(pri) Bei meinem heutigen Besuch im Supermarkt hatte ich ein denkwürdiges Erlebnis, ausgelöst von einem elegant gekleideten, sorgfältig frisierten und gegelten Herren, der nicht deswegen, sondern wegen einer wirklichen Lappalie ganz unvermittelt in den Strudel unerquicklicher Ereignisse geriet, aus denen er jedoch unter dem Beifall einer deutlichen Mehrheit der Supermarktkunden souverän herausfand.
Es hatte ganz profan begonnen. Der Herr steuerte zielgerichtet auf das Regal mit den alkoholischen Getränken zu, griff zielgerichtet in die obere Reihe, wo gewöhnlich die Flaschen mit dem höchsten Preisvermerk stehen, und nahm sich eine davon. Sorgfältig prüfte er Etikett und das prachtvolle äußere Bild, um sie sodann unter seinem weiten bayerischen Lodenmantel zur Kasse zu tragen. Dort hatte sich eine beträchtliche Schlange gebildet, an deren Ende der Gentleman einige Zeit hätte zubringen müssen, was ihn vermutlich von hochwichtigen Geschäften abzuhalten drohte. Deshalb tat er das einzig Richtige und schob sich an der langen Schlange, die von Kunden im Seniorenalter, die bekanntlich oft Schwierigkeiten haben, ihrer Geldbörse den geforderten Zahlbetrag zügig und korrekt zu entnehmen und dazu die Hilfestellung der Kassiererin erwarten, dominiert wurde, vorbei und strebte dem Ausgang respektive seinen unaufschiebbaren Geschäften zu.
Die Flasche edlen Alkohols hatte er in der Eile nicht zurückstellen können, was die Kassiererin unverständlicherweise zu übler Nachrede veranlasste. Die Flasche unter ihrem Mantel, die haben Sie nicht bezahlt, sagte sie übertrieben laut. »Der Vorwurf, diese Flasche sei gestohlen, ist abstrus«, erklärte der noble Herr empört und war schon beinahe am Ausgang, als ihm ein dort unauffällig herumlungernder Mann, offensichtlich mit der stasimäßigen Überwachung der Kunden beauftragt, in den Weg trat. Er verlangte von ihm den Kassenzettel für die Schnapsflasche, doch der Vornehme machte nicht einmal Anstalten, sie in seiner Tasche zu suchen, sondern rief statt dessen aus: »Diese Flasche ist kein Diebesgut, und den Vorwurf weise ich mit allem Nachdruck von mir. In harter Arbeit stehend und für meine junge Familie sorgend, erledige ich in mühevoller Kleinarbeit auch noch die hausfraulichen Einkäufe, wobei mir gewiss gelegentlich Fehler unterlaufen. Es wurde allerdings zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht oder bewusst die Flasche aus dem Markt getragen.«
Den missgünstigen Mann am Eingang überzeugte das seltsamerweise nicht. Er zeigte noch immer auf die Flasche und verlangte den Kassenzettel, drohte sogar mit der Polizei. Um des lieben Friedens willen lenkte der feine Herr ein und sagte: »Vielleicht habe ich doch einen gravierenden Fehler gemacht, indem ich in meiner Überforderung und weil ich in Ihrem Supermarkt den Überblick verloren habe, die Flasche nicht an den richtigen Ort zurückstellte. Aber ich wiederhole, ich habe diesen Fehler nicht bewusst gemacht. Ich habe auch nicht bewusst oder absichtlich in irgendeiner Form getäuscht und muss mich natürlich auch selbst fragen: Wie konnte das geschehen, wie konnte das passieren?« Und in einer großherzigen Geste streckte er dem Mann am Eingang die wertvolle Flasche entgegen: »Hiermit möchte ich Sie bitten, diese Flasche zurückzunehmen. Dieser Schritt ist für mich besonders schmerzhaft, aber er ist eine Konsequenz aus meinen Fehlern. Er ist auch notwendig, um bereits eingetretenen Schaden für diesen hervorragenden Supermarkt zu begrenzen.«
Der sture Supermarkt-Bewacher jedoch verstand die noble Geste nicht zu würdigen. Er redete davon, so leicht könne man die Sache nicht aus der Welt schaffen und verlangte den Ausweis des gut betuchten Mantelträgers. »Ich habe mich doch aufrichtig und von Herzen entschuldigt und wiederhole das noch einmal. Ich habe die Konsequenzen gezogen und die Flasche zurückgegeben. Es entsteht doch Ihrem Supermarkt kein weiterer Schaden, wenn man sich für einen Fehler entschuldigt«, versuchte es der Beschuldigte nun schon mit beinahe adliger Noblesse noch einmal. Aber weiter ohne Erfolg, so dass ihm nun verständlicherweise der Kragen platzte. »Ich habe mehrfach darauf verwiesen, dass ich ein Mensch mit Fehlern und Schwächen bin und dass ich trotzdem mir den Anspruch setze, weiterhin als Vorbild, auch was das Eingestehen und das Bekennen von Fehlern anbelangt, wirken kann.« Und er erhob den Zeigefinger zu bedeutsamer Geste: »Diese Unterscheidung ist eine, die man auch anlegen sollte, wenn man Urteile über andere bildet, weil es ein Urteil ist, das natürlich eine strafrechtliche Relevanz in sich tragen könnte.«
Das hatte gesessen. Ehe der Supermarkt-Schließer etwas sagen konnte, brandete in der gesamten Halle stürmischer Beifall los. Er hat recht, er hat recht. Lassen Sie ihn, lassen Sie ihm den Schnaps. Er ist so ein guter Mensch, so gut gekämmt, so gut angezogen, so wohlriechend. Und wie gut er redet. Endlich mal einer, der Euch Krämerseelen sagt, was Sache ist. Wir stehen zu ihm, mehr noch, wir eifern ihm nach. Und fast alle schritten ungesäumt zum Schnapsregal und holten sich eine Flasche, bevorzugt aus der oberen Reihe, gingen damit hoch erhobenen Hauptes an Kassiererin und Wachtposten vorbei, rissen den feinen Herrn mit und eilten nach Hause. Sie hatten begriffen, worauf es heute, da ganz Arabien von einer einzigen Revolution ergriffen ist, ankommt – darauf, endlich die Diktatur der Gesetze abzuschütteln und ein freier Mensch zu sein, frei von aller Bevormundung, und käme sie just so harmlos wie mit Anführungszeichen daher.
P.S. Um den guten Menschen vom Supermarkt nicht erneut in eine dumme Lage zu bringen, gebe ich hiermit vorsorglich bekannt, dass alle in Anführungszeichen gesetzten Textteile in Wirklichkeit nicht von ihm stammen, sondern in wesentlichen Formulierungen vom guten Menschen im Bundeskabinett, dem Verteidigungsminister Dr. Karl Theodor zu Guttenberg. Ehre, wem Ehre gebührt.
Ein großartiger Text!
Ich habe die Fragestunde und die Aktuelle Stunde nicht verfolgt, deshalb war mir das letzte Zitat, in dem er sich als Vorbild darstellt, nicht bekannt. Hat er das wirklich von sich gegeben??? Dass der sich nicht entblödet….!
Wenn der Verkaufsleiter dieses Supermarktes jetzt noch das Wort ergriffen hätte, um die Wogen mit einer vermittelnden Geste zu glätten. Aber weit gefehlt! Der wegen seiner mentalen Nähe und finanziellen Abhängigkeit zum Top-Management der Supermarktkette bekannte Verkaufsleiter – nennen wir ihn einmal Christian Wulff – richtete keine klärenden Worte an die durch den dreisten Dieb übers Ohr gehauene Kundschaft, da er sich gerade auf einem Lehrgang für „Aalglatte Verkaufsleiter-Karrieristen“ befand.