(pri) Für die Linkspartei wäre es unzweifelhaft von einem gewissen Vorteil gewesen, hätte sie sich ein wenig von den Piraten abgeschaut – und sei es nur im Methodischen, statt sie als lästige Konkurrenz allein mit Häme und Ablehnung zu überschütten. Vielleicht hätte sie dann den Charme einer Entscheidungsfindung erkannt, der sich auf eine Urforderung eigener politischer Praxis stützt, nämlich die maximale Beteiligung des einzelnen Mitglieds. Was die Piraten salopp »Schwarmintelligenz« und etwas hölzern »liquide Demokratie« nennen, ist das genaue Gegenteil dessen, wie in der Linkspartei nach einer neuen Führungsmannschaft gesucht wurde. Da wurde im Hinterzimmer gekungelt, aus den Schatten intrigiert, wurden Unterstützer-Bataillone zusammengestellt und Lagerpakete geschnürt – wobei einer stets außen vor blieb, die Parteibasis, die eigentlich der Souverän sein sollte.
Dass die Piraten optimale Beteiligung aller Interessierten an politischen Entscheidungen zu organisieren versuchen, macht nicht unwesentlich das Geheimnis ihres Erfolgs aus. Dass die Linkspartei eine solche Vorgehensweise mit aller Entschlossenheit zu verhindern bemüht war, erklärt zu großen Teilen ihre derzeitige Misserfolgssträhne. Hätte sie ihre Mitglieder ehrlich mitentscheiden lassen, und wenn nicht über das noch etwas gewöhnungsbedürftige Internet, so vielleicht durch eine Mitgliederbefragung oder wenigstens durch eine offene Vorstandswahl, wie sie die Piraten auf deren jüngstem Parteitag zwar langwierig, aber am Ende erfolgreich praktizierten, gäbe es heute eine Parteiführung, die mit der Autorität der Basis ausgestattet wäre und an deren Spitze mit hoher Wahrscheinlichkeit Oskar Lafontaine stünde und in der ansonsten Pluralität und Teamfähigkeit zusammengingen. Soviel Vertrauen in die »Weisheit des Kollektivs« wäre eigentlich von Politikern der Linken zu erwarten gewesen.
Statt dessen könnte es nun auf dem Göttinger Parteitag wieder nur zu einer Zwischenlösung, einer Notlösung kommen, verbunden mit der Fortsetzung des Richtungsstreits bis hin zur schon unverhohlen angekündigten Korrektur des gerade erst fast einstimmig beschlossenen Parteiprogramms. Für die Wahlaussichten der Linken wäre das verheerend; gerade im Westen liefen ihr die ohnehin gegenüber der »Nachfolgepartei« misstrauischen Wähler in Scharen davon, wie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bereits geschehen. Selbst Achtungserfolge in den neuen Bundesländern würden dies kaum ausgleichen können, und die »Reformer« stünden mit leeren Händen da; auch dafür gibt es mit der Berliner Abgeordnetenhauswahl bereits ein aufschlussreiches Beispiel.
Auch wenn das kaum jemand auszusprechen wagt: 2013 könnte es der Linkspartei ähnlich ergeben wie 2002, dass sie also nur mit einigen wenigen Direktmandaten in den Bundestag einzieht und ansonsten sich bundesweit nur außerparlamentarisch Gehör verschaffen kann. Rettung vor solchem Abgrund ist bis zur Stunde nicht in Sicht – außer vielleicht paradoxerweise von der SPD. Zwar nicht durch ein Bündnisangebot – zu dem sich die Thüringer Sozialdemokratie angesichts linker Stärke auf Augenhöhe notgedrungen durchrang, von dem jedoch eine Bundes-SPD, die nicht einmal erstarkende Grüne zu ertragen vermag, weit entfernt ist – sondern ganz profan durch die Auswahl ihres Kanzlerkandidaten. Denn zwei der bisherigen Favoriten – Steinbrück und Steinmeier – stehen aus Sicht des traditionellen SPD-Wählers eher für eine unternehmerfreundliche und arbeitnehmerfeindliche Politik, und der dritte – Parteichef Sigmar Gabriel – gilt als irrlichternde, nicht so recht ernst zu nehmende Figur. Links von diesem Trio bleibt allemal genügend Platz für eine Partei, die konsequent die Interessen der Schwachen der Gesellschaft vertritt – sofern sie es denn glaubwürdig, einig und sachbezogen tut.
Aber selbst wenn sich für die Linke das Trauma der PDS von 2002 wiederholte, als diese die Fünf-Prozent-Marke verfehlte und nur noch durch die Direktmandate von Gesine Lötzsch und Petra Pau im Bundestag vertreten war (wozu übrigens Dietmar Bartsch nicht unwesentlich beigetragen hatte), ist ihre Wiederauferstehung sicher, denn die dann zu erwartende rot-grüne oder rot-grün-gelbe oder gar schwarz-rote Politik wird sehr schnell die Sehnsucht nach Opposition dagegen wecken und die Linke – wie 2005, als nach dem Hartz-IV-Kahlschlag die PDS, noch ohne WASG, auf 8,7 Prozent kam – wieder ins Parlament katapultieren. Wie die Freien Demokraten, die im Ernstfall auf der Bundesebene wohl stets genügend Besserverdienende zusammenbekommen, die sich von der FDP eine weitere Verbesserung ihres »Verdienstes« versprechen, hat auch die Linke inzwischen jenseits aller vagabundierenden Protestwähler eine Grundklientel, die sich auf sie zumindest dann besinnt, wenn die SPD allzu weit vom sozialen Tugendpfad abweicht. Da darauf seit mindestens einem Jahrhundert allemal Verlass ist, kann sich die Linkspartei keinen besseren Rettungsschirm als die Sozialdemokratie wünschen.
Die Linkspartei will einen „demokratischen Sozialismus“, eine Begriffsverdopplung als Zielstellung. „Reale“ Demokratie ist ohne Sozialismus nicht möglich, „realer“ Sozialismus nicht ohne Demokratie. Der „demokratische Kapitalismus“ oder (umgangssprachlich abgemildert) die „soziale Marktwirtschaft“ zeigt dagegen den offenen Gegensatz der Begriffe. Wenn der Reichtum eines Staates sich in der Hand einer Minderheit befindet, kann Demokratie lediglich „versucht“ werden. Reichtum bedeutet Macht und die hat ihren Sitz in den Vorständen der Banken und Konzerne – nicht(!) in den Parlamenten. Die programmatische Nähe zum linken Flügel der SPD ist unverkennbar. Der Wähler will kein Plagiat, sondern entscheidet sich für das Original. Deshalb bleibt die Linke eine Regionalpartei der neuen Bundesländer, wie die CSU in Bayern.