(pri) Fast kann einem Guido Westerwelle schon leid tun. Erst ist es ihm gelungen, einen fulminanten Wahlerfolg innerhalb weniger Monate so total zu verspielen, dass er als FDP-Parteivorsitzender und Vizekanzler – völlig zu Recht – zurücktreten musste. Nun wackelt auch noch sein Ministersessel; das allerdings wegen einer Entscheidung, bei der ihm nichts vorzuwerfen ist – außer dass er jetzt unter dem Druck eines bellizistischen Politikverständnisses opportunistisch davon abrückte.
Denn die damalige Position des Außenministers, sich in der UNO einer Resolution zu enthalten, die mit militärischen Mitteln in den inneren Konflikt in Libyen einzugreifen beabsichtigte – seinerzeit übrigens unterstützt von der gesamten Bundesregierung – war nicht nur damals völlig richtig. Sie ist es auch heute noch, weil sich die Gebührlichkeit von Außenpolitik nicht zuerst an ihrem Erfolg oder Misserfolg bemisst, sondern an der Orientierung am internationalen Recht und der in ihm ausgedrückten Verantwortung für ein gedeihliches Zusammenleben der Völker.
Unter diesem Gesichtspunkt war und ist nicht zu billigen, wenn ein Staat oder eine Staatengruppe sich anmaßen, über die Köpfe der Menschen in welchem Land auch immer hinweg zu entscheiden, was für sie gut oder schlecht ist und davon ausgehend dann auch noch das vermeintlich Gute herbeizubomben. Es ist noch weniger zu billigen, wenn sich diese Politik nassforsch über Geist und Buchstaben einer UNO-Resolution hinwegsetzt, indem sie sie so auslegt, dass die eigenen Interessen damit durchgesetzt werden können – und das dann auch umgehend tut. Das Libyen-Abenteuer der NATO war und ist in diesem Sinne eine direkte Fortsetzung der Invasionspolitik, wie sie gegenüber Afghanistan und Irak betrieben wurde; es ist zu erwarten, dass sie ein ähnlich unrühmliches Ende nimmt. Auch am Hindukusch fühlte sich die westliche Allianz angesichts anfänglicher Erfolge schon als Sieger, und im Irak verkündete George W. Bush mit stolzgeschwellter Brust, die Mission sei erfüllt. Beides hat sich als Trugschluss erwiesen.
Man hätte erwarten können, dass der Westen aus diesen beiden Niederlagen lernt und sich künftig von einem Denken, das den Krieg als Instrument zur Lösung eines Konflikts nicht nur favorisiert, sondern beinahe als alternativlos erklärt, abwendet – aus prinzipiellen Erwägungen zum Schutz der Menschenrechte, deren oberstes die Erhaltung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ist, und eben der schlechten Erfahrungen wegen. Man hatte gehofft, dass die Entscheidung der Bundesregierung, die fatale UNO-Resolution zu Libyen nicht mitzutragen, aus solchen Überlegungen erwachsen ist und damit ein neues Element in die internationalen Beziehungen bringt, das – wie unter anderem die Abstimmung in New York zeigte – eben nicht nur von Russland und China, sondern auch von neuen Mächten wie Brasilien, Indien und Südafrika angestrebt wird.
Tatsächlich aber setzte sich in der NATO zunächst das alte Denken in überholten Ost-West-Kategorien durch. Und auch die Bundesregierung hat mit ihrem faktischen Abrücken von der damaligen Entscheidung bewiesen, dass sie damit keine außenpolitische Innovation im Sinn hatte, sondern einfach nur – in der Endphase wichtiger Landtagswahlkämpfe – auf die große Mehrheit in der Bevölkerung reagierte, die eine Kriegsteilnahme deutscher Soldaten in Libyen ablehnte. Dies wird inzwischen als »innenpolitisches Kalkül« diffamiert; es ist aber ungeachtet der fragwürdigen Motive der schwarz-gelben Koalition allemal eine bessere Entscheidung als die Unterwerfung deutscher Außenpolitik unter Interessen, die von Staaten diktiert werden, die noch immer in altem bellizistischem Denken befangen sind. Denn immerhin ging es dabei um die Vermeidung sinnloser Kriegsopfer – und das nicht nur auf deutscher Seite, sondern auch in Libyen selbst, wo nach dem Terror der Gaddafi-Truppen nun jener der »Sieger« droht, unter den fest verschlossenen Augen der NATO .
Nun mag der Diktator Mohammed al-Gaddafi ein ziemlich ungeeignetes Objekt dafür sein, einen solchen globalen Paradigmenwechsel zu begründen oder gar zu vollziehen, aber auch er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in gewisser Weise Produkt langjähriger westlicher Politik. Als er einst antrat, vertrat er in der überwiegend feudalistisch geprägten arabischen Welt durchaus fortschrittliche Ziele, wollte sein Volk aus den Fesseln mittelalterlicher islamistischer Rituale befreien und am Ölreichtum des Landes partizipieren lassen. Damit störte er die Kreise nicht nur der arabischen Potentaten, sondern auch der westlichen Ölkonzerne – und von beiden wurde er alsbald zum Schurken erklärt, was ihn folgerichtig in die Arme des anderen Weltsystems trieb. Gaddafi lehnte sich fortan an die sozialistischen Länder an, was den westlichen Zorn auf ihn noch verstärkte.
Natürlich erkannte der junge Herrscher schnell die Möglichkeiten, die ihm die östliche Rückendeckung bot. Er vergalt dem Westen manche frühere Demütigung, provozierte ihn mit brutalen Terrorakten und konnte sich dabei immer auf den Schutz aus dem Osten verlassen, der ihn auch militärisch aufrüstete. Als sich nach 1989 diese Situation abrupt wandelte, verstand es Gaddafi, sich schnell dem Westen anzudienen, ihm den Zugriff auf das libysche Öl zu ermöglichen und gleichzeitig westliche Erwartungen hinsichtlich der Unterbindung von Flüchtlingsströmen effizient zu erfüllen; dafür nahmen sie ihn nun – wenn auch widerwillig – in den Kreis ihrer Verbündeten auf, einschließlich der Versorgung mit Kriegsmaterial. Die Waffen, die jetzt durch ausgedehnte Luftschläge zerstört wurden, stammten zwar nicht nur, aber doch zu einem wesentlichen Teil aus westlicher Produktion.
Sie hofierten ihn derart, dass er glaubte, sich weiterhin demütigende Symbolhandlungen erlauben zu können, was die Geduld seiner neuen Freunde arg strapazierte. So nahm es nicht wunder, dass sie die erste beste Gelegenheit ergriffen, sich seiner zu entledigen, ohne sich freilich dafür zu interessieren, was sein Volk darüber dachte. Viele Libyer waren zwar seiner auch längst überdrüssig, zumal das anfängliche Bemühen um sozialen Ausgleich längst der Anhäufung von Reichtum bei einer kleinen, ihm treu ergebenen Kaste untergeordnet worden war, verbunden mit der brutalen Verfolgung jeder Kritik. Das hat den Osten wie auch lange den Westen nicht interessiert. Der Widerstand gegen Gaddafi war nicht erst seit jüngstem im Volk verwurzelt, aber natürlich bedeutet dies keine Unterordnung unter westliche Interessen und Erwartungen, im Gegenteil. Und schon gar nicht sagt es etwas darüber, wie die verschiedenen politischen Kräfte in Libyen sich die Zukunft ihres Landes vorstellen; hier wird der Westen demnächst noch manche Überraschung erleben. Und spätestens dann dürfte sich rächen, dass altes, überholtes Denken in den Kategorien des Krieges Maßstab westlichen Handelns war. Und dass auch der deutsche Außenminister seine Libyen-Abstinenz nicht wirklich ernst gemeint hat.