Vom Kitt des DDR-Systems zur Hefe im bürgerlichen Kuchenteig: Sozialistische Idee und soziale Gerechtigkeit
Für die einen ein beinahe unerklärbares Rätsel, für andere ein erschreckendes Alarmsignal, für dritte vielleicht Zeichen neu aufkeimender Hoffnung? All das ist fast 20 Jahre nach deren Zusammenbruch die DDR: Zäh hält sie sich im Denken vieler Menschen, von der Hoffnung auf die Renaissance bestimmter sozialistischer Werte bis hin zum der rhetorischen Rückgriff auf Praktiken eines Staates, der sich als jener der Arbeiter und Bauern bezeichnete.
Schon eine Emnid-Umfrage aus dem vergangenen Sommer hatte ergeben, dass 67 Prozent der Deutschen gegen die Privatisierung von Bahn, Energieversorgung und Telekommunikation sind, nicht nur im Osten (81 Prozent), sondern auch im Westen (64 Prozent). 74 Prozent wünschen mehr Engagement des Staates für die Betreuung von Kindern in Krippen, im Osten 77 Prozent, aber auch im Westen 73 Prozent. Und 72 Prozent meinen, die schwarz-rote Regierung tue zu wenig für soziale Gerechtigkeit, 70 Prozent im Westen, 81 Prozent im Osten. Staatseigentum, staatliche Kinderbetreuung, soziale Gerechtigkeit? Begriffe, die eher mit der DDR verbunden wurden, sind inzwischen bundesweit konsensfähig.
Diese Entwicklung setze sich eher noch fort, konstatierte vergangenes Wochenende auf einer Tagung der Evangelischen Akademie zu Berlin (»Ideologie und Lebensalltag. Vom Kitt des DDR-Systems«) der Leipziger Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe. Hätten Anfang der 90er Jahre viele Ostdeutsche noch akzeptiert, dass sie auch hinsichtlich gesellschaftlicher Werte einen Vorsprung des Westens aufholen müssten, sei die Entwicklung in Wirklichkeit gegensätzlich verlaufen, habe der Westen »östliche« Werte übernommen. So werde zum Beispiel die Marktwirtschaft inzwischen in Ost wie West fast gleichermaßen negativ beurteilt. Dass das, was der Wirtschaft nütze, auch gut für die Bevölkerung sei, finden nur noch 22 Prozent, am wenigsten mit 19 Prozent im Osten, aber nur wenig mehr im Westen (23 Prozent).
Dass auf diese Weise der DDR-Kitt sozialer Geborgenheit auf der Grundlage staatlicher Regulierung gleichsam zur Hefe im bürgerlichen Kuchenteig geworden sei, fand Ahbe insbesondere deshalb bemerkenswert, weil sich nach dem Krieg die beiden deutschen Gesellschaften ideologisch stark auseinander entwickelt hätten. Während im Osten schon bald eine »Entbürgerlichung« eingeleitet wurde, vollzog sich im Westen in Begleitung von Erhards sozialer Marktwirtschaft eine Aufwertung des Unternehmertums. Letzteres mündete in die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« der Adenauer-Zeit, während in der DDR der »Arbeiter- und Bauernstaat« proklamiert wurde.
Ein Foto Ende der 70er Jahre, das eine Brigade in locker-selbstbewusster Pose vor schon ziemlich maroden Industrieanlagen und flankiert von zwei Losungen über die führende Rolle der Arbeiterklasse zeigt, war von Ahbe wohl als ironischer Kommentar gemeint, illustrierte aber treffend die theoretische Erkenntnis: Der »Werktätige« genoss in der DDR hohes Ansehen, schon weil er gebraucht und – im Rahmen des ökonomisch Möglichen – oft mit Samthandschuhen angefasst wurde. Das hat sich dramatisch verändert, so dass ein ähnlicher Schnappschuss aus der heutigen Arbeitswirklichkeit undenkbar erscheint. Der einstige Arbeiter ist heute arbeitslos und wird öffentlich nicht selten als Gescheiterter und Schmarotzer dargestellt.
Selbst die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« erkannte: »Die Hartz-Klienten werden offiziell zu Pechvögeln des Lebens gestempelt und bekommen nicht einmal den Job dazu: Die Entwürdigung ist vollständig, die Entlohnung aber nur fragmentarisch.« Und wer arbeitet, ist dem hoch gelobten Unternehmer beinahe schutzlos ausgeliefert, muss sich dessen Bedingungen klaglos unterwerfen, im Zweifel einen Lohn akzeptieren, der nicht einmal seine Existenz sichert und dennoch ständig mit Rauswurf rechnen.
Solche Erniedrigung im Wortsinne verklärt die frühere Rolle des heutigen »Unterschichtlers« zusätzlich, was dazu beigetragen haben mag, dass sich die 61 Prozent, die sich 1992 in den neuen Bundesländern zur Arbeiter- bzw. unteren Schicht zählten – gegenüber nur 37 Prozent zur Mittelschicht – das auch zehn Jahre später noch taten, während diese subjektive Schichteinstufung in den westlichen Ländern ein genau umgekehrtes Bild ergab.
»Es ist im Osten nicht ehrenrührig, zur Arbeiterschicht zu gehören«, so Thomas Ahbe; er begründet unter anderem damit den hohen Rang, den der Begriff der sozialen Gerechtigkeit heute genießt – und nun eben nicht nur bei den Ostdeutschen, sondern in wachsendem Maße auch im Westen.
Mag diese Diagnose noch weitgehend akzeptiert werden, so ist es mit der Therapie viel schwieriger. Eine Podiumsrunde, die sich an der Evangelischen Akademie die Frage stellte: »Was ist geblieben von der sozialistischen Idee?«, war sich – abgesehen vom Berliner Theologen Richard Schröder – nur in der Ablehnung des Neoliberalismus einig, sah im Sozialismus, jedenfalls wie er bisher praktiziert wurde, aber keine Alternative. Schröder lehnte es ab, überhaupt über eine Alternative nachzudenken, wollte nur »Ungleichgewichte« austarieren – während Edelbert Richter, einst SPD-Bundestags- und dann Europaabgeordneter, heute jedoch in der Linkspartei, dem Sozialismusbegriff nicht abschwören mochte.
Er griff auf die Französische Revolution zurück und definierte Sozialismus als »wechselseitigen Zusammenhang von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, ohne jedoch zu konkretisieren, was daraus folgen sollte.
Ihm am nächsten kam noch der Berliner Philosoph und Ex-Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der die SPD dafür rügte, dass sie unter Schröder neoliberale Politik als alternativlos darstellte und damit »der PDS ohne Not den linken Teil des politischen Feldes überließ«; gleichwohl konnte er nicht verstehen, dass Richter aus genau diesem Grunde den Sozialdemokraten den Rücken gekehrt hatte.
Aus der DDR sei für die Lösung der heutigen Probleme nichts zu holen, dekretierte Templin, die SPD müsse ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden, wobei er seine Zweifel, das könne unter Kurt Beck gelingen, nicht verbarg. Ahbe beklagte hier, dass die Problematik der sozialen Gerechtigkeit »durch den Sozialismusbegriff kontaminiert« werde und mahnte, den Diskurs über soziale Gerechtigkeit »aus der Geiselhaft der Aufarbeitung der DDR-Diktatur zu befreien« Was freilich nicht einmal in der Runde zu Versöhnlichkeit angehaltener Christen gelang.
Nicht nur die Ratlosigkeit der Disputanten provoziert die Frage, ob soziale Gerechtigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft, zumal in ihrer derzeitigen neoliberalen Gestalt, überhaupt möglich ist, ob ein solches Prinzip nicht dem Wesen des Kapitalismus widerspricht. Die »Entbürgerlichung« der DDR-Gesellschaft war insofern das kulturelle Pendant zur Umwälzung der materiellen Eigentumsverhältnisse, sollte das Bewusstsein der Arbeiter auf eine neue Stufe heben, um Aktivität und Engagement zu fördern und wohl auch die Defizite der gesellschaftlichen Realität leichter ertragen zu lassen. Daraus erklärt sich sowohl zumindest zum Teil die Bindewirkung der sozialistischen Idee in der DDR als auch ihre gegenwärtige Revitalisierung in Form des Rufes nach sozialer Gerechtigkeit.
DDR-Bürger haben in der Praxis erlebt, dass die Erniedrigung, der sie derzeit – ob im Arbeitsprozess oder aus ihm ausgeschlossen – oftmals ausgesetzt sind, kein alternativloser Zustand ist, und sie sind nicht bereit, ihn schicksalhaft hinzunehmen. Und das erweist sich als zunehmend attraktiv auch für ursprünglich anders sozialisierte Westdeutsche – einfach unter dem Eindruck ihrer sich rapide verschlechternden Lebenssituation. Im Jahre 1990 hatten im Westen 60 Prozent ihre wirtschaftliche Lage als sehr gut bis gut eingeschätzt; im Osten waren es gerade einmal 36 Prozent. Deren Zahl stieg bis 2004 lediglich auf 37 Prozent, während sie in den alten Bundesländern auf 41 Prozent sank. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
So einig sich bei allen Nuancen die Runde in der Evangelischen Akademie darin war, dass eine Lösung der gegenwärtigen sozialen Probleme nur im Rahmen des bestehenden Systems gefunden werden kann, so wenig hatte sie zur Lösung etwas anzubieten. Über den Appell an Politik wie Wirtschaft kam sie nicht hinaus; die Erfahrung lässt zweifeln, dass er gehört wird. Insofern ist von der sozialistischen Idee zumindest eins geblieben: Sie sorgt für Unruhe in der Gesellschaft – und das ist immer der Anfang von Veränderung.
(Gedruckt in: Neues Deutschland vom 03. 05. 2008)
Die Forderung aus den Reihen der werktätigen Massen, ihrer Interessenvertretungen der Gewerkschaften und bis vor einigen Jahren auch noch von der SPD nach sozialer Gerechtigkeit war im Prinzip immer zum Scheitern verurteilt. Nur, daß man in den „guten“ Zeiten mit systemimmanenten Mitteln die kapitalistischen Fehlentwicklungen einigermaßen einhegen konnte und unsoziale, inhumane Auswüchse in größerem Umfang weitgehend verhindern konnte. Zutreffender hätte man aber stets nur von einem Minimieren von sozialer Ungerechtigkeit sprechen sollen, statt von dem nicht erreichbaren Ziel der sozialen Gerechtigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft zu fabulieren.
Die gesellschaftspolitische Unruhe, die der Begriff der sozialen Gerechtigkeit (im Gegensatz zur weithin verhaßten Sozialismusidee) heute in Gesamtdeutschland hervorruft, kann aber nur dann zu reellen Veränderungschancen führen, wenn ein Gegenprogramm zum hegemonialen Neoliberalismus entwickelt wird, das nicht nur die eingeweihten Kreise der politischen Linken anspricht, sondern auch „Verbürgerungsfähigkeit“ beweist, indem auch der unpolitisch gemachte „Durchschnittsbürger“ angesprochen wird, bevor er angesichts von Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit in autoritäre und intolerante Verhaltensweisen abdriftet. Es geht also um nicht weniger als um die Quadratur des postkapitalistischen Kreises.
Markus, der Sozialist…
Es gibt sie immer noch , oder schon wieder. Menschen, die an die Machbarkeit des Sozialismus glauben und den Sowjetkommunismus einfach als bedauerliche Fehlentwicklung abtun.
Die „werktätigen Massen“ existieren in Deutschland nicht in einem Umfeld sozialer Ungerechtigkeit, sondern je nach Verdienst in mehr oder weniger Wohlstand. Das ist so, das war so und wird immer so sein.
Es gibt kein Land auf der Welt, wo es anders ist. Selbst in Kuba, dem gelobten Land der Sozialisten gilt der Spruch: „Alle Menschen sind gleich, nur manche sind gleicher“. Wie sollte es auch anders funktionieren?
Somit hat Markus Recht, dass es „um nicht mehr und nicht weniger als um die Quadratur des postkommunistischen Kreises geht!
Der Sowjetkommunismus stalinistischer Prägung ist keine bedauerliche Fehlentwicklung gewesen, er war und ist unentschuldbar!
Wenn von der Machbarkeit des Sozialismus spöttisch geredet wird, kann man genauso gut die Machbarkeit des Kapitalismus anzweifeln. In „reiner“ Form sind sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus – über einen längeren Zeitraum gesehen – praktisch nicht überlebensfähig, ohne auf die Unterstützungsleistungen des Staates (in der einen oder anderen Form) zurückgreifen zu müssen. In diesem Punkt ist der Sozialismus eben „ehrlicher“ als der tendenziell staatsfeindliche Kapitalismus. Zur Erinnerung, der Kommunismus als die vermeintlich höhere Stufe des Sozialismus setzt auf das „Absterben des Staates“.
Das viel beschworene Leistungsprinzip ist auch im Sozialismus nicht aufgehoben, nur der gesellschaftlich erarbeitete Wohlstand wird nach anderen Kriterien verteilt als dies im (unsozialen) Kapitalismus der Fall ist. „Leistung“ kann sich im Sozialismus lohnen, und im Kapitalismus nicht lohnen – je nach den wirtschafts- und sozialpolitischen Weichenstellungen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die verschiedenen möglichen Spielarten des Sozialismus und des Kapitalismus sind größer, als man gemeinhin annimmt.
ich erinnere an anatoli butenko und den grundwiderspruch im sozialismus: dem widerspruch zwischen den produktivkräften und den produktionsverhältnissen.
ist im kapitalismus das problem die private aneignung des ergebnisses gesellschaftlichen schaffens, werden im sozialismus die produktivkräfte permanent ausgebremst. mit anderen worten: der sozialismus mit seinem system der zentralen lenkung (staatswirtschaft) hat das problem, bei einer weiterentwicklung der produktivkräfte jedes mal das gesamte system neu durchorganisieren zu müssen. das ist aufwändig, erfordert jedes mal viel kraft, verschleißt sich und demzufolge bleibt irgendwann das system hinter der entwicklung der produktivkräfte zurück und hemmt diese.
auch wenn man die ddr einen „deformierten“ sozialismus nennen mag, um einer abwertung des sozialismus-begriffes für eine künftige weiterverwendbarkeit aus dem weg zu gehen, war der grundwiderspruch deutlich zu erkennen: eine vergleichsweise kleine elite kam mit der zentralen steuerung der gesellschaft (nicht nur der produktion) einfach nicht mehr hinterher.
das bedeutet: kommt der sozialismus, in welcher spielart auch immer, von der idee der zentralen steuerung bis ins kleinste detail nicht los, ist seine erneute niederlage eine reine frage der zeit.
Sehr richtig: der real existierende Sozialismus hat sich selbst ein Bein gestellt, der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, legt andere herein.
Reformierbar dürften beide Arten der gesellschaftlichen Reproduktion – bis zu einem gewissen Grad – aber sein. Die für das Überleben der Menschheit entscheidende Frage in einer endlichen Welt der beschränkten natürlichen Ressourcen könnte aber sein, ob es in den hochentwickelten Industrieländern auch ohne Wirtschaftswachstum auszukommen möglich wäre. So gesehen hätte der „friedliche“, stationäre Sozialismus mehr Daseinsberechtigung als der potentiell aggressive Wachstums-Kapitalismus.