(pri) Wer sich bei der politischen Beobachtung nicht von den schnell wechselnden Medienhypes und Stimmungen leiten lässt, hatte dem plötzlichen Aufschwung des lange verschütteten SPD-Selbstbewusstseins von Anfang an ein gehöriges Maß an Skepsis entgegengebracht – und das, wie sich nun zeigt, mit Recht. Denn Wunder wie das mit dem »heiligen Martin« inszenierte gibt es in der Politik nicht; man kann allenfalls kurzzeitige Begeisterungsstürme entfachen, die aber schnell verebben, wenn dahinter nicht konkrete, belastbare Handlungen stehen, die auf Veränderung zielen. Solche Handlungen aber ließ Martin Schulz seinen hochfliegenden Worten nicht folgen – und hat nun dafür nicht nur die Quittung bekommen, sondern zugleich den ersten Schritt in die sichere Niederlage bei der Bundestagswahl getan,.
Das ist natürlich nicht nur die Schuld des Kanzlerkandidaten aus Würselen, vermutlich hat er sogar nicht einmal den entscheidenden Anteil daran, sondern die Niederlagen bei den drei hinter uns liegenden Landtagswahlen gehen vor allem aufs Konto des SPD-Parteiestablishments, das nie zu einem grundsätzlichen Kurswechsel sozialdemokratischer Politik bereit war, obwohl allein dieser die einzig realistische Chance für einen Wahlsieg im September bot. Die Parteibasis hingegen baute auf die neue Hoffnung, die sie mit den verbalen Erklärungen von Martin Schulz verband und wählte den Europapolitiker nicht nur mit einem Traumergebnis zum Kanzlerkandidaten, sondern engagierte sich auch in lange nicht gekannter Weise für die die Partei, die sogar eine neue Anziehungskraft gewann, die sich in 16 000 neuen Mitgliedern niederschlug. Das alles zerstörte binnen kurzem der Unwille oder die Unfähigkeit der etablierten Parteiführung, diesen Geist zur Erneuerung der Partei und zur Rückkehr zu den bewährten sozialdemokratischen Prinzipien und ihrer modernen Anwendung auf die heutigen Bedingungen zu nutzen.
Das vor allem ermöglichte die Erholung der Union, die durch den monatelangen Zwist zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer sowie das Fehlen jeglicher Konzepte für die Zukunft ausgebrannt war und sich zunehmend mit einer Wechselstimmung im Land konfrontiert sah. Profitierte davon über längere Zeit vor allem die AfD, so bestand nun die realistische Chance, wirkliche Alternativen zur Weiter-so-Linie der großen Koalition zu formulieren und damit einen Politikwechsel herbeizuführen. Diese Chance hat die SPD vertan, weil sie sich aus ihrer symbiotischen Verbindung mit CDU und CSU nicht zu lösen vermochte. Anstatt das steril gewordene Bündnis aufzukündigen – wie es beispielsweise die FDP 1982 gegenüber der SPD getan hatte, um dann mit der Union 16 Jahre zu regieren, setzte sie die Mund-zu-Mund-Beatmung der Union fort und geriet dadurch unverzüglich in einem Widerspruch zwischen den hoffnungsvollen Worten eines Martin Schulz und der politischen Praxis. Die Wähler merkten schnell, dass von einer Alternative zur gegenwärtigen Politik nur blumig geredet wurde, ohne dass man tatsächlich neue Lösungen aufzeigte, klare Konsequenzen zog. Ihre emotionale Zuwendung zum Kanzlerkandidaten schlug in tiefe Enttäuschung um, die sich in den Niederlagen bei den Landtagswahlen manifestierte.
Hinzu kommt die geradezu pathologische Verweigerung eines Bündnisses mit der Linkspartei, die vor allem ideologische Gründe hat. Inzwischen ist die SPD-Führung derart rechtslastig, dass in ihr eine offene Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Zusammengehens mit der Linken nicht mehr möglich ist. Diese Kräfte waren es denn auch, die nach der Wahl im Saarland vor allem die partielle Offenheit der dortigen SPD-Spitzenkandidatin für den Sieg der CDU verantwortlich machen – entgegen den Tatsachen. Denn den 40,7 Prozent der CDU setzten SPD und Linkspartei zusammen 42,5 Prozent entgegen, und die Union kann letztlich nur regieren, weil die AfD 6,2 Prozent der Stimmen gewann und mit dieser Sperrminorität die Koalitionsmöglichkeiten einschränkt. Schon in Schleswig-Holstein, wo die Linke nicht in den Landtag kam, zog dieses Argument nicht mehr, und in Nordrhein-Westfalen war Hannelores Krafts definitive Absage an jedwedes Zusammengehen mit der Linkspartei wohl am Ende ein Eigentor, denn durch das knappe Verfehlen des Einzugs der Linkspartei in den Landtag trotz Verdopplung ihres Wähleranteils wurde erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass nun die SPD für eine Regierungsbildung in Düsseldorf wohl nicht gebraucht wird.
Damit sind die SPD und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz am Ende der roten Fahnenstange angekommen. Chancen auf einen Erfolg haben sie kaum noch, und entsprechend hat sich die derzeitige SPD-Führung längst mit einer Fortsetzung der großen Koalition nach dem September 2017 abgefunden – und mancher hat sogar schon die Weichen dafür gestellt, auch dann in politischen Spiel zu bleiben. Das gilt vor allem für den Ex-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der in durchaus realistischer Einschätzung seiner Null-Chancen auf einen Wahlsieg beizeiten auf jenen Posten wechselte, den der kleinere Partner der großen Koalition traditionell zugesprochen bekommt, den des Außenministers. Als solcher dürfte er in einem künftigen Kabinett Merkel erneut auftauchen, was ihm nach einer Niederlage als Kanzlerkandidat kaum gelungen wäre. Den undankbaren Part hat hingegen Martin Schulz, der sich noch einige Monate in einem aussichtslosen Wahlkampf abstrampeln muss, um dann vermutlich ohne Posten dazustehen. Er könnte als eine noch tragischere Figur als die früheren SPD-Wahlverlierer Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück enden. Ersterem gelang in der Schwächeperiode der Union sogar der Sprung ins Bundespräsidialamt, während letzterer durch rege und gut bezahlte Vortragstätigkeit wenigstens pekuniären Gewinn aus seiner glücklosen politischen Karriere ziehen konnte.