(pri) Statt die Auseinandersetzung zu suchen lässt die Kanzlerin alle Attacken der politischen Gegner an sich abperlen. Hundert Tage vor der Bundestageswahl will Angela Merkel niemanden verprellen und sich damit alle Optionen für den Machterhalt bewahren. Ihre Orientierung auf Konsens statt Konfrontation könnte die Ouvertüre zu einer erneuten großen Koalition sein.
Selbst in der CDU haben sich viele die Augen gerieben, als die Parteivorsitzende vor zwei Wochen bei einer Internetdiskussion allerlei Wahlversprechen aus dem Hut zauberte. Eine erhöhte Mütterrente, mehr Kindergeld, aufgestockte Kinderfreibeträge und zusätzliches Geld für den Straßenbau kündigte Angela Merkel vollmundig an. Konsterniert kommentierte Michael Fuchs, Vizevorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, diese überraschende Großzügigkeit: »Wir können nicht gleichzeitig gegen grüne Pläne für Steuererhöhungen wettern und selbst neue Ausgaben planen.« Und der Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, Josef Schlarmann, prognostizierte: »Solche sozialen Wohltaten sind typische Wahlgeschenke, von denen jeder weiß, dass sie vor der Wahl ins Schaufenster gelegt werden, um nach der Wahl wieder hinter der Theke zu verschwinden.«
Doch die Kanzlerin ficht das ebenso wenig an wie der Vorwurf, sie habe wieder einmal von anderen abgeschrieben, denn tatsächlich war Gleiches oder zumindest Ähnliches bereits von SPD, Grünen und sogar der Linkspartei angekündigt worden. Darunter auch die Forderung nach einer Deckelung der teilweise sprunghaft steigenden Mieten, die Angela Merkel fast vollinhaltlich übernahm und absolut nichts dabei fand: »Ja, es war eine SPD-Idee, von CDU-Bürgermeistern übernommen, anschließend von CDU und CSU. Jetzt müssen wir es bloß noch umsetzen. Dazu muss ich nur noch die FDP überzeugen, aber daran arbeite ich«, erklärte sie forsch.
Das allerdings dürfte ihr schwer fallen, wie ablehnende Stellungnahmen des derzeitigen Koalitionspartners sofort zeigten, während die weitgehende Übereinstimmung mit der SPD ins Auge sticht. Dienten bislang Wahlprogramme auch dazu, Alternativen zum Konkurrenten aufzuzeigen, will Angela Merkel offenbar mit dieser Gewohnheit brechen und im Wahlkampf die Kontroverse durch den Konsens ersetzen. Doch so überraschend dies auf den ersten Blick erscheint, gibt es dafür zumindest aus ihrer Sicht gute Gründe.
Zum einen kann sich die Kanzlerin trotz demoskopischen Aufwinds für ihre Partei des Machterhalts keineswegs sicher sein. Zwar liegen CDU und CSU inzwischen stabil über 40 Prozent, während die SPD die 30-Prozent-Marke nicht überschreitet, doch nützt ihnen das angesichts der latenten Schwäche der FDP wenig. Selbst wenn die Freien Demokraten wieder genügend verschreckte Besserverdienende mobilisieren können, die sie – in welchem Zustand auch immer – im Parlament nicht missen wollen, kommen diese zur übergroßen Mehrheit aus dem Lager der derzeitigen Koalitionäre, was auf ein Nullsummenspiel hinausläuft. Schon bei den letzten Landtagswahlen konnten unerwartet starke FDP-Ergebnisse schwarz-gelbe Regierungen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen nicht retten und in Nordrhein-Westfalen Rot-Grün nicht aus dem Amt werfen, weil sie stets mit Verlusten der CDU erkauft waren. Durch die neue Anti-Euro-Partei, der drei Prozent vorausgesagt werden, ist die Lage noch unsicherer geworden.
Merkel verzichtet weitgehend darauf, für ihre derzeitige Koalition zu werben, weil ihr dies angesichts des trüben Bildes, das Schwarz-Gelb vermittelt, wenig mobilisierend erscheint. Dass sie gleichzeitig immer stärker Gemeinsamkeiten mit der SPD ins Spiel bringt und dies nun sogar mit einer gewissen Koketterie verteidigt, lässt eine machtpolitische Orientierung erkennen, die sich offensichtlich durch die Erfahrungen mit ihren bisherigen Regierungspartnern herausbildete. Für sie funktionierte die große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 weitaus geräuschloser als das schwarz-gelbe Bündnis der vergangenen vier Jahre. Eine Neuauflage von Schwarz-Rot mit seiner stabilen Mehrheit würde jene pragmatische Politik ermöglichen, die der CDU-Vorsitzenden liegt und die dann auch der Bundesrat nicht mehr störte. Zudem hat sie erfahren, dass eine unionsgeführte große Koalition ihrer Partei keine bedrohlichen Einbußen bei kommenden Wahlen beschert.
Vor allem Letzteres stellt sich freilich für die SPD ganz anders dar. Sie fuhr 2009 mit 23 Prozent das schlechteste Resultat ihrer bundesdeutschen Geschichte ein und wehrt sich derzeit noch mit Händen und Füßen gegen eine Neuauflage dieses selbstzerstörerischen Bündnisses. Am Wahlabend könnte jedoch die Alternative in zwei gleichermaßen unerwünschten Varianten bestehen. Zum einen dem Verharren in der Opposition, die schon 2005 als »Mist« bezeichnet und deshalb zugunsten der großen Koalition verworfen wurde. Zum anderen dem Wagnis eines rot-grün-roten Bündnisses, das man eigentlich von vorneherein auch dadurch ausschließen wollte, dass für die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl nur erklärte Gegner einer solchen Konstellation zugelassen wurden, was sich jetzt als schwere Hypothek erweist.
Dieses an Buridans Esel erinnernde sozialdemokratische Dilemma zwischen zwei Heuhaufen zu verhungern sieht natürlich auch Angela Merkel, und sie versucht deshalb hartnäckig darauf Einfluss zu nehmen, dass sich die SPD für ihr »Angebot« entscheidet. Sie weiß um die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit und fürchtet bei der Wahl eine Mehrheit links von der Union; das Risiko, dass diese sich trotz aller Ausschließungsrhetorik gegenüber der Linkspartei materialisieren könnte, will sie nicht eingehen. Daher lockt sie jene rechten Sozialdemokraten, für die Mitregieren wichtiger ist als sozialdemokratische Grundpositionen, indem sie ihnen ein Stück weit entgegenkommt – auch auf die Gefahr hin, in der eigenen Partei auf Unverständnis zu stoßen.
Denn auch das hat die CDU-Vorsitzende gelernt: Dass ihre Partei längst nicht mehr jener ideologische Kampfbund ist, der sie unter Adenauer und auch unter Kohl noch war. Jene Gruppe in der Union, die noch an alten, oft weniger konservativen als reaktionären Glaubenssätzen festhalten will, wird immer kleiner – und damit unbedeutender. Zwar plagt manchen Christdemokraten und Christsozialen angesichts schneller Wendungen in Merkels Politik ein latentes Unbehagen, doch die von ihr meisterhaft inszenierte Wohlfühlatmosphäre, ihr wohlkalkuliert aufgebautes »Mutti«-Image überdecken manche Bauchschmerzen alter Unionskämpen, zumal dann, wenn die Aussicht auf machterhaltende Wahlergebnisse besteht. Genau deshalb sind auch aus München keine Widerworte zu hören, steht doch die CSU selbst im Wahlkampf und jubelt jedem zu, der ihre diesbezüglichen Chancen erhöht.
Angela Merkel fällt solches Lavieren umso leichter, als ihr selbst ideologischer Dogmatismus weitgehend fremd ist. Das war schon in der DDR so, wo sie kühl abwog, was ihr nützte und was sie jenseits innerer Überzeugungen akzeptieren musste, um voranzukommen. Das bewies sie 1989 mit dem Beitritt zum Demokratischen Aufbruch, dem damals auch die später zur SPD gewechselten Theologen Friedrich Schorlemmer und Edelbert Richter angehörten, einen Weg, den sich die Pfarrerstochter nach eigener Aussage auch für sich hätte vorstellen können, doch: »Die haben so komische Lieder gesungen wie ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹«, wie sie einer ihrer Biografinnen verriet.
Als Parteivorsitzende erst noch unsicher, inwieweit sie dem ideologischen Kompass der Union folgen sollte, wäre sie mit dem neoliberalen Programm des Leipziger Parteitages 2003 zwei Jahre später bei der Bundestagswahl beinahe gescheitert, was offensichtlich ein Umdenken einleitete. Denn seitdem hat sie Ideologieferne bewusst zu einem ihrer Markenzeichen gemacht und ist damit gut gefahren. Zwar bewirkt das oft inhaltliche Beliebigkeit, doch die nimmt die Kanzlerin in Kauf, solange nicht Machtverlust droht. Schließlich wird der Praxistest erst nach dem Wahltag fällig. Dafür aber hat Angela Merkel längst vorgesorgt – und gibt damit dem eingangs zitierten Schlarmann Recht. Der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder schickte ihrem wahlkämpferischen Füllhorn auf der Stelle den Satz nach: »Was wir in unserem Wahlprogramm versprechen, steht unter einem Finanzierungsvorbehalt.« Was nicht mehr und nicht weniger ist als ein verkapptes Dementi.
(Erschienen in: »Neues Deutschland« vom 14. Juni 2013)
Die Zeitgeist-Kanzlerin Angela Merkel sollte den IQ-Preisträger Richard David Precht befragen. Vielleicht schreibt der dann auch ein richtungweisendes Buch zur „grundlegenden Reform“ der Parteien in Deutschland. Diese Reform sollte mit einer Vereinfachung der Parteibezeichnungen beginnen: nach dem Vorbild DIE LINKE. Da bereits in der Diskussion, könnte folgen: DIE RECHTE. Die erneute Koalition (als Vorstufe einer späteren Vereinigung) zwischen CDU/CSU und SPD im September 2013 wäre dann DIE MITTE. Für das Bündnis 90/Grüne und die FDP ( aber auch für weitere Neuschöpfungen, wie die Alternative für Deutschland) gäbe es damit konkrete Flügel-Zuordnungen, eine eindeutige Hilfe bei der Stimmabgabe für den Wahlbürger.