich die Regierung kontrollieren soll.« Die Mehrheit setze sich am Ende in aller Regel durch – trotz tagelanger Debatten und aller Einwürfe der Opposition. Für diese bleibe »nur das politische Poltern und das Bemühen, selbst einmal an die Macht zu kommen – um es dann ebenso zu machen«. Nicht auszuschließen sei dabei – und Zierlein erinnert an die historischen Erfahrungen gerade in Deutschland –, »dass das gesetzgeberische Ergebnis des Parlaments in Teilbereichen objektiv gesehen Normen der Verfassung widersprechen kann«. Und gerade das mache es so wichtig, »auch das Parlament einer nochmaligen Kontrolle zu unterziehen, freilich beschränkt auf die Frage, ob der von ihm gewollte und in eine Gesetzesform umgesetzte politische Wille der Verfassung entspricht«.
Diese Argumente werden häufig auch als Gründungsmotive für das 1951 geschaffene Bundesverfassungsgericht genannt. Es war als ein Organ für mehr Demokratie gedacht, schon sein äußeres Bild sollte dies demonstrieren. Wohl jeder kennt aus dem Fernsehen jenen so schlichten wie gediegenen holzgetäfelten Saal, in dem die Entscheidungen verkündet werden. Ihn zieren lediglich eine der verblichenen Bundesfahnen, die 1832 auf dem Hambacher Fest – heute als symbolische Stunde für deutschen Einheitswillen und die Forderung nach Volkssouveränität nur noch schwach in Erinnerung – mitgeführt wurden, und eine schwere Holzplastik des Bundesadlers. Die beiden Senate mit jeweils acht Mitgliedern agieren in roten Roben – selbstverständlich keine politische Farbenwahl, sondern eher nostalgische Erinnerung an die Blütezeit eines republikanischen Florenz.
Paragraphen und Pragmatismus
Die Kontrollfunktion der Karlsruher Behörde will ihr Direktor – verantwortlich für den reibungslosen Ablauf der geistigen wie praktischen Arbeitsprozesse – nicht eingeschränkt sehen, schon gar nicht durch Kritik an der Bewertung politischer Entscheidungen in Bonn. »Ich würde es sogar für bedenklich halten«, so Zierlein, »wenn aus Scham, aus Furcht, aus politischen Gründen der Weg nach Karlsruhe nicht mehr gesucht würde. Wenn also die Regierung sagte: Wir fahren eine harte Linie und setzen unsere Mehrheit konsequent ein. Und wenn die Opposition sich dann scheute, das Verfassungsgericht anzurufen.« Das Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung einerseits und einem unabhängigen Gericht, das erstgenannte daraufhin überprüft, ob sie immer im Sinne des Grundgesetzes arbeiten, hält er für unverzichtbar.
Aber zugleich hebt er abwehrend die Hände, wenn das Bundesverfassungsgericht als eine Art Nebenregierung oder überparlamentarische Kammer definiert wird. Nein, es mache sich nicht zum Oberlehrer der Nation, zum Superparlament. Die nachträgliche Kontrolle sei keine politische Einflussnahme – »etwa in dem Sinne, dass das Gericht politische Intentionen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren hätte«. Für die. Verfassungsrichter könne nicht maßgeblich sein, ob sie das politische Ergebnis für optimal hielten, ob es möglicherweise ein anderes, besseres politisches Konzept gebe. Entscheidend sei allein, dass das von der Politik gefundene Ergebnis auf dem Prüfstand der Verfassung besteht.
Allerdings kann auch Dr. Zierlein nicht leugnen, dass es Fälle gibt, in denen Karlsruhe durchaus politische Erwägungen neben seinen Paragraphen ins Kalkül zieht – vorgeblich aus Pragmatismus, doch dieser kommt nun einmal in der Regel zumeist den jeweils Regierenden zugute. Die Entscheidung über »out of area«-Einsätze, mit den Anhörungen dieser Woche eingeleitet, wird natürlich berücksichtigen, was die Regierung als »Ansehen Deutschlands in der Welt« definiert. Zierlein räumt denn auch ein: »Zuerst ist das Gericht stets bemüht, als alleinigen Prüfungsmaßstab die Normen der Verfassung heranzuziehen. Aber ebenso muss es auch die Auswirkungen einer Entscheidung bedenken, ohne sich dadurch jedoch zum Steigbügelhalter der Politik zu machen.«
Stabilisator von Staat und Recht
Dies ist für das Bundesverfassungsgericht immer wieder eine Gratwanderung zwischen Gesetz und vermeintlich politisch Gebotenem. Zierlein bringt ein anschauliches Beispiel: »Die Nichtigkeitserklärung einer Norm im Steuerrecht könnte zum Beispiel zum finanziellen Zusammenbruch der Bundesrepublik führen. Das muss das Gericht berücksichtigen.« Natürlich hieße das nicht, parteipolitische Gründe einzubeziehen, wohl aber »allgemein-politische, die auch einmal mit parteipolitischen übereinstimmen können«. Für Zierlein soll das Bundesverfassungsgericht »ein Stabilisator sein, Rechtsfrieden und Rechtssicherfheit gewährleisten«.
Wie gesagt, schneidet die Regierung – sie ist in der Vorhand – dabei zumeist besser ab als die Opposition. »Wo für das Gericht plausible Erwägungen des Gesetzgebers erkennbar sind, nimmt es keine Korrektur vor. Denn die faktische rechtliche Gestaltung des Lebens soll in den Gesetzgebungsorganen erfolgen«, sagt der Verfassungsgerichts-Direktor. Wenn die Regierung die Folgen einer bestimmten Maßnahme bzw. ihrer Verweigerung beschreibe, müsse dies das Gericht berücksichtigen: »Das Gericht kann zu der Meinung kommen, dass das, was sich da entwickelt hat, nicht aufgehalten werden sollte – sofern es verfassungsrechtlich zulässig ist. Es wird die Dinge nicht nur juristisch betrachten, sondern auch politisch. Es lebt ja nicht im blutleeren Raum, ist nicht ohne politische Funktionalität.«
„Ja, aber…« als Kompromiss
Mancher vermeint, schon im modern-funktionalen Gebäude des Bundesverfassungsgerichts ein Indiz für solche nicht auf das Juristische reduzierte Identität zu sehen. Vergleicht man es beispielsweise mit Berlins düsterem Justizpalast in Moabit, dann hat es tatsächlich etwas Leichtes und Offenes. Der Berliner Architekt Paul Baumgarten hat es in den Zirkel der weiträumigen Karlsruher Schlossanlage eingeordnet; in der zweiten Hälfte der 60er Jahre entstand hier dieser Komplex aus Glas und hellgrauem Stein, der sich organisch einfügt, von seiner Offenheit jedoch einiges durch die unübersehbaren Sperren des Bundesgrenzschutzes verliert, zumal dessen Späher auch im angrenzenden Botanischen Garten zwischen den Bäumen patrouillieren.
Solcher Widerspruch zwischen idealisiertem Eindruck und profaner Realität zeigt sich auch häufig in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Denn deren Lebensnähe mag angestrebt sein, wird jedoch durch ein 45 Jahre altes Grundgesetz, das nicht einmal im Ergebnis der deutschen Einheit einer Verjüngungskur unterzogen werden konnte, letztlich stets in Grenzen gehalten. Dr. Zierlein möchte das Gegenteil gern an den beiden Karlsruher Entscheidungen zum § 218 nachweisen. Alle Parteien hätten den Schutz des ungeborenen Lebens als Verfassungsgrundsatz betont; der Unterschied läge jedoch in seiner Bewertung im Verhältnis zum anderen Grundsatz der Freiheit und Selbstbestimmung der Frau. Da hätten sich von 1975 bis 1993 durchaus Änderungen der Betrachtungsweise ergeben. Dass ein Schwangerschaftsabbruch weiter als strafbar charakterisiert werden müsse, sei in der Verfassung angelegt, aber ansonsten wäre das Gericht darum bemüht gewesen, »den Schutz des ungeborenen Lebens noch effektiver mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau in Übereinstimmung zu bringen. Da wurden nur einige zusätzliche Punkte gesetzt, erfolgte ein gewisses kleines Nachbessern, eine Verbesserung des ursprünglichen Willens des Gesetzgebers«.
Zierlein, der im Hause als rechte Hand des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gilt, will damit jene »a, aber«-Entscheidungen verteidigen, die so häufig in Karlsruhe gefällt werden: »Ja« zum starren Buchstaben des Grundgesetzes, »aber« mit einer gewissen Berücksichtigung der Tatsache, dass seit 1949 das Leben weiterging und einige zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen wären.
Man kann fast sicher sein, dass manche der in Karlsruhe anstehenden Entscheidungen, so wohl auch zur Behandlung der Spionagetätigkeit der HVA oder der Rechtmäßigkeit des strafenden Charakters der Rentenberechnung für »staatsnahe« Ex-DDR-Bürger, dieser Linie folgen und so etwas wie einen Ausgleich zwischen Verfassungstext und »Zeitgeist« herstellen werden. Nur so könnten Rechtssicherheit und zugleich Rechtsfrieden gewahrt werden. Dr. Zierlein sieht solche Praxis seiner Institution dadurch gerechtfertigt, »dass es aufgrund der Beschlüsse des Gerichts noch nie eine Verfassungskrise gab«.
80 Bände Urteile mal 400 Seiten
Die Liste der noch in diesem Jahr geplanten Entscheidungen umfasst 57 Positionen. Die älteste stammt aus dem Jahre 1985 (!) und betrifft die Verfassungsmäßigkeit des generellen Kirchensteuerabzugs bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes. Insgesamt gingen seit 1951 in Karlsruhe 80 000 Verfassungsbeschwerden ein, täglich mehr als ein Dutzend. 98 Prozent werden jedoch gar nicht erst zur Verhandlung zugelassen; dennoch sind gegenwärtig etwa 2 000 Fälle offen. Die Urteile – Dr. Zierlein zeigt stolz auf die Buchreihe – sind in 80 Bänden zu je 400 Seiten gesammelt: geronnene Normative deutschen Verfassungslebens.
Hier findet sich manche Weiterentwicklung des Grundgesetzes, aber eher ungewollt. »Das Bundesverfassungsgericht greift nicht selbst in das Grundgesetz ein. Über seine Urteile hinaus unterbreitet es keine Vorschläge«, so Zierlein. »Allenfalls gehen die Senate mit ihren Entscheidungen bis zur zulässigen Grenze dessen, was aus der Verfassung abzuleiten ist. Der Gesetzgeber soll so die Möglichkeit erhalten, auch ohne Verfassungsänderung Politik zu machen.«
Das Bundesverfassungsgericht geht mit seinen Kompetenzen vorsichtig um. Am wohlsten fühlt es sich bei der Interpretation des seit langem Gültigen, des Verfassungstextes. Weitaus zurückhaltender agiert es bei der Einflussnahme auf die Gegenwart; hier geht in aller Regel der Blick zum politischen Initiator der Meinungsäußerung voraus. Zur Zukunft schließlich macht es keine Aussage. Sein Geschäft ist der Interessenausgleich im konservativen Sinn, und so ist es tatsächlich Stabilisator staatlicher Macht par excellence.
(Erschienen in »Neues Deutschland« vom 20. 04.1994)