Bärbel Bohley: Ich setze darauf, dass die Menschen sich für sich entscheiden lernen

Gestern fand in der Akademie der Künste in Berlin eine Gedenkveranstaltung für die jüngst verstorbene Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley statt. Heute treffen sich ihre Freunde in der Gethsemanekirche. Sie trauern um eine der wichtigsten Figuren der Wende in der DDR; schließlich war sie es, die die bis dahin überwiegend im verborgenen agierenden Oppositionsgruppen zu einer Massenbewegung machte, die die DDR untergehen ließ. Zwar war sie nicht über jede Entwicklung, die darauf folgte, froh, aber ihr Respekt vor den Menschen, deren Mutbeweisen wie Irrtümern, führte sie weder zu opportunistischer Anpassung noch zu Verbitterung, sondern gaben ihr immer wieder Hoffnung und Kraft, etwas für sie zu tun.

Mit ihrer Meinung hielt sie bis zuletzt nicht hinter dem Berg; unbequem war sie gegenüber Herrschenden, gleich welcher Färbung. Das kam auch in einem Gespräch zum Ausdruck, das am 28. Juni 1990 in ihrer damaligen Berliner Wohnung in der Fehrbelliner Straße stattfand und in dem Buch »Der Untergrund. Die Vorgeschichte der ostdeutschen Revolution« verarbeitet werden sollte. Leider ging das Projekt seinerzeit in den Wendewirren unter, wurde jedoch in großen Teilen an dieser Stelle unter dem Rubrum »Vor 20 Jahren …« veröffentlicht, auch jene Teile, die sich mit dem Wirken Bärbel Bohleys beschäftigen. Als Zeitdokument dürfte jedoch darüber hinaus die vollständige Mitschrift des damaligen Gesprächs von Interesse sein, das unter ein Wort gestellt werden soll, das durchaus  als ihr Credo verstanden werden könnte:

Ich setze darauf, dass die Menschen sich für sich entscheiden lernen

 

Wie und warum kamen sie in der DDR zur Opposition?

Meine Auseinandersetzung mit der Staatsmacht begann mit einer Eingabe gegen das neue Wehrdienstgesetz der DDR, die sich vor allem gegen die Einbeziehung von Frauen in die Vorbereitung der Mobilmachung richtete. Diese Eingabe haben 150 Frauen außerhalb der Kirche unterschrieben. Natürlich kamen wir da in Berührung mit der Stasi, haben aber dennoch eine Gruppe »Frauen für den Frieden« gegründet. Das war zunächst nur eine kleine, ghettoisierte Gruppe. Wie auch Ulrike Poppe kam ich dann ins Gefängnis, für sechs Wochen. Wir wollten etwas für die Menschenrechte tun.

Sie haben trotz der Haft weitergemacht …

Ich bin dann mit anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, zur »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) gekommen. Auch das war damals nur eine kleine, ghettoisierte Gruppe. Die meisten Menschen hatten noch nicht den Mut, ihre Meinung zu äußern und sich in solchen Gruppen zu engagieren.

Nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration 1988 wurden sie erneut verhaftet und sind dann aus der DDR ausgereist, was hier viele nicht verstanden.

Die unbequemsten Geister sollten doch raus. Für mich stand die Frage der Ausreise überhaupt nicht. Ich wollte eine klare Entscheidung des Staates: Entweder richtig und offen rausgeschmissen oder hierbleiben. Der Staat wollte aber Ruhe – und die Kirche letztlich auch. Für die zugesagte Rückkehr nach einem halben Jahr hatten wir nichts Schriftliches, keinerlei Rechtssicherheit.

Welche Rolle spielte die Kirche?

Auch die Kirche war da sehr indifferent. Sie versuchte, dem Staat aus der Klemme zu helfen. Wir sollten weg. Die Kirche und Rechtsanwalt Schnur verhandelten darüber. Wir hatten dabei gar nichts zu sagen. Auch wenn die Kirche vielleicht für uns das Beste wollte, letztlich hat sie uns entmündigt.

Viele Oppositionelle suchten das Dach der Kirche. Vielleicht fürchtete sie um ihre Stellung in der DDR?

Auch das Argument, dass die Kirche an ihre eigenen Arbeitsmöglichkeiten dachte, sticht nicht. Sie hätte sich aus der Sache leicht heraushalten können. Die Demonstration war keine kirchliche Veranstaltung, wir haben auch Bischof Forck nicht einbezogen. Mit ihren Mahnwachen und Andachten hat die Kirche durchaus auch einen gewissen Druck gemacht, aber wenn der ihr zu groß wurde, hat sie gebremst. Und bei diesem Manöver bin ich irgendwo dazwischengeraten und dann rausgefallen.

Sie mussten ausreisen. Viele DDR-Bürger wollten ausreisen, weshalb nicht wenige von ihnen den Kontakt zur Bürgerbewegung suchten, ohne deren Intention, etwas in der DDR zu verändern, zu teilen.

Wenn ich für das Recht eintrete, ist mir egal, was die Menschen damit anfangen wollen, ob sie ausreisen wollen oder hierbleiben, um die Gesellschaft zu verändern. Zu ihrem Recht muss man ihnen verhelfen, aber man darf sie natürlich nicht benutzen, um eigene politische Ziele durchzusetzen. Das galt irgendwie auch für die Ausreisewilligen. Wenn das ihr Ziel war, mussten sie es schon irgendwie selbst bewerkstelligen. Wir hatten genug andere wichtige, wohl auch wichtigere Dinge zu tun. Deshalb war ich dagegen, dass sie uns benutzten, um schneller raus zu kommen.

Zu diesen wichtigeren Dingen gehörte gewiss die Gründung der »Neuen Forum«. Wie kam es dazu?

Als wir nach einem halben Jahr in die DDR zurückkehrten, war mir klar, dass man so wie bisher nicht weitermachen kann. Wir spürten, dass wir uns für einen viel größeren Kreis öffnen und die zahlreichen einzelnen Grüppchen zusammenführen mussten. Das erreichten wir 1989 mit dem »Neuen Forum«, von dem am 10. September der erste Aufruf kam. Später, als immer mehr mitmachten, setzte eine Differenzierung ein; das hing mit den unterschiedlichen Zielen der einzelnen Gruppen zusammen. So ist »Demokratie jetzt« keine Bürgerbewegung, die »Initiative Frieden und Menschenrechte« beschäftigt sich mit einem ganz bestimmten Thema usw. Jeder hatte sein Thema. Das »Neue Forum« wollte die Diskussion in diesem Land. Es versuchte, das gesamte Spannungsfeld zu erfassen, ohne eine Lösung vorzugeben. Wir waren in diesem Sinne eine Provokation und wollten so auch wirken.

Gab es Vorstellungen, wodurch der DDR-Sozialismus ersetzt werden könnte?

In unserem Aufruf fehlt das Wort Sozialismus, aber nicht weil wir den Sozialismus nicht wollten, sondern weil wir erkannten, dass man mit diesem Wort keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken konnte. Wir wollten aber durchaus etwas erreichen, was unserer Vorstellung vom Sozialismus entsprach. Und auch viele andere wollten einen besseren Sozialismus, auch wenn sie das anders nannten. Alle sie wollten wir sammeln, DDR-weit, in allen Altersstufen.

 Hat nicht gerade diese Breite der Bewegung die schnelle Differenzierung zur Folge gehabt, gewissermaßen zwangsläufig?

Die Differenzierung ergab sich vor allem daraus, dass anfangs, als das DDR-System noch bestand, eine Diskussion über das Zusammengehen nicht möglich war. Das verhinderte der Stasi-Druck. Ich habe etwa 30 Leute angesprochen, von denen ich wusste, dass man mit ihnen etwas machen kann, das ganz legal sein sollte. Bei unseren vielen Diskussionen zuvor hatten wir die Erfahrung gemacht, dass oft ewig geredet, alles aufgebauscht wurde, sich einige wichtig machten und zum Schluss der Stasi alles bekannt war und sie es leicht verhindern konnte. Es ging aber nicht um lange Diskussionen, durch die wir der Stasi nur aufgefallen wären, sondern um schnelles Handeln. Bei den 30, so denke ich, war keiner dabei, der so etwas mitmachte, und daher konnte das auch nicht zuvor abgeblockt werden. Genau darum ging es, dass etwas entsteht und nicht vorher abgeblockt wird. Man musste den Ring, den die Stasi um uns gelegt hatte, durchbrechen. Deshalb war es nicht möglich, alles bis ins Einzelne auszudiskutieren; man musste handeln. Daher haben wir unseren Aufruf schnell in die Öffentlichkeit gebracht und uns selbst offiziell angemeldet. Ich wollte etwas machen, was ganz legal sein sollte. »Demokratie jetzt«, die IFM und die SDP haben das nicht gemacht. Nur wir haben uns angemeldet.

Aber auch jetzt, wo das Stasi-Druck weg ist, findet die Bürgerbewegung nicht zusammen …

Es gibt auch jetzt keine Einheit, aber wir wollen ja auch keine Einheitspartei. Der Hauptgrund aber ist, dass Einhelligkeit bei uns eigentlich nur in der Frage bestand: Es muss jetzt hier anders werden. Nie haben wir uns darüber verständigt, wie es werden muss. Das war ein Nachteil aller unserer Bewegungen in den letzten Jahren. Sie haben stets mehr eine Anti-Position entwickelt als eine Position für etwas. Darüber gab es viel zu wenig Auseinandersetzung, wegen des Drucks des Staates, später auch der ungenügenden Zeit. Das sehe ich als den großen Knackpunkt an. Wir sahen die Zukunftsaufgaben nur allgemein in Reformen, mehr nicht. Wir strebten keine Differenzierung an, sondern verstanden uns als offen für alle, für SED-Mitglieder und für Parteilose, für jeden, der unseren Aufruf unterschreiben wollte. Deshalb haben wir auch der SED einen Brief geschrieben; wir wollten alle einbeziehen, keinen ausschließen. Wir wollten auch den Staat nicht zu Fall bringen. Wir wollten ihn verbessern. Die Entwicklung, die das auslöste, konnten wir nicht erwarten.

Dennoch werden jetzt auch vom »Neuen Forum« Konzepte für die Zukunft erwartet. Hat es ein Programm für die Umgestaltung der DDR. Setzt es der SED-Ideologie eine eigene entgegen?

Das Ziel unseres Wirkens ist der mündige Mensch. Das schließt in unserer gesamten politischen Arbeit ein, dass man die Meinung des anderen respektiert. Uns geht es darum, dass alle sich zu Rebellen entwickeln, nicht zu Revolutionären. Sich zu wehren ist für mich das Größte. Wenn die Menschen ermutigt werden, sich zu wehren, wenn sie es lernen, sich zu wehren.

Was bisher erreicht wurde, haben die Bürgerbewegungen gemacht – und zwar ganz ohne Ideologie. Wozu sollten wir Ideologie in Zukunft brauchen? Wir haben praktische Arbeit gemacht, ohne Ideologie – na, und? Das »Neue Forum« hat keine Ideologie., sondern ist in seinen Meinungen so breit, dass sich einige auch über die gegenwärtige Entwicklung freuen, ich allerdings nicht. Dass das »Neue Forum« keine Ideologie hat, ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche.

Sie sind unzufrieden mit der gegenwärtigen Entwicklung?

Was wir jetzt haben, muss uns nicht deprimieren. So schwierig und für manchen unbefriedigend das hier jetzt ist, so hat es doch auch eine große Chance in sich. Auch die alte Bundesrepublik wird sich verändern. Sie denkt vielleicht, sie könnte einfach so expandieren, aber 16 Millionen DDR-Bürger sind nicht so einfach zu vernaschen. Insofern ist dieser Aufbruch eben auch eine große Chance. Wenn man ehrlich ist und wirklich an den mündigen Menschen glaubt, dann muss man ihn auch in den Augenblicken seiner Unmündigkeit ernst nehmen, muss man auch akzeptieren, wenn er nicht so reagiert, wie man es vielleicht möchte, wenn er vielleicht nichts weiter als aus der Scheiße raus will. Das bedeutet für mich eigentlich nur, dass man sich jetzt in einen Lernprozess begibt, aus dem jeder garantiert anders rauskommt als er reingegangen ist. Ich setze darauf, dass die Menschen lernen, dass sie sich für sich entscheiden lernen.

Daraus klingt Enttäuschung. Sind Sie mit Ihren Zielen gescheitert?

Zu sagen, die Leute sind zu blöd, ist mir zu einfach. Vielleicht könnte man uns sagen: Ihr wart zu blöd, die Leute zu lenken. Aber auch das wäre zu einfach, weil wir das gar nicht wollten. Ich würde nicht von Scheitern sprechen. Wir haben hier in der DDR die Chance gehabt, ein Experiment zu machen, aber ein selbstgewolltes und selbstbestimmtes Experiment, nicht eins, das das »Neue Forum« diktierte – oder die IFM oder die SDP, die PDS oder sonstwer. Ein Experiment zu machen: Wir wollen zusammen rauskriegen, was wir eigentlich wollen. Was wir jetzt erleben, ist die Demokratie der Mehrheit, die westliche Demokratie. Das ist für mich keine Demokratie im eigentlichen Sinne. Mir geht es um Verantwortung – und die hat die Minderheit ebenso wie die Mehrheit, und deshalb wünschte ich mir, dass man der Minderheit die gleichen Chancen einräumt wie der Mehrheit.

Die aktuelle Entwicklung läuft jedoch in eine ganz andere Richtung …

Das was jetzt hier läuft, wird sich noch als Fehlinvestition erweisen. Das westliche Parteiensystem ist am Ende. Das sieht man an der großen Parteienmüdigkeit in Westdeutschland; viele wollen dort von keiner Partei mehr etwas wissen. Die Parteien dort reißen kaum noch jemanden vom Hocker. Sie werden noch gewählt, aber das Unbehagen ist groß. Warum also soll nicht das, was sich hier ereignete, auch in einem anderen System passieren? Es wird anders laufen, aber es ist schon so eine Tendenz … Letztlich wird es dem Kapitalismus so ergehen wie dem Sozialismus. Der Sozialismus hat sich selber aufgefressen, und auch der Kapitalismus wird sich selber fressen. Den Sozialismus haben die angeblichen Sozialisten auf dem Gewissen. Und auch im Kapitalismus können Dinge geschehen, an die wir noch gar nicht denken, die wir in unsere Überlegungen bisher gar nicht einbeziehen. Wer hätte denn gedacht, dass dieses ganze stalinistische System innerhalb von sechs Wochen kippt. Da kann es Sachen geben, mein Gott, das werden andere Sachen sein – ein Atomunglück in Cattenom so wie in Tschernobyl; da würde der Kriegszustand ausgerufen. Oder Entwicklungen in der Dritten Welt …