(pri) Als besonders anschauliches Beispiel für die Kluft zwischen Anspruch und Aktion wird man wohl im historischen Rückblick die von Angela Merkel veranlasste faktische Grenzöffnung für Flüchtlinge im September 2015 und ihr darauf folgendes (Nicht-)Handeln bzw. die sukzessive Umdeutung ihres angesichts der zu erwartenden Probleme unerhörten Versprechens »Wir schaffen das!« weg von der Organisation von Integration und hin zu verschärfter Abschottung und brutaler Grenzsicherung – also das ganze Gegenteil – in Erinnerung behalten. Dieser mit dem ersten eintreffenden Flüchtenden sofort sichtbare und seither immer deutlicher – jetzt bis zur kaum erträglichen Schmerzgrenze – sich verschärfende Widerspruch
veranschaulicht zugleich die Defizite des Merkelschen Politikverständnisses. Anders als von einer beflissenen Medienlandschaft gern kolportiert, verfolgt sie weder Politik nach langen Linien noch denkt sie diese vom Ende her. Vielmehr betreibt sie Politik aus dem Bauch heraus, lässt sich von gesellschaftlichen Stimmungen leiten und kaschiert die desaströsen Folgen von Fehlentscheidungen durch neuen Aktionismus, bei dem weniger das Ergebnis zählt als die fiebrige Geschäftigkeit samt ihrer ebenso fiebrigen medialen Präsentation.
Die Grenzöffnung für Tausende Flüchtende erfolgte ohne klare Vorstellung von den eigentlich absehbaren Folgen noch gar mit einem konkreten Plan zu ihrer Bewältigung. Nicht die Bundesregierung und auch kaum die Landesregierungen waren es, die sich am verbalen Optimismus der Kanzlerin orientierten, sondern die zuerst mit den Problemen konfrontierten Kommunen und Tausende Bürger überall im Land. Sie nahmen das »Wir schaffen das!« ernst und machten daraus eine beeindruckende Willkommenspraxis, die jedoch schon bald an die Grenzen übergeordneter Behörden stieß, vor allem jene in Berlin, diefast vom ersten Tag an in die Gegenrichtung marschierten. Seither wurden mehrmals unter Mithilfe der in opportunistischem Taumel hin und her schwankenden SPD gesetzgeberische Asylpakete beschlossen, die fast nur darauf hinauslaufen, die gerade geöffneten Grenzen schleunigst wieder zu schließen und wirkliche Integration zu behindern.
Wenn dahinter auch in der medialen Darstellung mehr und mehr das unverändert hohe Engagement der Tausenden Flüchtlingshelfer verschwand, blieb die Hilfsbereitschaft dennoch eindrucksvoll, was offensichtlich bei den erklärten Gegnern offener Grenzen beträchtlichen Unmut hervorrief. Ihn zu artikulieren vermieden sie zwar, aber sie nutzten Ereignisse wie das lokale polizeiliche Versagen in der Silvesternacht in Köln zu einer undifferenzierten Kampagne gegen Flüchtlinge, die nicht ohne Wirkung blieb und letztlich den Weg frei machte für die Revision der September-Entscheidung Merkels und ihres österreichischen Amtskollegen Faymann. Heute ist die Lage an den EU-Außengrenzen und zum Teil auch zwischen den Staaten der Europäischen Union nicht viel anders als im August/September 2015, doch mit einer humanitären Reaktion darauf ist es endgültig vorbei. Flüchtlinge werden im »besten« Falle sich selbst überlassen und müssen unter katastrophalen Umständen – wie in Idomeni – dahinvegetieren; im schlimmeren Fall werden sie kriminalisiert, in Lagern auf den griechischen Inseln interniert und ihres Rechts auf Asyl faktisch beraubt.
All dies geht zwar nicht nur, aber eben auch und unter zunehmender Meinungsführerschaft von der deutschen Bundesregierung aus und damit natürlich auch von deren Chefin Angela Merkel. Verbal tut sie zwar noch immer so, als halte sie humanitäre Prinzipien hoch, doch inzwischen klingen ihre diesbezüglichen Bekundungen ziemlich leise und letztlich hohl. »Wir wollen die Zahl der Flüchtlinge deutlich reduzieren«, heißt es jetzt von ihr. Und: »Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten auch in Griechenland. Die müssten auch von den Flüchtlingen genutzt werden.« Zwar lehnt sie in Worten weiter eine Obergrenze für die Einreise von Flüchtlingen und Grenzsperren ab, verbucht aber die durch die Schaffung solcher Tatsachen von anderen EU-Staaten erreichte Reduzierung der Flüchtlingszahlen als eigenen Erfolg. »Rhetorisch ist Deutschland immer noch Margot Käßmann, aber faktisch längst Horst Seehofer«, kommentierte der Berliner »Tagesspiegel«. Denn: »Das obergrenzenfreie Grundrecht auf Asyl wird zelebriert, weil es kein Schutzsuchender mehr in Anspruch nehmen kann.«
Dieser schnelle Umschwung von vermeintlicher Humanität zu brutaler Abschottung legt den Verdacht nahe, dass es Merkel nie um ersteres ging, sondern ihre Motivation stets machtpolitischen Ursprungs war. Wohl wissend, dass die Bundesrepublik der Hauptprofiteur der Europäischen Union ist, sah sie in der Flüchtlingsproblematik und der daraus erwachsenden Instabilität der EU eine große Gefahr für dieses Projekt. Um Druck aus dem vor allem durch Ungarn aufgeheizten Kessel zu nehmen, vereinbarte sie mit Österreichs Premier, der Ähnliches fürchtete, die Grenzöffnung – schon damals wohl mit dem Ziel, die Situation anschließend durch Einbeziehung aller EU-Staaten in ruhigere Bahnen zu lenken. Sie ging dabei von der starken Position der Bundesrepublik in der Union aus und rechnete nicht mit derartigem Widerstand gegen ihre Pläne. Dieser veranlasste sie Anfang November vorigen Jahres zu ihrer drastischen Warnung vor einem neuen Balkan-Krieg – ohne Erfolg.
Unter diesem Druck sowie wegen des Widerstands in den Reihen ihrer eigenen Parteifamilie ruderte Merkel schrittweise zurück. Sie verzichtete von vornherein auf die Alternative einer entschlossenen, wirksamen Integrationspolitik, die sich nicht nur auf die ökonomischen Potenzen und die organisatorischen Fähigkeiten des Landes, sondern auch auf die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung hätte stützen können, und gab jenen in der CSU, weiten Kreisen der CDU sowie anti-europäischen Kräften im EU-Ausland bereitwillig nach, denen ein abgeschottetes Europa mit vielen kleinen nationalen Festungen wichtiger war und ist als der weite Blick über diesen begrenzten Tellerrand. Mit Merkel und ihrer Zögerlichkeit war ein in die Zukunft weisendes großes Integrationsprojekt nicht zu machen und ist es fürderhin noch weniger. Drastisch gesprochen: Sie hat es vergeigt.
Gleichzeitig aber – und das könnte sich in einem dialektischen Sinn als »Verdienst« erweisen – haben Angela Merkel und all die anderen Bedenkenträger gegen eine offene Integrationspolitik dem westlichen Anspruch, Politik vor allem als Menschenrechtspolitik zu denken und zu betreiben, den Boden entzogen. In einem bemerkenswerten Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« hat Mark Siemons darauf verwiesen, nach dem Ende des Kalten Krieges verstärkte sich »in den westlichen Gesellschaften und zumal der deutschen die Überzeugung, dass die Menschenrechte der eigentliche Ausgangs- und Fluchtpunkt der Politik sind. Diese Überzeugung gab den Kampagnen von NGOs gegen Menschenrechtsverletzungen in nichtwestlichen Ländern ihre Kraft, setzte aber auch die westlichen Regierungen unter Druck, zumindest den Anschein einer mit den Menschenrechten in Einklang stehenden Außenpolitik zu erwecken.« Dieser Anspruch werde jetzt in Frage gestellt, »da ein Nationalstaat damit anfängt, das universalistische Prinzip auch in einer angespannten Situation auf sich selbst anzuwenden und dabei in Konflikt mit seinem Souverän (dem Volk) gerät.«
Sieht man einmal davon ab, dass der Autor die Minderheit der Bedenkenträger umstandslos mit »dem Souverän« gleichsetzt und ignoriert, dass es eben nicht »das Volk« ist, das sich gegen den Zuzug von Flüchtenden wendet, sondern eine in überholtem Denken verhaftete politische Klasse im In- wie Ausland sowie zahlreiche Bürger, die ihre miserable soziale Situation unter wohlwollendem Beifall der dafür Verantwortlichen auf Flüchtlinge, Ausländer, Fremde projizieren, dann bleibt als Quintessenz, dass »der Westen« keineswegs bereit und in der Lage ist, die anderen stets anempfohlene Orientierung der Politik an den Menschenrechten auch für sich selbst zu beherzigen, sondern dass er es bewusst vorzieht, in überholtem Freund-Feind-Denken zu verharren, das logischerweise auf Zäune, Grenzen, Mauern und die Anwendung von Gewalt zu ihrem Schutz nicht verzichten kann.
Damit erschließt sich der Hintergrund der anscheinend widersprüchlichen Merkelschen Flüchtlingspolitik. Auch sie ist letztlich auf die Erhaltung des machtpolitischen Status quo um jeden Preis ausgerichtet und wirft ohne Bedenken humanitäre Prinzipien über Bord, wenn sie dem übergeordneten Ziel im Wege stehen. Der Widerspruch reduziert sich auf einen Dissens zwischen Wort und Tat. Lange hat Angela Merkel verschleiern können, dass ihre Worte nichts als hohle Phrasen sind, während sich die brutale Wirklichkeit in den Taten manifestiert. Jetzt aber gelingt das mit jedem Tag weniger.