(pri) Insoweit Angela Merkel die aktuelle Lage des Landes bei ihrem kürzlichen Auftritt vor der Berliner Presse als Wissenschaftlerin interpretierte, liegt sie durchaus nicht falsch. Mit Recht weigerte sie sich, in den Chor der hysterischen Panikmacher einzustimmen, die die Häufung einzelner schrecklicher Ereignisse, von denen jedes für sich seine eigene Geschichte hat und mithin nicht zu kurzschlüssiger Verallgemeinerung taugt, zum Anlass alarmistischer Verunsicherung unter dem Motto, »der islamistische Terrorismus ist bei uns in Bayern leider angekommen«, missbrauchten. So ausgerechnet der bayerische Innenminister Herrmann, der sich nach dieser Logik auch fragen müsste, warum sich solcher »Terrorismus« gerade im CSU-geführten Freistaat ausbreiten konnte.
Natürlich gebührt den Opfern und ihren Angehörigen stets ganz individuell jede Anteilnahme, doch vor allem die Taten in Würzburg, Reutlingen und Ansbach ordnen sich darüber hinaus ins – in diesem Zusammenhang ein schreckliches Wort – »normale« Kriminalitätsgeschehen ein. Fast täglich geschieht in Deutschland ein Mord, 2015 waren es 296, fünfzehn Jahre zuvor noch 497. Und selbst der Amoklauf von München mit neun Toten fügt sich ein in fast jährliche solche Kapitalverbrechen, darunter die Amokläufe von Erfurt 2002 mit 16 und von Winnenden 2009 mit 15 Opfern. An beiden Orten war das Entsetzen groß, aber es führte nicht im mindesten zu einer solch überzogen hysterischen Reaktion wie in der bayerischen Landeshauptstadt.
Realistisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, hierzulande einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, extrem gering. Der britische Observer verwies kürzlich auf Statistiken der Terrorismus-Datenbank der Universität von Maryland, wonach das entsprechende Risiko in den 70er und 80er Jahren, als die nordirische IRA, baskische Separatisten, Italiens Rote Brigaden, die PLO und nicht zuletzt die deutsche RAF Anschläge verübten, ungleich größer war – trotz aller Aktivitäten des IS. Ganz zu schweigen von der Gefahr, im Straßenverkehr zu sterben; allein im Mai dieses Jahres forderte er in Deutschland 324 Opfer.
Die Fluchtbewegung aus Kriegsgebieten und Elendsregionen ins gelobte Mitteleuropa hat nicht etwa die von den Rechtspopulisten gern ins Feld geführte hiesige Bevölkerung besorgt und verunsichert, wie vor Jahresfrist die große Empathie und Hilfsbereitschaft der Mehrheit der Bürger, übrigens auch in Bayern, zeigte, sondern allein die Ewig-Gestrigen in CSU und weiter rechts. Seehofer, Söder, Herrmann und andere schürten und schüren systematisch die Angst vor Fremden und sind letztlich so sehr der eigenen Propaganda verfallen, dass sie einem Amokläufer, in Bayern geboren und aufgewachsen, dazu offensichtlich sogar ideologisch der CSU nahe stehend, die Ehre antaten, ganz München lahmzulegen und ihre eigene Panik in die Bevölkerung zu tragen.
Es war also die nüchterne Analyse der gelernten Physikerin, die sich von Fakten und nicht von Emotionen leiten lässt, die sie daran hinderte, der bayerischen Hysterie zu folgen; für eine Politikerin reicht solche Beschränkung auf die Diagnose allerdings nicht aus; von ihr erwartet man die Therapie. Und die konnte und kann Angela Merkel nicht bieten – fast durchgängig in ihrer gesamten Regierungszeit.
2015 ließ sie vor Krieg und Not Flüchtende ins Land und sagte völlig zu Recht: Wir schaffen das. Denn wer sollte eine solche Jahrhundertaufgabe anders schaffen als jene Länder, die sich als elitäre Wertegemeinschaft verstehen und zugleich – freilich oft auf Kosten jener, die jetzt auf der Flucht sind – die erforderliche ökonomische Stärke aufbauten, die sie zu solidarischer Hilfeleistung befähigt. Es bedurfte nur des Willens zu solcher Hilfe, doch daran mangelt es. Bei der CSU aus ideologischen Gründen, weil sie soziale Gerechtigkeit allenfalls als Wohltätigkeitsveranstaltung und nicht als nachhaltiges Modell menschlichen Zusammenlebens versteht. Bei Angela Merkel, weil sie zwar Ziele formulieren, aber die Wege dorthin nicht entwerfen, nicht einmal beschreiben kann. Die Naturwissenschaftlerin verlässt sich auf die Gesetze der Mechanik, die die Prozesse schon in Gang halten werden; sie verkennt, dass gesellschaftliche Abläufe solchen Mechanismen nicht folgen, sondern des geistigen Antriebs, der Motivation bedürfen.
Dieses konzeptionelle Defizit der Kanzlerin macht sie anfällig für Scheinlösungen – wie den Deal mit einer Türkei, die gerade zur Diktatur umgebaut wird, für faule Kompromisse und klammheimliche Rückzugsgefechte, die ihre hehren Ankündigungen konterkarieren. Anstatt Willkommenskultur als zugewandte, unbürokratische Integration zu gestalten, nimmt sie eine Anleihe nach der anderen bei Horst Seehofer und Thomas de Maizière auf, demnächst vielleicht gar bei Alexander Gauland. Oder wie ist ihre Ankündigung zu verstehen, die AfD-Sympathisanten seien »durch Taten« zurückzugewinnen? Bislang jedenfalls liefen Beschlüsse zur Flüchtlingsproblematik fast nur auf Maßnahmen zur Abschreckung, Abschottung, Abschiebung hinaus, und auch der neue Neun-Punkte-Plan aus dem Kanzleramt folgt dieser Logik. Selbst CDU-Abgeordnete sprechen inzwischen zynisch von einer »Abschiedskultur«.
Merkels einstiges »Wir schaffen das!« wird damit endgültig zur hohlen Phrase und großen Enttäuschung der Hilfebedürftigen. Die Hoffnung, die das mutige Wort einst verbreitete, ist längst vom vormundschaftlichen und restriktiven System wieder eingefangen worden. Fast täglich ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer, und die Kanzlerin sieht ungerührt zu. Auch wenn sie es nicht zugibt, sie selbst glaubt längst nicht mehr daran, es schaffen zu können. Und lässt die Dinge fatalistisch laufen, nur noch darauf bedacht, in ihrem Amt keinen Schaden zu nehmen.