Am Anfang müsste eigentlich Selbstkritik stehen: Da gibt es seit nunmehr sechzehn Jahren einen »Forschungsverbund SED-Staat« an der Freien Universität in Berlin, der inzwischen Tausende Seiten über jenes Gebilde DDR, das er nicht einmal mit seinem richtigen Namen benennen will, produzierte – und alles war offensichtlich für die Katz. Jetzt mussten die Forscher auf 800 neuen Seiten verzweifelt eingestehen, dass mit solche hohen Einsatz nichts erreicht wurde – im Gegenteil, fast 20 Jahre nach ihrem Verschwinden bekommt die DDR ein besseres Image. Das kann eigentlich nur eine Ursache haben. Die FU-Soziologen haben total versagt – entweder weil sie richtige Erkenntnisse so miserabel an den Empfänger zu bringen versuchten, dass der genau das Gegenteil daraus ableitete, oder weil ihre Erkenntnisse so weit von den Erfahrungen der Menschen entfernt waren, dass diese sie einfach nicht ernst nehmen konnten.
Schaut man sich die Resultate der Berliner Forschungen genauer ist, dann drängt sich letztere Begründung auf. Den interessanterweise wissen von den über 5000 befragten Schülern am besten jene über die DDR Bescheid, die von ihr am weitesten entfernt leben – nämlich die bayerischen. Sie haben schon immer eher vom Hörensagen über den anderen deutschen Staat erfahren, und wenn sie ihn überhaupt jemals besuchten, dann führte man sie ganz gezielt zu jenen Stätten, die noch immer Schauder über den Rücken laufen lassen und Lehrbuchpassagen über Diktatur und Unterdrückung aufs Schönste bestätigen. Am wenigsten, so fand die jüngste Studie mit dem ihre Philosophie sehr präzise auf den Punkt bringenden Titel »Soziales Paradies oder Stasi-Staat?« heraus, wissen über die DDR jene, die in ihr lebten bzw. von ihren Eltern etwas über die erfuhren, nämlich die Ostdeutschen. Sie bezogen und beziehen ihr Wissen nicht aus Publikationen der politischen Bildung, sondern aus den Erinnerungen von Eltern, Verwandten, Bekannten, in der Regel also Menschen, die in der DDR tatsächlich gelebt haben und diesem Staat in ihrer Mehrheit, wie wir spätestens seit 1989 wissen, nicht gerade in unkritischer Sympathie verbunden waren. Aber sie erkennen ihn schon gar nicht in den oft westlicherseits produzierten Darstellungen, einschließlich jener des »Forschungsverbunds SED-Staat«.
Was sie jedoch sehr gut erkennen dürften, weil sie es 40 Jahre lang selbst erlebt haben, ist die propagandistische Zielstellung des ihnen vermittelten Bildes auf ihr eigenes Leben. Auch in der DDR wurde ihnen in vielen Büchern, Filmen, Zeitungsartikeln nicht die Wirklichkeit ihres Landes vermittelt, sondern ein von ideologischen Interessen geprägtes Bild verordnet. Das passiert nun erneut, wenn auch mit gänzlich entgegengesetzter Stoßrichtung. Wahrhaftiger ist dieses Geschichtsbild vor allem deshalb nicht, weil es nur von dem einen Extrem zum anderen wechselte. In beiden Fällen fehlt die Differenziertheit, also das eigentliche Wesensmerkmal wirklichen Lebens. Und deshalb werden die Bemühungen der FU-Forscher auch weiterhin fruchtlos bleiben und – wie in der DDR jene der Parteipropagandisten – auch künftig eher das Gegenteil erreichen. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, lässt sich eben durch noch so fleißige Ideologieproduktion nicht außer Kraft setzen.
Es ist schon historisch, dass der am Besten über etwas Bescheid weiß, der etwas darüber gelesen hat. Man sollte sich mehr mit Deutschlands Geschichte und ihrer Bewältigung insgesamt befassen und die Aufmerksamkeit nicht nur auf die DDR reduzieren. Wie konnte es zum Beispiel dazu kommen, daß es 60 Jahre dauerte bis Einzelheiten zu Kriegsverbrechen aus dem Kreis um Stauffenberg bekannt wurden, KZ- Ärzte unbehelligt unter uns leben u.a.. Es gibt noch viel zu tun in ganz Deutschland.
Und nun stelle man sich einmal vor – ganz hypothetisch natürlich -, nicht die „böse DDR“, sondern die „gute BRD“ wäre an ihren eigenen Unzulänglichkeiten und inneren Widersprüchen sowie äußeren Widrigkeiten und historischen Gegebenheiten gescheitert und schließlich (friedlich) implodiert. Wie würde man in der DDR heute wohl über die vergangene BRD denken und reden?
Die offizielle „Sprachregelung“ wäre vielleicht eine ähnliche wie die, die jüngst von der Forschergruppe der FU Berlin vorgelegt wurde. Und tatsächlich, auch wenn man es hier und heute nicht recht glauben mag, das über die BRD gezeichnete Bild wäre keineswegs allzu schmeichelhaft: Von der durch die kapitalistische Wirtschaftsmacht massenhaft produzierte Armut und Arbeitslosigkeit über die neuerliche Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik zum schleichenden Abbau elementarer Menschen- und Bürgerrechte im Zuge des Anti-Terrorkampfes, um nur einen kleinen Einblick in die mutmaßlichen Forschungsergebnisse der nach überlanger Arbeit sich selbst auch irgendwie legitimieren müssenden Forscher zu geben. (Das eben beschriebene Szenario ist zwar zeitgeschichtlich inkorrekt, weil 1989/90 noch nicht etwa vom Anti-Terrorkampf die Rede war, kann aber den Blick von „außen“ auf die gegenwärtigen Verhältnisse in der Bundesrepublik vielleicht etwas besser nachvollziehbar machen.)
Die in der BRD gelebt habenden Menschen würde sich in diesem einseitigen Geschichtsbild wahrscheinlich nur zum Teil wiederfinden. Sie würden ihre selbst erlebten Alltagserfahrungen mit den offiziell verlautbarten Forschungsergebnissen vergleichen und erstere (notwendig auch) verklärt als positiver und besser beurteilen, als sie tatsächlich waren. Aber sie wüßten wohl auch, die Vorzüge des „siegreichen“ überlegenen sozialistischen Wirtschafts- ud Gesellschaftssystems zu schätzen, indem der Mensch und nicht der Profit im Mittelpunkt der demokratischen Politik zu stehen hat. Das „Ende der Geschichte“ wäre damit zwar auch nicht erreicht, aber eine andere politisch-ökonomische Ausgangsposition und letztlich bessere humanökologische Zukunftsperspektive eröffnet worden in einer Welt ohne expandierende und rivalisierende kapitalistische Wirtschaften, die ihre historisch notwendigen Entwicklungsaufgaben längst erfüllt haben.
Geschichtsschreibung folgt in aller Regel Interessen – meist jenen des Staates, der auch durch sie seine Legitimität beweisen will. Das war in der DDR besonders ausgeprägt, aber auch die Bundesrepublik ist davon nicht frei. Forscher, die tatsächlich unabhängig zu bleiben versuchen, haben es in jedem System schwer; selbst wenn sie nicht verfolgt werden, gibt es ausreichend Möglichkeiten ihrer Behinderung. Denn sie brauchen irgendwoher Geld für ihre Arbeit und den Zugang zu Archivwen, die oft unter staatlicher Kontrolle stehen.
Schon von daher ist geschriebene Geschichtsdarstellung immer mit Vorsicht zu gemießen und das Urteil von Zeitzeugen vorzuziehen. Freilich auch nur dann, wenn es gelingt, ein repräsentatives Bild über deren Meinungen zu gewinnen und diese dann objektiv, von den Ergebnissen her zu interpretieren und nicht durch die Brille der eigenen Ansichten.
Danke für den Text, der bringt es ziemlich gut auf den Punkt.
Und Ansonsten: Geschichte schreibt immer der Sieger …