Das Internet – eine herrschsüchtige Krücke

(pri) Wer seinen Glauben an das Internet so total verloren hat, dass er es – zumindest in seiner jetzigen Gestalt – am liebsten auf den Müllhaufen der Geschichte werfen möchte, beweist damit doch nur , dass er das Netz noch immer als so etwas wie den »Mittelpunkt des Weltalls«, wie die Gottesgestalt des Menschen oder ein Über-Ich betrachtet, es also gigantisch überschätzt. Tatsächlich jedoch ist es nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Hilfsmittel – gewiss hoch effizient, universell, extrem nützlich, aber doch nur als Krücke, geeignet, den aufrechten Gang des Menschen zu erleichtern. Es hilft dabei, die eigentliche menschliche Bestimmung, sich in seiner Welt zu bewegen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie sich nutzbar zu machen, besser zu bewältigen.

 

Wer glaubte, Demokratisierung, Sozialisation, der Siegeszug von Bildung und Kultur seien schon durch das reine Vorhandensein des world wide web irreversibel gesichert, war tatsächlich nichts als ein Träumer, doch das Zerplatzen des Traums nun zur »vierten Kränkung der Menschheit« hochzustilisieren, ist nur die Fortsetzung solcher Illusion. Mehr noch, es ist eine Kränkung des Menschen, der damit in die zweite Reihe gestellt, zu einem Erfüllungsgehilfen von Technik gemacht wird. Die Krücke wird zum Herrscher – ein Vorgang, der sich durch das Internet tatsächlich vollzogen hat und weiter vollzieht. Man weiß inzwischen, wie abhängig sich Millionen von Menschen von ihren digitalen Helfern fühlen, wie sie ohne sie im schlimmsten Fall nicht mehr glauben leben zu können oder auch nur wertvolle Zeit mit nutzlosem »Informations«-Konsum vergeuden.

 

Derlei Entwicklungen sind nicht neu. Als das Auto erfunden wurde, war das auch ein Sprung bei der Bewältigung von Lebensprozessen durch den Menschen – und auch da verabsolutierte sich für manchen diese Hilfsfunktion des Automobils zum Fetisch – übrigens bis heute, wo die Fahrleistung des Gefährts oft weit weniger wichtig ist als seine Äußerlichkeit, die sich doch so gut zur Kompensation eigener Minderwertigkeitskomplexe eignet. Wie auch beim Mobiltelefon, dessen eigentliche Funktion längst nebensächlich geworden ist zu Gunsten zahlreicher anderer Verrichtungen, zu denen der »User« durch immer neue »App« verlockt und verleitet wird – nicht selten weg von Demokratisierung, Sozialisation, Bildungs- und Kulturgenuss.

 

Aber wie bei jedem Hilfsmittel, jeder technischen Neuerung gilt auch hier: Nicht alles muss man mitmachen. Nicht alles sollte man mitmachen. Maßstab der Nutzung solcher Innovationen sollte die nüchterne Prüfung von Vor- und Nachteil, Gewinn und Verlust sein. Nur dann bleibt das Hilfsmittel der Diener des Menschen und wird nicht zum Herrscher, so sehr es das auch – übrigens stets mit menschlicher Hilfe – versuchen mag. Die wohlfeile Mahnung an Politik, Wirtschaft, Militär, nicht alles, was technisch möglich sei, auch zu tun – sie gilt ebenso für den Einzelnen. Auch er bewahrt nur dann seine Integrität, wenn er die Herrschaft über seine Hilfsmittel behält.

 

Solcher Selbstverzicht ist keine Beschränkung eigener Möglichkeit, im Gegenteil. Selbst der Staat profitiert nicht davon, dass er da oder dort wie im Rausch alles glaubt tun zu müssen, was technisch möglich ist. Auch die umfassendste Sammlung von Informationen über alles und jedes enthebt am Ende den Menschen nicht der Aufgabe, seine eigene Wertung zu treffen und danach zu handeln. Schon die Stasi erstickte schließlich an der Informationsmasse und war gar nicht mehr in der Lage, das Wichtige vom Unwesentlichen zu trennen – einer der Gründe dafür, dass sie das Ende der DDR nicht vorauszusehen vermochte. Ganz ähnlich ergeht es der NSA, die zwar uferlos sammelt, aber Anschläge nicht wirklich verhindern kann – weder in den US-Protektoraten Irak und Afghanistan noch im eigenen Land. Über die Attentäter von Boston im vergangenen April wusste man alles, einschließlich ihrer terroristischen Karriere, doch da sie aus Tschetschenien kamen und insofern nur als Gefahr für Russland galten, wurden die Hinweise fehlinterpretiert – durch Menschen mit einem bestimmten ideologischen Hintergrund, und die aufgehäuften Informationen waren genau dadurch auf einmal wertlos.

 

Und auch der Einzelne spürt immer deutlicher, dass er trotz – oder gerade wegen – des unbegrenzten Nachrichtenangebots kaum noch weiß, was wichtig ist und was nicht. Die Informationsmasse macht hilflos, die dadurch entstehende Unsicherheit verstört. Tatsächlich gewinnt allmählich die Erkenntnis Raum, dass die fortgesetzte, wahllose, unkritische Aufnahme von Informationen Wissen weniger vermehrt als eher blockiert. Die Orientierung im Dschungel des weltweiten Netzes geht verloren – und schon gibt es dafür – wieder im Netz – die Orientierungshilfen. Apps, die den Nachrichtendschungel zu ordnen versuchen, die bewerten, ordnen, strukturieren. Das Internet wird auf seine eigentliche Funktion zurückverwiesen – Hilfsmittel zu sein – und nicht das Nonplusultra menschlichen Denkens und Handelns. Es kann unterstützen, aber die eigentliche schöpferische Leistung muss jeder selbst erbringen. Eigentlich eine Binsenweisheit.

Übrigens: Solche Hilfsmittel, die jetzt die Informationsflut ordnen, gibt es, seit der Mensch begann, über seinen Tellerrand zu blicken. Als die ersten von ihnen auftauchten, nannte man sie Zeitungen.

 

One Reply to “Das Internet – eine herrschsüchtige Krücke”

  1. Die Gedanken sind frei! Das wissen auch alle Betreiber von öffentlichen Kommunikationsmitteln. Wer nun deshalb erstaunt reagiert oder sich enttäuscht zeigt – ist weltfremd und sollte seinen Platz in der Gesellschaft überprüfen.

    „Feind hört mit!“ stand als Plakat-Warnung neben jedem Telefon bis 1945.
    Nach 1945 war noch lange Zeit die Aufforderung zu lesen: „Fasse dich kurz!“ – in den öffentlichen Telefonzellen. Ob damit gemeint war, daß unter drei Minuten Sprechzeit das Telefon nicht lokalisiert werden konnte?

    Alles praktische Hinweise, die heute keiner mehr in seiner Selbstverwirklichung befolgen will …

    Beispielhaft hat sich unsere Angela Merkel zu diesem „Skandal“ verhalten: Wie immer emotionslos, wortkarg und in duldendem Schweigen.
    Natürlich wußte sie (auch hier) vorher (!) Bescheid: „Angela, es tut uns leid – wir haben eben keinen Friedensvertrag!“

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