Als Eulenspiegel in die Jahre gekommen war, stieß ihm auf, dass all seine irdischen wie auch die über- und unterirdischen Taten es wert seien, für die Nachwelt aufbewahrt zu werden. Also entschloss er sich wie manch anderer Weggefährte dieses Lebensabschnitts, ein Buch zu schreiben, in dem sorgsam registriert werden sollte, was er getan und gelassen hatte, was ihm im Guten wie im Schlechten widerfahren sei, womit er in die »Gechichte«, wie ein großer Landsmann zu formulieren pflegte, eingehen könne. »Schön, wenn einer etwas schafft, das ihn überdauert«, das ist doch schon mal ein guter Satz.
Erst ging die Arbeit schnell von der Hand, das Werk wuchs allmählich, da spürte Eulenspiegel plötzlich eine gewisse innere Leere. »Ich habe schon etliche Seiten verfasst, das meiste jedoch dem Papierkorb übergeben«, klagte er bereits auf Seite 14. »Über Wochen versiegte die Lust – und mit ihr der Lebensmut.« Er fühlte sich in einer schwarzen Höhle, einsam und verlassen. Da sprach plötzlich eine Stimme zu ihm, die sich als »Wohlmeinender aus dem Off«, das »dritte Auge« vorstellte. Sie bestärkte ihn freilich nicht in seiner literarischen Intention, ganz im Gegenteil: »Lass dein Magma stecken! Eine Eruption mit fünfzig, was soll das?« Dies jedoch weckte Eulenspiegels Lebensgeister wieder; niemand sollte ihm sein Leben kaputtreden.
Damit war der Lektor geboren, genauer Hannibal Lector, der nun den literarischen Schaffensprozess mit seinen so beckmesserischen wie risikoabstinenten Kommentaren begleitete, was freilich den Autor eher anfeuerte und so das Werk, gewissermaßen in dialektischer Symbiose, voranbrachte – bis hin zum letzten Wort, das hier – anders als gewöhnlich im gedruckten Buch, jedoch viel näher bei der Wirklichkeit des Literaturbetriebs – der Lektor hat: »Die Quälerei hat ein Ende.«
Aber damit nicht genug. Eulenspiegel wusste schon aus seinen mittelalterlichen Zusammenhängen, dass Lektoren nicht nur redeten, sondern auch handelten. Ging ihnen allzu sehr gegen den Strich, dass da einiges im Text des Autoren nicht genügend parallel zur gerade aktuellen Linie lief, begradigten sie schon mal die krummen Gedanken und stellten die Ordnung wieder her. Gerne auch durch Streichungen, was Eulenspiegel aber nicht duldete. Und so verlangte er ungekürzte Publikation, ließ sich lediglich abringen, dass einige Passagen mit einem Grauton unterlegt wurden, auf dass der Leser wisse, was er besser überspringe, um nicht in den Verdacht zu geraten, es gelüste ihm nach Unbotmäßigem.
»Die so markierten Textstellen sind als gestrichen zu betrachten«, verfügte denn auch Hannibal Lector vom »Ressort Betreutes Schreiben«, das Übelmeinende nicht selten als Zensurbehörde bezeichnen; sein Verdikt betrifft »gehäuft vorkommende Schlüpfrigkeiten« ebenso wie ein wenig kaschiertes Plagiat aus einem anderen Nach-Wende-Roman, der wie ein Turm ins Tal der Ahnungslosen gesetzt wurde und da unverrückbar stehen bleiben soll, schließlich die unverblümte Selbstbeweihräucherung des Autors – zum einen in Form eines Berichts über eine Lesung des noch gar nicht vorliegenden Romans, die mit »Standing Ovations« endet, in DDR-Deutsch: mit lang anhaltendem Beifall, zum anderen als Preisverleihungs-Dankesrede, vorsorglich schon mal der Legion einschlägiger Texte nachempfunden, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Und endend mit der Frage: »Und wo gibt‘s jetzt das Geld?«
Irgendwie gehört diese Geschichte zwar auch in die Abteilung »copy & paste«, denn Eulenspiegel war schon einmal vom Geruch des Bratens satt geworden und hatte diesen dann mit dem Klang des Geldes bezahlt, so wie jetzt Ruhm und Ehre aus der eigenen Phantasie bezogen wurden, ein dem Schreiber im stillen Kämmerlein nicht unbekanntes Motivationsinstrument, das – sonst freilich eher unausgesprochen – auch die pekuniären Bedürfnisse einbezog. Diese hatte der Schalk ebenso im Sinn, als er auch noch das Marketing übernahm und unter wechselnden Pseudonymen wie weiland Kurt Tucholsky die Leuchttürme der Hauptstadt-Presse mit erlesener Literaturkritik versah, die diese der Öffentlichkeit nicht vorenthalten mochten.
»Jeder Verlag kennt sie«, so Kim Kalaschnikoff im »Kreuzbergischen Landboten«, »die berüchtigten Nachwuchs-Schriftsteller im Rentenalter: grauhaarige Zausel, die von dem Wahn besessen sind, kurz vor Ultimo ihre Weisheiten und Visionen unters Volk bringen zu müssen. Gibt es Schlimmeres? Ja, durchaus: N. O. Mennescio! Keine Weisheit, keine Vision. Nichts.« Und für die »Spree-Rundschau« befand Arno Wildmann in gewohnter Apodiktik: »Leider, leider, liebe Leser: Zu diesem Buch fehlen mir die Worte. Was aber schlimmer ist: Dem Verfasser des >Romans< ging es genauso.«
Eulenspiegel wusste um die Vergeblichkeit seines lebenslangen Tuns und säumte nicht, seine Biografie in ein selbstironisches Licht zu tauchen. »Unter Hitler geboren, unter Ulbricht aufgewachsen, unter Honecker nicht(s) groß geworden, am Ende unter Merkel einem manischen Schreibzwang verfallen – mit einem Wort: krank«, so beschreibt er seinen Werdegang und lässt ein wenig Scham nur dort zu, wo er sich selbst verleugnet und unter dem Pseudonym N.O. Mennescio auftritt. Wie wohl jeder wollte er hoch hinaus, auf die Berge, auf die Gipfel, aus dem Sächsischen ins Alpine. Die Eiger-Nordwand als Sehnsuchtsort. Er tat alles dafür, bezwang die Hügel und Felsen der flachen DDR, hielt sich fit, lernte jodeln, wartete auf das Rentenalter, das zum Startschuss für den Gipfelsturm werden sollte. Und brachte es sogar zu einiger Meisterschaft, im Klettern im Rahmen des geologisch Möglichen, im Jodeln weit darüber hinaus. Denn die Kraft der Stimmbänder konnte sich hoch in den Himmel erheben, während man selbst doch festgewurzelt auf dem Boden der Tatsachen blieb – und das um so mehr, je länger. »Ich habe funktioniert, erledigt, was von mir erwartet wurde. Pläne, die ich für mein Leben hatte, rutschten weg, wurden verdrängt oder verschoben, bis es zu spät war.«
Aber kleine Siege, sie hat Eulenspiegel sein Leben lang dennoch verbuchen können. In 96 Geschichten, die seit Jahrhunderten die Leserschaft ergötzen, hat er darüber schon Auskunft gegeben, und jetzt fügt er noch einmal 336 Seiten aus jüngerer Vergangenheit hinzu. Narreteien waren auch da möglich, und seien es nur solche: »Witze haben wir gemacht über die Jungs vom VEB Horch und Guck. Und gemeckert ohne Ende, auch über Partei und Regierung.« So konnte man sich wenigstens das Hoffen auf die großen Triumphe, das dann doch nicht mehr als ein »Warten auf Godot« war, versüßen und schließlich sogar ertragen, dass sie an deren Stelle traten.
Jodl, der Kletterer, inzwischen eine weise alte Eule, die ihrer Generation den Spiegel vorhält.
N. O. Mennescio: Jodl der Kletterer, Hardcover, 336 Seiten, 20 Euro.