(pri) Der Opfer wird dieser Tage vielfältig gedacht. Der Bundespräsident besuchte Gräber sowjetischer Kriegsgefangener und Soldaten in Stukenbrok und Lebus, der deutsche Außenminister ehrte russische Opfer in Wolgograd. Am Sonntag wird Angela Merkel mit dem russischen Präsidenten einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten in Moskau niederlegen. Man zollt toten Russen bereitwillig Respekt. Mit lebendigen Russen tut man es sich ersichtlich schwerer. Sie sind derzeit wie lange nicht mit Verachtung, Hohn, Dämonisierung, Ausgrenzung konfrontiert – und dies umso mehr, je lebendiger diese Russen sind.
Dabei waren die – nach langem Zögern – heute Geehrten, die toten Russen auch einmal lebendig, sehr lebendig. So lebendig, dass sie gar ihr Leben für ihre Freiheit und die Freiheit anderer einsetzten. Deshalb liegen sie heute in den Gräbern überall in Europa, und für die Befreiten und ihre heutigen politischen Vertreter reichte die Lebenszeit nicht, sie alle auch nur zu besuchen. Sie reichte aber, mit den heute lebenden Russen ein solches Verhältnis anzustreben, das Kriegsopfer heute und in Zukunft verhindert. Dazu genügt Respekt gegenüber Toten freilich nicht, wenn man ihn nicht auch gegenüber Lebenden auszudrücken, zu praktizieren bereit ist. Es gehört zu diesem Respekt, nicht nur den Opfermut der Toten, sondern auch das Sicherheitsbedürfnis der Lebenden zu respektieren. So wie man auch sein eigenes respektiert sehen möchte, und zwar nach dem eigenen Empfingen, nicht nur nach jenem anderer.
Das Sicherheitsbedürfnis der USA geht zum Beispiel so weit, dass es sich auf die Ausforschung der ganzen Welt erstreckt, dass weltweit US-amerikanische Militärstützpunkte unterhalten werden und schon beim Anschein einer Verletzung dieses amerikanischen Sicherheitsbedürfnisses überall in der Welt Kriege vom Zaum gebrochen wurden und werden – von Vietnam bis Afghanistan, vom Irak bis Jemen. Russland aber wird nicht einmal ein Sicherheitsbedürfnis zugestanden, das sich auf die eigenen Grenzen und deren Umfeld erstreckt. Seine Nachbarn wurden und werden zur Sicherheitsbedrohung aufgerüstet, ohne dass sich dadurch jedoch ihre Sicherheit wirklich erhöht, anstatt – was die einzige Lehre aus dem vor 70 Jahren zu Ende gegangenen Weltkrieg sein sollte – mit ihnen gemeinsam ein gutes, ein wirklich nachbarschaftliches Verhältnis, das beiden Seiten einiges abverlangt, zu organisieren.
Ein Verhältnis, wie es sich nach der Befreiung der östlichen Nachbarrepubliken aus dem sowjetischen Staatenbund anzubahnen schien, jedoch dann, als man im Westen glaubte, den lebendigen und immer lebendiger werdenden Russen den Respekt, der die Achtung und einvernehmliche Berücksichtigung ihrer Interessen einschließt, versagen zu können, torpediert wurde – mit der Folge eines erneuten Ost-West-Konflikts.
Vor diesem Hintergrund bekommt das Opfergedenken einen schalen Geschmack. Es war längst überfällig und insofern ist es – für die Opfer, Ihre Nachkommen, aber auch die noch lebenden Täter und deren Kinder und Enkel gut. Glaubwürdig aber wird es am Ende nur, wenn sich der Respekt für die Toten auch auf die Lebenden erstreckt – durch eine Politik, die neue Opfer verhindert, indem sie den Ausgleich sucht und nicht den eigenen Vorteil.
Erinnerungen an militärische Niederlagen fallen jedem Staat schwer. Auch nach 70 Jahren hat Deutschland kein ausgewogenes Verhältnis innerhalb seiner Erinnerungskultur zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa gefunden.
Der Begriff „Befreiung“ kann doch nur (rechtmäßig) auf die Deutschen angewandt werden, die sich im Widerstand gegen das NS-Regime befanden. Die Pauschalisierung dieses Begriffes erweckt im Ausland Mißtrauen. Zumindestens sind das meine Erfahrungen. Bestenfalls habe ich dann mitleidiges Schulterklopfen geerntet, mit den Worten: „Ihr Deutschen dürft ja nicht anders sprechen, sonst bekommt ihr Ärger mit eurer Regierung!“
Frau Merkel wird es nicht anders ergangen sein bei der (verspäteten) Kranzniederlegung vom 10.Mai 2015 an der Moskauer Kremlmauer. Sie repräsentiert zwar die „Regierung“, darf aber auch nur eine „abgestimmte“ Meinung äußern.
Eine Abweichung ist ihr allerdings (wieder einmal) unterlaufen. Das Wort „verbrecherisch“, im Bezug auf die Heimholung der Krim in das Russische Reich, war im Redemanuskript nicht vorgesehen!
Inzwischen hat der US-amerikanische Außenminister Kerry diesen „Ausrutscher“ wieder gutgemacht. Bei seinem Besuch in Putins Urlaubsort Sotschi sprach er sogar von der Möglichkeit der Aufhebung (!) der Sanktionen gegen Rußland infolge der Ukraine-Krise.
John Kerry ist bei den militärliebenden Russen geachtet. Als hochdekorierten Vietnamkriegs-Veteranen empfindet in Putin als „Mann gleichwertig.“ Die Große Militärparade vom 09.Mai 2015 auf dem Roten Platz wird jedoch der Auslöser dieses Besuches gewesen sein. Erstmalig hatten sich die Vertreter der BRICS-Staaten auch militärisch um Putin versammelt! Die Paradeformationen Chinas und Indiens – Abordnungen zweier Milliardenvölker – mußte auf die US-Falken ernüchternd gewirkt haben. Dazu noch in Kombination mit russischer Waffentechnik 4.0! Kerry wurde deshalb als diplomatischer „Weichzeichner“ entsandt.
Der Westen hat es heute eben nicht mit „Indianern“ zu tun. Putin ist auch nicht der Komanchen-Häuptlin Tosowi, der General Sheridan um Rücksicht für sein Volk bitten mußte. Dieser (spätere 5-Sterne-General) soll abfällig geantwortet haben: „The only good Indians I ever saw were dead!“