Wohl noch nie in der Geschichte der USA hat eine der beiden großen Parteien einen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen geschickt, der so wenig die aktuellen Grundströmungen der amerikanischen Gesellschaft verkörpert wie Barack Obama. Diese Aussage mag überraschen angesichts des Rummels, der um die Person des Senators von Illinois gemacht wird und auch angesichts der wie an einen Erlöser gerichteten Erwartungen in der Welt außerhalb der USA. Doch in dem nordamerikanischen Land selbst herrscht eine Atmosphäre, die zwar von Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Bush-Politik geprägt ist, dabei jedoch weniger ihren Inhalt als ihre Methoden in Frage stellt, weil diese sich offensichtlich als untauglich erwiesen haben, materielle Sicherheit wenigstens für eine Mehrheit der Amerikaner zu gewährleisten und zugleich die Größe des Landes im weltweiten Wettbewerb überzeugend darzustellen.
Die USA als unangefochtene Vormacht auf dem Erdball zu präsentieren und vor allem dadurch die Lösung innenpolitischer Problemle, besonders auf ökonomischem Gebiet, zu gewährleisten – das erwarten die Amerikaner von ihrem Präsidenten. Dafür jedoch hat Barack Obama bisher kaum Konzepte vorgelegt. Mehr als Hoffnung auf einen Wandel konnte er nicht vermitteln, und immer mehr Amerikanern genügt das angesichts wachsender Unsicherheiten in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld nicht mehr. Hinzu kommt, dass eine Mehrheit der amerikanischen Wähler, die sich immerhin zweimal für George W. Bush entschied, deutlich konservativere Auffassungen vertritt als jene, die allgemein mit Obama in Zusammenhang gebracht werden.
Diese Diskrepanzen werden sich über kurz oder lang als das eigentliche Dilemma Obamas erweisen; sie reduzieren seine künftigen Möglichkeiten im Grunde auf drei Optionen, von denen keine sonderlich optimistisch aussieht. Zum ersten ist noch längst nicht entschieden, dass Barack Obama die Präsidentschaftswahl überhaupt gewinnt. Gerade weil sich die amerikanischen Wähler weniger vom Inhalt als von der Form der Bush-Politik enttäuscht fühlen, hat Obamas republikanischer Rivale John McCain gute Chancen, verspricht er doch hart in der Sache zu bleiben und nur in den Methoden flexibler zu werden. Seine Nähe zum bisherigen Präsidenten und seine Verankerung im Washingtoner Establishment muss sich insofern nicht als Nachteil erweisen; für viele Amerikaner macht ihn das in vieler Hinsicht glaubwürdiger als den Newcomer von den Demokraten. Das ist auch der Grund, dass sich viele Anhänger von Hillary Clinton so schwer tun, zu Obama überzulaufen – ein Faktor, der die Wahl durchaus gegen Obama entscheiden kann. Und McCain weiß um die konservative Grundstimmung im Land. Mit der Wahl seiner Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, eine strenggläubigen Waffenlobbyistin und Abtreibungsgegnerin aus Alaska, trägt er dem Rechnung und gibt all jenen Wählern, die für die Siege Bushs zumindest mitentscheidend waren, eine Heimat.
Wenn jedoch Obama die Wahl im November tatsächlich gewinnt, wird er schnell spüren, wie sehr er sich auf den Mainstream im Land einstellen und daher von vielen seiner jetzigen Versprechungen Abstand nehmen muss. Dieser Prozess ist übrigens schon längst im Gange. Vergleicht man die erste Wahlkampfreden des schwarzen Kandidaten mit den Aussagen des Parteitages in Denver, ist vieles vager geworden. Er will zwar den Irakkrieg beenden, gibt aber kein Datum für den Rückzug mehr an. Er will zwar die demokratischen Rechte der Amerikaner stärken, sagt aber nicht, welche der einschränkenden Gesetze Bushs er zu revidieren gedenkt. Er stimmte gegen die restriktivere Anwendung der Waffengesetze. Dass er ein Anhänger der Todesstrafe ist, bestreitet er nicht. Lediglich auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat er jüngst einiges konkretisiert, doch inwieweit zum Beispiel Steuersenkungen für den Mittelstand angesichts der Krisensymptome in der USA-Wirtschaft tatsächlich realisierbar sind, bleibt abzuwarten.
Sollte Barack Obama aber mit »Change« ernst machen wollen, begänne er tatsächlich mit substantiellen Reformen, änderte er die amerikanische Politik grundsätzlich, dann droht ihm ein besonders düsteres Schicksal, wie ein Blick in die amerikanische Geschichte zeigt. Noch immer wurden im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« jene, die gegen die mächtigen Gruppen im Hintergrund Politik zu machen versuchten, deren Einfluss auf die Geschicke der Vereinigten Staaten einschränken wollten, sich gegen erzkonservative Strömungen stemmten, daran wirksam gehindert – bis hin zu ihrer physischen Beseitigung. Insofern könnte es ein Menetekel sein, dass sich Obama auch als der Erbe zweier großer Amerikaner – John F. Kennedy und Martin Luther King – inszenierte, die Attentaten zum Opfer fielen.
Eine Wahl ohne echte Auswahl, die zur Qual werden kann, kennt man auch in Deutschland zur Genüge. Große Worte dürfen da natürlich nicht fehlen.
So in etwa und doch völlig anders scheint sich die derzeitige Lage für die Anfang November stattfindende US-Präsidentenwahl darzustellen.
Nur eben, daß die USA die einzig verbliebene Supermacht in der Welt sind (das muß aber nicht unangefochten und auch keineswegs ohne außenpolitische Sorgen heißen). Außerdem geht es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten in bestimmten Bereichen immer noch etwas unaufgeklärter und handgreiflicher zu als im „alten Europa“: Religiöse Fundamentalisten, bestens organisierte Waffenlobbyisten, latenter (aber auch offener) Rassismus und nicht zuletzt die Wall Street und der militärisch-industrielle Komplex halten die USA, die Obama zum „Change“ bringen will, nach wie vor in Atem und beeinflussen die Politik nachhaltig. „Yes, we can“ – hoffentlich.