(pri) Da mussten die US-Gendarmen erst einen aus der VIP-Etage hochnehmen und in der aus ihren Polizeifilmen sattsam bekannten hemdsärmeligen Art behandeln, ehe Politikern und Medien der Bündnispartner merkten, dass es sich bei den USA inzwischen um einen ausgewachsenen Unrechtsstaat handelt. Allerdings ist paradoxerweise das Objekt solcher Erkenntnis genau das falsche, denn der Umgang mit Dominique Strauss-Kahn in New York entsprach unbestreitbar amerikanischen rechtsstaatlichen Regeln; er war sowohl Ausdruck der Unabhängigkeit der Justiz als auch der Gleichbehandlung von Verdächtigen ohne Ansehen der Person. Letzteres ist anderswo schon lange nicht mehr gegeben. Wer das erforderliche Geld und vielleicht noch ein paar hochstehende Gönner hat, kann sich hierzulande von Haft oder gar Strafe ziemlich leicht freikaufen – man denke nur an die milde Behandlung eines Helmut Kohl. Wer weder über das eine noch das andere verfugt, muss die Härte des Gesetzes uneingeschränkt über sich ergehen lassen.
Dass es auch dem IWF-Chef so erging, ist nur gerecht, war doch schon aus seiner Körpersprache beim ersten Gerichtstermin unschwer ablesbar, dass ihn nicht eine etwaige falsche Beschuldigung empörte, sondern dass ihm jegliches Verständnis dafür fehlte, wegen einer Sache belangt zu werden, die er offensichtlich als vereinbarten Bestandteil seiner Hotelbuchung verstand. Seine Anwälte mussten ihn inständig beknien, sich überhaupt erst gegen einen Vorwurf zu wehren, der sich ihm offensichtlich als Normalität darstellte. Darauf reagierten die New Yorker Justizbehörden mit der unerbittlichen Strenge, die auch hier von politischen Hardlinern oft verlangt wird – allerdings nicht gegenüber honorigen Vertretern des Establishments.
Es ist zwar erfreulich, dass auf solchen Nebenschauplätzen der amerikanische Rechtsstaat noch funktioniert; dass er ansonsten aber längst zu einer verblichenen Legende geworden ist, kann daadurch nicht vergessen gemacht werden. Denn immer öfter und immer exzessiver missachten US-Polizei-, Militär- und Justizorgane rechtsstaatliche Grundprinzipien und lassen eine Willkür walten, die sie ansonsten gern schlecht gelittenen »Schurkenstaaten« vorwerfen. Anschaulichstes Beispiel dafür ist das Straflager Guantanamo, zu dem dieser Tage – dank Wikileaks – neue Tatsachen publik wurden, wie sie bisher nur über den sowjetischen Gulag verbreitet worden sind. Da überrascht nicht mehr, dass bereits acht Guantanamo-Insassen trotz intensivster Bewachung Selbstmord begingen, der letzte erst vor wenigen Tagen.
Doch nicht nur vorgebliche Terroristen erfahren in den USA eine derartige Sonderbehandlung, sondern auch andere, die die US-Staatsgewalt herausfordern, zum Beispiel der Wikileaks-Informant Bradley Manning, der – gewissermaßen als rechtswidriger Vorgriff auf eine Strafe – entwürdigenden Haftbedingungen ausgesetzt wurde, die man erst nach heftigen Protesten von Menschenrechtsaktivisten etwas lockerte.
Und mit tatsächlichen Terroristen machen die USA erst gar keinen Prozess, sondern vollstrecken das Urteil ohne viel Federlesens, wie die Exekution Osama bin Ladens zeigte. »Kollateralschäden« bei unbeteiligten Zivilisten einschließlich Frauen und Angehörigen seiner Mitbewohner inbegriffen. Dafür erhalten die Täter vom Präsidenten Orden und haben natürlich Strafverfolgung nicht zu befürchten. Im Gegenteil, was auch immer US-Staatsbürger im Ausland tun, sie stehen unter besonderem Schutz. Internationale Gerichtsbarkeit, die gerade die USA gern gegen andere einsetzen, gilt für sie nicht.
All das regt die Verbündeten der USA ebenso wenig auf wie die meisten der etablierten Medien; erst das Vorgehen gegen einen, der zur Machtelite gehört, verstörte sie. Und das dann noch – ganz im Gegensatz zum sonstigen Gebaren der westlichen Vormacht – ohne eigentlichen Grund. Deutlicher kann nicht klar gemacht werden, wie sehr Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte ideologisch beurteilt werden – und nicht von einer objektiven, unvoreingenommenen Position aus.
Trotz der Vorwürfe finde ich es übertrieben, den Beschuldigten so lange in Haft zu lassen. Knapp eine Woche nach seiner Festnahme wegen versuchter Vergewaltigung hat Dominique Strauss-Kahn das Gefängnis verlassen können. Allerdings muss der ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine elektronische Fußfessel tragen und wird wegen der Fluchtgefahr rund um die Uhr von bewaffneten Sicherheitsbeamten überwacht. Dem 62 Jahre alten Franzosen wurde eine Wohnung am New Yorker Broadway in der Nähe von Ground Zero zugewiesen. Es kann doch keiner ernsthaft glauben, dass er aus New York fliehen wird. Für mich war das nur unnötiges Vorführen eines Prominenten.
Verwunderlich ist, dass der in Sicherheitsfragen so versierte Autor nicht auf den humanen Strafvollzug im Rechtsstaat DDR verweist. Wer dort als Straftäter qualifiziert wurde. und das konnte sehr schnell geschehen, wenn er zum Beispiel den Arbeiter-und Bauernstaat eigenmächtig verlassen wollte. Solche Feinde wurden entweder gleich erschossen (an der Friedensgrenze bzw. dem antifaschistischen Schutzwall) oder sie wurden schnellstens nach Bautzen, Cottbus oder Hoheneck verfrachtet, wo die Haftbedingungen ja geradezu paradiesisch gewesen sein sollen. Da jedenfalls behaupten verurteilte Totschläger, wie die Herren Krenz und Kessler, die unter der Siegerjustiz des bösen Klassenfeindes gelitten haben, in ihren neuesten Prosastückchen. Freigang während des Knasts bzw. vorzeitige Entlassung aus demselben waren wohl nur besondere Schikanen der Sieger?