(pri) Wer berechtigten Protest mit Demagogie und Lüge in einen Topf wirft, will damit jeden Veränderungswillen unter Generalverdacht stellen. Linke sollten sich diese Jacke nicht anziehen.
Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst des Populismus. So kann man mit Fug und Recht derzeit ein altes Zitat variieren und im Duktus von Marx’ und Engels’ »Kommunistischem Manifest« fortfahren: Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet … Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als populistisch verschrien worden wäre? Wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsparteien wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Populismus nicht zurückgeschleudert hätte?
Auf den ersten Blick mag es vermessen erscheinen, Kommunismus und Populismus überhaupt zu vergleichen. Doch bei näherer Betrachtung offenbaren sowohl der Entstehungsprozess beider Phänomene als auch der Umgang mit ihnen verblüffende Ähnlichkeiten. Das Eine wie das Andere ist aus Unzufriedenheit geboren. Bestehende Verhältnisse stießen auf Kritik, Ablehnung und bewirkten den Drang nach ihrer Umwälzung. Begrifflich bezeichnen mithin beide Positives. In »Kommunismus« steckt das lateinische »communis«, was für Gemeinschaft, Gemeinsamkeit steht und die Kraft, die Stärke der ausgebeuteten Mehrheit durch eine Minderheit beschwört. »Populismus« geht auf »populus«, das Volk, zurück – eigentlich auch nichts Schlechtes, hat doch schon der gerade wieder sehr angesagte Martin Luther verlangt, dem Volke aufs Maul zu schauen. Und hören wir nicht täglich von Politikern jeglicher Couleur, man müsse nahe bei den Menschen sein, ihre Sorgen und Nöte aufnehmen? »Dem deutschen Volke« steht am Reichstagsgebäude, dem Sitz des Parlaments.
Dennoch ist das eine wie das andere Wort und was dahinter steht vielen verdächtig. Der Kommunismus wurde von Anfang und nicht erst seit den deformierten Zügen, die er zeit- und teilweise annahm, erbittert bekämpft und gilt heute allgemein als Irrweg, auf den man sich tunlichst nicht begeben sollte. Ähnliches widerfährt derzeit dem Populismus, ohne dass es eine verbindliche Definition für ihn gäbe. Doch dass der Begriff in der Regel mit Protest von unten gegen Herrschaftsstrukturen und Ungerechtigkeit verbunden war und ist, macht ihn ebenfalls suspekt.
Heute wird nahezu alles, was dem »Mainstream« zuwiderläuft, als Populismus diffamiert – ob nun radikale Sozialkritik von links, der anarchistische Selbstverwirklichungstrip oder rechtslastige Beharrungstheorien mit teilweise rechtsextremem Ausschlag. Was das Bestehende und von den derzeit Mächtigen als alternativlos Bezeichnete in Frage stellt, wird umstandslos unter diesem Begriff subsumiert und damit unisono zum ideologischen Feind erklärt.
Plötzlich sitzen Alexis Tsipras, Evo Morales, Bernie Sanders und natürlich auch Oskar Lafontaine und Gregor Gysi in einem Boot mit Marine Le Pen, Geert Wilders, Victor Orban, Heinz-Christian Strache und Frauke Petry – als Kämpfer gegen die »Guten«. Da ist es nur logisch, wenn – wie unlängst in der »Berliner Zeitung« – der Utopist Thomas Morus ebenso zum Populisten erklärt wird wie Reformator Martin Luther. Auf diese Weise wird jeglicher Protest verteufelt, unabhängig von Gründen und Zielen, was freilich bequem ist – enthebt es doch der Auseinandersetzung über Ursachen wachsenden Frustes, Lösungsstrategien und daraus folgendes zielführendes Handeln.
Gerade die Linkspartei sah sich schon lange vor der gegenwärtigen Kampagne permanent des Populismus bezichtigt – wenn es um gerechte Löhne und Renten ging, um soziale Fürsorge, um Umverteilung von oben nach unten. Die Piratenpartei musste – mit einem ganz anderen, aber die herrschende Politik ähnlich herausforderndem Programm – diesen Vorwurf ebenso ertragen wie »Wutbürger«, die gegen selbstherrliche Entscheidungen in ihren Kommunen vorgehen.
Bislang erschien Populismus als überwiegend linkes Phänomen, doch mit dem Aufkommen rechter Protestbewegungen und -parteien in Österreich, der Schweiz, Italien, den Niederlanden, Frankreich und anderswo, hierzulande in Gestalt von Pegida und der AfD, erweiterte man diesen Begriff auf diese Szene und verwischte damit bewusst die grundlegenden Unterschiede in Inhalt und Form des jeweiligen Protestes. Populismus wurde nun zu einem kaum noch greifbaren Phantom, das sich aber gerade deshalb so wirksam zur Diskreditierung jeglichen Widerspruchs eignete – unabhängig von seinen Motiven, seiner Vorgehensweise und seinen Zielen.
Die denunziatorische Abwertung der Wortmeldung von unten, der Artikulierung von durchaus berechtigter Unzufriedenheit und des Rufs nach Veränderung als Populismus und damit als etwas Verwerfliches ist ganz im Sinne der Herrschenden. Sie verweisen dazu vor allem auf Erscheinungsformen solcher Bekundungen, auf Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verleumdungen, Lügen, Hass-Mails und Fake News. Dabei blenden sie aus, dass die meisten dieser Erscheinungsformen keineswegs neu sind, sondern im Gegenteil uralt. Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verleumdungen, Lügen, platte Demagogie gibt es nicht erst seit Bestehen sozialer Netzwerke; dieses Instrumentarium gehört seit jeher zum Meinungskampf, in dem Parteien, Vereine, Kirchen, staatlichen Stellen, vor allem Geheimdienste und nicht zuletzt diverse Medien permanent stehen.
Wir alle kennen die Lügen, die am Anfang von Kriegen standen – ob der »Fall Gleiwitz« 1939, die Tonking-Lüge 1964, die den US-amerikanischen Vietnam-Krieg einleitete, oder die von der CIA erfundenen irakischen Chemiewaffen des Jahres 2003. Wir wissen von den »alternativen Fakten« über den Zustand des eigenen Lagers wie über den politischen Gegner, die Wahlkämpfe regelmäßig begleiten und in den USA Donald Trump zum Sieg verhalfen; wir werden sie aber auch hierzulande demnächst wieder sehr schön beobachten können. Wir registrieren Propagandalügen und Verschwörungstheorien, produziert, aufgebauscht und verbreitet von staatsnahen Agenturen im Osten wie selbsternannten »Enthüllungs«-Experten im Westen. Wir lesen tendenziös bearbeitete Informationen in sich seriös gebenden Zeitungen und glatte Erfindungen in der Boulevardpresse. All das zielt aufs »Volk« und geht weniger von ihm aus als von jenen, die sein Denken, Fühlen und Handeln in ihrem Sinne beeinflussen wollen.
Auch die teilweise heute im Netz zu beobachtende Verwilderung der kommunikativen Sitten ist insofern nur die Fortsetzung und Verschärfung alter Praktiken. Und verbale Rabauken findet man nicht allein im Internet, sondern ebenso bei den Aufzügen sogenannter besorgter Bürger vor Flüchtlingsheimen, bei den zunehmend der Öffentlichkeit entzogenen Veranstaltungen der AfD, aber auch auf den Fantribünen von Fußballklubs – und mitunter bleibt es da nicht bei Wortgefechten. Da wird dann der Begriff »Populismus« zur Verharmlosung, denn in solchen Äußerungen manifestiert sich oft schon Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus, der sich gern, aber anmaßend mit einer angeblichen Volksmeinung tarnt.
Dass solch rechte Gesinnung an Boden gewinnt, ist mit sozialem Frust allein nicht zu erklären. Eher schon mit der nicht nur gefühlten, sondern durchaus ein Stück weit realen Machtlosigkeit der Bürger gegenüber behördlichen Entscheidungen. Die gerade von Angela Merkel oft ins Feld geführte »Alternativlosigkeit« staatlichen Handelns förderte solches Ohnmachtsgefühl. Hinzu kommt Verunsicherung, genährt durch Alarmismus und Aufbauschung bedrohlicher Vorgänge; die nicht zuletzt durch die Medien ausgelöste Panik um einen verwirrten Amokläufer in München im Juli 2016 war dafür ein verstörendes Beispiel.
Auch der Abend für Abend in einer TV-Krimi-Endlosschleife verbreitete Eindruck, das Leben bestehe überwiegend aus Verbrechen und rücke – ob bei Soko Leipzig, Köln, Wismar, bei Dresden- oder München-Mord, beim Taunus-, Spreewald- oder Usedomkrimi, bei Rosenheim-Cops und Morden im Norden – immer näher an einen jeden heran, dürfte nicht gerade Gelassenheit verbreiten. Ängste, verstärkt durch bedenkenlose Sensationsberichterstattung in den bevorzugt konsumierten Boulevardmedien, sind ein fruchtbarer Nährboden für rechte Demagogie.
Die aus einer solchen Gemengelage resultierende Aggressivität ist gewiss nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, aber sie ist längst nicht bestimmend für das geistige Klima im Land. Auch wenn sich immer mehr Menschen in sozialen Netzwerken orientieren – 78 Prozent gehen laut einer Studie täglich ins Internet, wo sie vor allem Videos schauen oder Musik hören -, ist das nicht a priori schlecht. Was dort an Informationen und Meinungen geboten wird, ist ganz überwiegend durchaus ernst zu nehmen – zumindest als zusätzliches Angebot für jene, die sich von der etablierten Medienzunft ungenügend beachtet fühlen.
Aber selbst in den USA geben nur 14 Prozent an, soziale Netze seien ihre wichtigste Informationsquelle. In Deutschland sind es über 90 Prozent, die täglich Fernseher und Radio einschalten. Entsprechend hält sich die Wirkung absoluter Falschmeldungen in engen Grenzen. Forscher der Stanford University fanden heraus, dass sich nicht einmal ein Prozent dazu befragter Amerikaner an Fake News über Hillary Clinton oder Donald Trump erinnerten; noch weniger hätten sie geglaubt.
Dies relativiert den imaginären Populismus, der derzeit zu einem Hauptproblem erklärt wird, und macht ihn zu einem wohlfeilen Instrument für die Politik, eigenes Versagen zu bemänteln und – durch die Verschärfung der Kontrolle über das Internet – demokratische Rechte abzubauen. Ein Phänomen, das als Reaktion auf die weitgehende Apologetik des Bestehenden nicht nur über die dazu vielfältig existierenden öffentlichen Kanäle, sondern in vielen Fällen auch durch einen großen Teil der Medien entstanden ist, wird dazu missbraucht, jeglichen Ruf nach Veränderung unter Generalverdacht zu stellen. Diese Jacke sollten sich jene, die in der geistigen Auseinandersetzung nicht mit Lüge und Verleumdung arbeiten, sondern faktenbezogen Kritik üben und daraus konstruktive Alternativen ableiten, nicht überstreifen.