(pri) Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat in einem Jahr Bündnis mit CDU und CSU viel bewegt, aber wenig erreicht. Er möchte seine Partei in der Mitte verorten, aber viele Sozialdemokraten sehnen sich nach einer Alternative zur Großen Koalition. Die wachsende Unruhe in der Partei versucht Gabriel auszusitzen.
Es rumort in der SPD. Vor gut sechs Wochen versagte eine Mehrheit beim Parteikonvent über das Freihandelsabkommen TTIP dem Parteichef beinahe die Gefolgschaft. Vier Wochen später artikulierten Genossen Zweifel am stringenten Sparkurs der schwarz-roten Koalition. Auch seither immer mal wieder kleine oder größere Spitzen gegen den Regierungspartner, sei es zur Maut oder zur Steuerpolitik. Ein Aufruhr ist das zwar noch nicht, aber dass Sigmar Gabriel nervös wird, merkte man an seinen Reaktionen. Vergessen war da die staatsmännische Attitüde, die er sich vor Jahresfrist zugelegt hatte, als es darum ging, die Parteibasis für die Große Koalition zu gewinnen. Jetzt griff er die Kritiker frontal an, konstatierte, sie »kapierten es einfach nicht«, beklagte eine »Kultur des Misstrauens«.
Sigmar Gabriel fühlt sich als Vizekanzler und Wirtschaftsminister persönlich angegriffen, wenn die Koalitionspolitik kritisiert wird. Er spürt die schleichende Erosion seiner Autorität, weil trotz aller Umtriebigkeit Erfolge bisher ausblieben. Mit lediglich 25,7 Prozent der Stimmen kam die SPD aus den Bundestagswahlen 2013, und mehr versprechen ihr die Demoskopen noch immer nicht. Bislang tat dies der Parteivorsitzende stets mit dem Argument ab, Umfragen beschrieben nur Stimmungen, es gehe aber um Stimmen. Aber auch da gab es nur in Sachsen einen Bonus von gut 15 000 Wählern, das prozentuale Ergebnis (12,36 ) blieb dabei mager. In Thüringen bedeutete der Absturz auf 12,41 Prozent 78 474 Wähler Verlust, und selbst in Brandenburg, wo die SPD mit 31,92 Prozent wieder stärkste Kraft wurde, kehrten ihr 143 663 Stimmbürger den Rücken.
Gabriels Hoffnung war und ist es, durch Festschreibung einiger wichtiger SPD-Positionen in der Koalitionsvereinbarung, ihrer schnellen Realisierung und folgender konstruktiver Arbeit im Bündnis mit CDU und CSU der eigenen Partei so viel Kredit beim Wähler zu verschaffen, dass es dereinst einmal für Mehrheit und damit Kanzlerschaft reichen könnte. Mindestlohn, Rente mit 63 für langjährige Beitragszahler, Mietpreisbremse, Wende in der Energiepolitik sollten zu sozialdemokratischen Markenzeichen werden, was aber nur teilweise gelang.
Zum einen zwang die Unionsmehrheit die SPD zu schmerzhaften Kompromissen, zum anderen vermochten es CDU und CSU, sich ebenfalls als Sachwalter der vermeintlich sozialdemokratischen Anliegen darzustellen. Der Arbeitnehmerflügel der Union profilierte sich in Fragen Mindestlohn, der Rente mit 63 setzten die C-Parteien die noch ertragreichere Mütterrente entgegen, für die Mietpreisbremse plädierte die Kanzlerin persönlich, und bei der Energiewende setzte die Union so viele Vergünstigungen für die Wirtschaft auf Kosten der Verbraucher durch, dass sie für den zuständigen Minister Gabriel als Aushängeschild kaum noch taugt.
Kein Wunder also, dass sich bei einer kürzlichen Umfrage des Emnid-Instituts die Anhänger der CDU zufriedener mit der Arbeit ihrer Partei zeigten als die SPD-Sympathisanten mit den Genossen. Und selbst bei Linkspartei und der Alternative für Deutschland (AfD), um deren Wähler die SPD wirbt, bekamen die Christdemokraten bessere Noten als die Sozialdemokraten. Die SPD ist eben mit einer ganz anderen Erwartungshaltung konfrontiert als CDU und CSU. Von letzteren weiß man, wessen Interessenvertreter sie sind und ist fast schon dankbar, wenn sie – siehe die Mütterrente – auch einmal den Schlechterverdienenden etwas zukommen lassen.
Von der SPD jedoch erwarten die Bürger in erster Linie soziale Kompetenz und nehmen ihr übel, wenn sie sich – siehe die Agenda 2010 – von solcher Reputation forsch verabschiedet und hernach über kosmetische Korrekturen nicht hinauskommt. Wenn dann der Parteivorsitzende auch noch den linken Flügel der SPD stutzt, dafür aber jene ermutigt, die einer erneuten Annäherung an die Wirtschaft das Wort reden, sind verlorene Wähler kaum zurückzugewinnen. Derweil wächst auch in der Partei die Suche nach Alternativen, selbst dann, wenn – wie in Thüringen – die SPD dazu als Juniorpartner in eine Koalition mit der Linkspartei eintreten müsste.
Die linke Verheißung, die da plötzlich im Raum steht, stört Gabriels Kreise gewaltig – zumal sie nicht nur die Seele der Partei anrührt, was der Vorsitzende vielleicht noch als nostalgische Träumerei abtun könnte, sondern auch den Genossen Trend im Rücken hat. Wie er damit umgehen soll, weiß Gabriel offensichtlich noch nicht. Vor einem Jahr hatte er die Diskussion über eine rechnerisch durchaus mögliche rot-rot-grüne Zusammenarbeit nach der Bundestagswahl mit allerlei, zum Teil ziemlich hanebüchenen Argumenten ausgetreten und die Parteibasis – auch durch hartes Verhandeln mit den Unionsparteien – für eine erneute Große Koalition gewinnen können. Doch nach nicht einmal zwölf Monaten ist Rot-Rot-Grün schon wieder eine viel diskutierte Variante für zukünftige Politik.
Zwar versuchen Gabriels Sprecher sorgsam den Eindruck zu vermeiden, die Thüringer Entwicklung habe irgend etwas mit der Bundespolitik zu tun. Eine kurzschlüssige Extrapolation verbietet sich tatsächlich, doch langfristig stellt die Thüringer Konstellation eine grundsätzliche Herausforderung für die SPD und ihre Stellung im Parteiengefüge dar. Bislang verstand sie sich als die führende Partei im linken Spektrum – eine Position, die jedoch immer weniger mit praktischer Politik unterfüttert wurde. Jetzt fürchten nicht wenige Sozialdemokraten, dass die Linkspartei die Chance nutzen könnte, diesbezüglich an die Stelle der SPD zu treten.
Stephan Hilsberg, einer der Mitbegründer der Ost-SPD, gehört zu ihnen. »Die LINKE kann so über Jahrzehnte hinweg stärkste Partei im linken Lager bleiben – während wir nur noch zweite oder dritte Kraft sein werden«, befürchtet er, ohne freilich hinzuzufügen, dass vor allem ihre Politik der letzten Jahre die SPD in diese Lage gebracht hat. Der neue Thüringer SPD-Chef Andreas Bausewein hat dies klar erkannt, weshalb er nicht zulassen will, »dass Wähler links liegengelassen werden«. Nur wenn sich seine Partei »links von der Mitte« positioniere, könnten sie zurückgewonnen werden. Damit steht Bausewein deutlich im Widerspruch zum Bundesvorsitzenden, der die SPD bislang auch vor der Aufgabe sah, alle Bewegungen links von ihr in die Mitte, in den Mainstream zu ziehen. Eine Linkspartei in Verantwortung jedoch, die von ihrer Programmatik her das ganze Gegenteil verfolgt, könnte auf Sozialdemokraten durchaus einen gewissen Sog ausüben, sich wieder stärker ihrer Wurzeln, ihrer langjährigen Tradition als linke Partei zu besinnen.
Der SPD-Vorsitzende weiß natürlich um all diese Zusammenhänge und Unwägbarkeiten – und hält sich deshalb von ihnen demonstrativ fern. »Was immer da passiert«, sagte er, als sich das rot-rot-grüne Bündnis in Thüringen abzeichnete, »das wird eine regionale Entscheidung bleiben.« Kurzfristig mag er insgeheim auf ein Scheitern des risikobehafteten Experiments hoffen. Sollte das nicht geschehen, wird er es weiter zu ignorieren versuchen. Als Vertreter der eher rechtssozialdemokratisch ausgerichteten niedersächsischen SPD, als Ziehsohn der Glogowski, Schröder und Steinmeier sind ihm allzu linke Ausschläge in seiner Partei verdächtig, und er berücksichtigt natürlich auch, dass der starke rechte Flügel der SPD dafür nicht zu gewinnen ist .
Rot-Rot-Grün ist für Sigmar Gabriel keine Option – nicht von seiner Sozialisation her, und es fehlt ihm auch die dazu nötige Risikobereitschaft. Er sichert sich stets sorgfältig nach allen Seiten ab und dürfte längst auf die Fortführung von Schwarz-Rot gesetzt haben. Links sieht er mit der derzeitigen SPD-Politik keine Chancen, daher will er sich im Vergleich mit den Grünen als der zuverlässigere Partner für die Union erweisen. Es sind nur noch kleine Brötchen, die der Vorsitzende mit seiner einst stolzen Partei zu backen gedenkt.
(Erschienen in »Neues Deutschland« vom 5. November 2014)