Wenn in diesen Tagen von Ungarn die Rede ist, dann nur indirekt wegen dessen Vorrücken in die EU-Präsidentschaft am 1. Januar nächsten Jahres. Ganz direkt aber, weil das Land dabei ist, hinsichtlich Medienfreiheit in finsterste Zeiten zurückzufallen – so weit, dass manche schon sagen, dort entstehe neben Weißrussland eine zweite Diktatur auf europäischen Boden. Es fällt damit auch weit zurück hinter die erhabensten Stunden seiner eigenen Geschichte, gehörte doch die Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit zu den vorrangigen Zielen des ungarischen Aufstandes von 1956, der damals blutig niedergeschlagen wurde, was aber nicht verhinderte, dass noch lange danach die deutschsprachige »Budapester Rundschau« in der DDR zu jenen Blättern zählte, aus denen man etwas mehr als aus den heimischen Medien zur Lage in der Welt erfahren konnte.
Das alles wird nun mutwillig zerstört, weil eine vom ungarischen Volk mit der Zwei-Drittel-Mehrheit ausgestattete Partei, enge Freunde der hiesigen Unionsparteien, es für angebracht hält, zu eigenen Machtsicherung die Medienfreiheit zu beseitigen und eine Pressezensur, ähnlich jener in Zeiten eines Mátyás Rakosi, einzuführen. Was in der DDR das Presseamt beim Ministerrat und die Agitationskommission des SED-Zentralkomitees waren, wird in Ungarn in einer einzigen Behörde zusammengefasst, die Verfassungsrang erhält und nur dem Regierungschef verantwortlich ist. Sie produziert künftig die Nachrichten, die alle Zeitungen zu veröffentlichen haben. Und sie allein bestimmt, ob Journalisten mit »Ausgewogenheit« berichten und ihrer »Informationspflicht« nachkommen oder ob sie wegen Verstoßes gegen solche Vorschriften mit hohen Geldstrafen oder aber gar mit Berufsverbot belegt werden – wie es schon einigen passierte, ehe das Gesetz überhaupt in Kraft ist.
All dies geschieht inmitten der Europäischen Union, die ansonsten sehr schnell dabei ist, Verstöße gegen Menschenrechte und Meinungsfreiheit scharf zu geißeln – außerhalb ihrer Grenzen. Beim Mitgliedsland, zumal einem konservativ regierten, drückt man schon einmal ein Auge zu. Zwar regt sich natürlich scharfe Kritik auch in der EU, doch die Meinung ihrer Führungsgremien und der wichtigsten Regierungen ist das nicht. Aus seinem Badeurlaub in Ägypten rügte Guido Westerwelle einen „undemokratischen, rückwärtsgewandten Kurs“ und betonte das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Werte der Europäischen Union. Damit aber meinte er keineswegs Ungarn, sondern Weißrussland. Angela Merkel beauftragte ihren Pressesprecher gerade einmal mit der lendenlahmen Erklärung, Ungarn trage »natürlich eine besondere Verantwortung für das Bild der gesamten Europäischen Union in der Welt«, doch bei ihrem Amtskollegen direkt intervenieren mochte sie nicht; solches behält sie sich für Länder wie Russland, China oder Kuba vor. Was gewiss berechtigt ist, aber bar jeder Glaubwürdigkeit, weil man mit zweierlei Maß misst.
Verwundern muss solche Zwiespältigkeit freilich nicht, ist doch EU-Europa keineswegs ein Vorreiter der Medienfreiheit. Man muss nur nach Italien blicken, wo Berlusconi schon lange die öffentliche Meinung beherrscht. Auch in Frankreich hat Präsident Sarkozy die Journalisten längst aufs Korn genommen, und in einigen Nachbarländern Ungarns ist die reale Lage nicht anders als in Ungarn, nur wurde die Praxis noch nicht ins Gesetz gegossen. Selbst hierzulande sucht sich die Bundesregierung bei Akkreditierungen zu politischen Spitzenterminen gern die Berichterstatter aus, die ihr genehm sind, und die Bundeswehr hat jüngst Johannes B. Kerner in Afghanistan alle Türen geöffnet, weil er mit seiner Talkshow ausdrücklich die » Akzeptanz des Einsatzes fördere«. Seine Sendung sei »eine Maßnahme der Informationsarbeit im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung«, hieß es. Auf der anderen Seite hört man auch schon mal Forderungen, die Pressefreiheit um des »Kampfes gegen den Terrorismus« willen einzuschränken.
So dürfte das ungarische Vorgehen letztlich ohne Folgen bleiben. Man wird an den Gesetzen vielleicht noch einige kosmetische Änderungen vornehmen, und die ungarische Regierung bereitet gewiss bereits abwiegelnde Erklärungen vor. In der Sache ändert das jedoch nichts. Ein Kampf für Medienfreiheit ist von den Regierenden in der EU nicht zu erwarten. Ein Beleg mehr dafür, wie wichtig künftig Wikileaks und mögliche weitere solche Enthüllungsplattformen sind.