(pri) Obwohl sich Geschichte vermeintlich nicht wiederholt, gibt es immer wieder erstaunliche Entwicklungen, die genau das Gegenteil nahe legen. Das gilt, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, für die Flüchtlingsproblematik, zum einen in der DDR der späten 1980er-Jahre und zum anderen für die derzeitige Situation an der europäischen Grenze im Mittelmeer.
Für die DDR begann die Fluchtwelle in den 1950er-Jahren und entwickelte sich schnell in einem derartigen Ausmaß, dass die DDR-Führung 1961 die Notbremse zog und das Land gegen seine westliche Umwelt rigoros abschottete – durch eine Mauer. Fluchten über die europäische Grenze gibt es mittlerweile auch schon seit mindestens 40 Jahren, wobei die Fluchtwege vielfältig waren, das Mittelmeer war zunächst nur einer von ihnen. Doch mit der sich in den 1980er- und 1990er-Jahren verschärfenden europäischen Abschottung zu Lande und in der Luft – erinnert sei nur an die weitgehende Abschaffung des einst großzügigen bundesrepublikanischen Asylrechts durch CDU/CSU, SPD und FDP im Jahre 1993 – wurde der Wasserweg vom Süden nach dem Norden allmählich zur bevorzugten Fluchtroute. Zwar baute die EU ihr Abwehrsystem immer weiter aus, so wie es auch die DDR in den 28 Jahren des Bestehens der Mauer tat, doch die Fluchtbewegung behinderte dies in dem einen wie dem anderen Fall nicht.
Fluchtwillige finden immer neue Wege. In der DDR führten immer perfektere Grenzbefestigungen zur Umlenkung der Ausreisewelle über westliche Botschaften und schließlich sogar über sozialistische Bruderstaaten, die ihre eigene Grenzsicherung nicht so genau nahmen oder nicht mehr nehmen wollten. Auch Europa beseitigte nach und nach weitgehend die Schwachstellen seines Regimes an den Landgrenzen, und sei es durch Mauern, die in Höhe und Monstrosität jene an der deutsch-deutschen Grenze nicht selten noch übertreffen.
Das Mittelmeer jedoch war und ist auf diese Weise nicht zu blockieren; seine »Abschottung« durch Passivität erhöht nur die Zahl der Todesopfer und wirkt damit ganz ähnlich wie die DDR-Grenzsicherung. Was hier Schusswaffengebrauch und Minenfelder waren, ist da das kalte, stürmische Wasser. Es macht auch keinen Unterschied, dass an der DDR-Grenze Flüchtlinge durch aktives Handeln von Grenzsoldaten zu Tode kamen, während im Mittelmeer vor allem die Passivität der Grenzschützer die Todeszahlen steigen lässt; schließlich wurden schon DDR-Autoritäten wegen der Todesfälle an der Mauer des »Totschlags durch Unterlassen« angeklagt. Eine unabhängige Justiz müsste diesbezüglich heute wieder Handlungsbedarf sehen. Sogar Argumente der DDR wie jenes, dass jeder wisse, dass der Grenzübertritt verboten ist und mit Waffengewalt geahndet wird, weshalb der Versuch immer mit dem Risiko verbunden sei, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, ist plötzlich für bundesdeutsche Politiker salonfähig. Wenn jemand in ein solches seeuntüchtiges, überladenes Boot steige, so gerade der CSU-Politiker Hans Peter Friedrich, kurzzeitig auch einmal Bundesinnenminister, so nehme er billigend in Kauf, dass Menschen ertrinken.
Inzwischen ist die Lage an der europäischen Außengrenze so unhaltbar wie es jene an der DDR-Grenze Ende der 1980er-Jahre war. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Entwicklung wie damals Folgen hat, deren Tragweite noch nicht abzusehen ist. Denn eine schnelle Lösung des Problems ist nicht in Sicht, weiterer Aufschub aber verschärft die Situation immer mehr.
Aus humanitärer Sicht ist zunächst ein umfassender Rettungseinsatz im Mittelmeer geboten, was natürlich dazu führen wird, dass zu den Tausenden Flüchtlingen, die bisher schon nach Europa strebten, weitere Zehn- oder Hunderttausende hinzukommen. Das wiederum bedingt eine Verschärfung innerer Auseinandersetzungen in zahlreichen europäischen Ländern, in denen – wie auch in Deutschland – die Politiker versäumten, den Menschen Toleranz, Empathie, mitmenschlicher Solidarität als Werte nahe zu bringen. Stattdessen wurde – siehe Asylgesetzgebung – eine Atmosphäre der Abwehr, der Angst, der Ausgrenzung von Fremden erzeugt, die nun zurückwirkt. Die einfache Wahrheit, dass der europäische Wohlstand zu einem beträchtlichen Teil auf der Armut der dritten Welt beruht, wurde ebenso verschwiegen wie die absehbare Folge, dass diese Armen eines Tages ihren Anteil am auch von ihnen erarbeiteten Reichtum der »ersten Welt« verlangen werden. Auf den Punkt gebracht:
Teilen Reiche mit den Armen nicht den Kuchen,
zögern Arme nicht, die Reichen
in ihren Burgen zu besuchen.
Eine Lösung ist dies natürlich nicht. Vielmehr verlangt das Flüchtlingsproblem eine grundlegende Änderung der Praktiken in der Weltwirtschaft. Solange eine afrikanische Banane hier billiger ist als eine deutsche Birne, solange Billigfleisch aus der EU die afrikanischen Märkte überflutet und die dortigen Viehzüchter ruiniert, solange Fischer an den afrikanischen Küsten den High-tech-Flotten aus Europa und den USA hoffnungslos unterlegen sind, solange also der Stärkere den Schwächeren im globalen Maßstab an die Wand drücken kann, ohne dass die »Institutionen« der reichen Länder gegensteuern, werden die Fluchtursachen bleiben und eher noch zunehmen. Statt einmal mehr Aktionismus auf Nebenschauplätzen wie dem der Schleuser, die im ur-kapitalistischen Sinn nichts anderes tun als eine Marktlücke zu besetzen, vorzuführen, sollten EU, EZB, IWF, Weltbank usw. ihre Anstrengungen darauf richten, das zutiefst ungerechte gegenwärtige Weltwirtschaftssystem so zu reformieren, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinander klafft, sondern Schritt für Schritt eingeebnet wird.
Nur wenn in den armen Ländern dieser Welt solche Lebensbedingungen herrschen, die den Menschen dort eine Perspektive geben, werden sie auf die Reise dorthin, wo sie für sich mehr Chancen sehen, verzichten. Eine solche Politik verlangt ein sofortiges Umdenken in den Regierungszentralen auch Europas. Die Alternative dazu ist ein weiteres Anwachsen der Flüchtlingsströme und in deren Folge immer neue Todesopfer auf dem Konto jener, die sich gern als die Hüter von Freiheit und Menschenrecht gerieren.
Die „Staatsgrenze West“ der DDR war auch eine Außengrenze (!) des damaligen Ost-Blocks. Als System-Grenze wurde sie deshalb militärisch gesichert und als „Frontlinie“ im Kalten Krieg deklariert.
Parallelen zur bestehen EU-Außengrenze sind daher durchaus vertretbar.
Auch die Gründe der Fluchtbewegungen sind vergleichbar: sie waren und sind in erster Linie aus der eingetretenen, wirtschaftlichen Situation zu erklären.
Die DDR mußte die deutsche Reparationslast gegenüber der Sowjetunion allein begleichen und wurde durch die westdeutsche Hallstein-Doktrin in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung empfindlich behindert. Es entstand ein deutliches Ost-West-Gefälle mit der Sogwirkung des „Go West.“
Heute sind in Folge des „Arabischen Frühling“ die ehemals weitgehend stabilen, politischen Systeme in Nordafrika und im Nahen Osten weitgehend zerstört worden. Die Ausbeutung der örtlichen Naturreichtümer durch den Westen wurde dadurch schrankenlos intensiviert und führt zur wachsenden Verelendung dieser Regionen. Die dort lebenden Menschen – vor allem der urbane Mittelstand – sind nun gezwungen, sich neue Existenzgrundlagen außerhalb ihrer Heimat zu schaffen.
Nun wird sich Europa erneut einen Limes bauen müssen! Die Geschichte wiederholt sich, die Römische Kaiserzeit läßt grüßen. Wie die endete, ist hinreichend bekannt.