(pri) Auch ein Willy Brandt kann sich irren. »Es wächst zusammen, was zusammen gehört«, hatte der Alt-Kanzler im November 1989, nach dem Mauerfall prognostiziert – und zugleich postuliert, doch heute, fast 30 Jahre später, sieht es eher nach dem Gegenteil aus. Aus den Reden und Artikeln zum 29. Jahrestag der Einheit spricht das Scheitern der Brandtschen Vision.
»Die Deutsche Einheit ist nicht beendet, sondern sie fordert uns auch 28 Jahre später immer wieder heraus«, sagte die Bundeskanzlerin, und Matthias Höhn, Ostbeauftragter der Linkspartei-Fraktion im Bundestag, konstatierte als einen wichtigen Grund »die Zurücksetzung der Ostdeutschen, die sich seit 28 Jahren verfestigt, anstatt zu schwinden«. Sein Fazit: »Die Geduld vieler Ostdeutscher ist aufgebraucht.« Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Bundstagsfraktion der Grünen, sekundiert:
»Jetzt entscheidet sich, ob dieses Land zusammengehört oder ewig gespalten bleibt.«
Die Vorschläge jedoch, daran etwas zu ändern, sind seit eh und je die gleichen; sie doktern an den Symptomen herum und stoßen nicht zu den Ursachen vor. Angela Merkel forderte die Bürger einmal mehr auf, »miteinander im Kontakt zu stehen, sich aus dem jeweiligen Leben zu erzählen, über die Brüche zu berichten, über die Herausforderungen«. Eine groteske Demonstration der Hilflosigkeit, während das Land auseinanderdriftet, eher ein Abstoßen zu beobachten ist als ein Zusammenwachsen.
Denn fast 30 Jahre lang ist zwar über die Lebensleistung der Ostdeutschen schwadroniert worden, doch in der Praxis scherte man sich darum kein bisschen, sondern ließ die Eroberung des Ostens durch den Westen zu, beförderte sie gar. Am Beispiel Leipzigs machte Höhn das plastisch:
»Der Oberbürgermeister ist in Siegen geboren. Die Rektorin der Uni kommt aus Kassel. Der Sparkassen-Direktor ist aus Wuppertal. Die Chefin der Staatsanwaltschaft ist gebürtig aus Lindlar. Der Präsident des Landgerichts kommt aus Dillenburg, der Präsident des Amtsgerichts aus Osnabrück. Nur aus Leipzig oder einer anderen ostdeutschen Stadt kommt in dieser Liste niemand.«
So ist es überall auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Man fühlt sich wie in einem Besatzungsgebiet; selbst der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, stellte schon vor Jahresfrist fest, hier »wird die Dominanz der Westdeutschen in den Eliten immer noch als kultureller Kolonialismus erlebt«. Doch dies ist nicht einmal das Hauptproblem. Vielmehr treibt viele Ostdeutsche um, dass die westdeutsch geprägte Geschichtsschreibung ihr Leben in der DDR a priori als ein minderwertiges, durchweg freudloses und damit falsches darstellt und damit sie selbst grundsätzlich abwertet.
Der Schriftsteller und Historiker Karsten Krampitz zitierte kürzlich im Deutschlandfunk die britische Historikerin Mary Fulbrook, Professorin für Deutsche Geschichte am University College London:
»Obwohl kein Historiker des Westens versuchen würde, die Sozialgeschichte einer westlichen Gesellschaft allein im Hinblick auf politische Maßnahmen des Regimes und den Widerstand des Volkes dagegen darzustellen, ist die Sozialgeschichte der DDR weitgehend so aufgefasst worden.«
Und er fuhr fort:
»Niemand würde die Geschichte Westdeutschlands allein über Polizei, Richter und Regierung erzählen. An dunklen Kapiteln gäbe es sicher genug: die Verfolgung Homosexueller zum Beispiel, die Berufsverbote, die Zwangserziehungsheime oder einfach nur das fortgesetzte Wirken der NS-Eliten. Sofort würde der Einwand kommen: Das mag ja stimmen, aber die Geschichte der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit war mehr: Wiederaufbau, Heimkehr der Kriegsgefangenen, satt zu essen und zwar richtig satt zu essen, eine bessere Wohnung, der erste Italienurlaub, Bill Haley und so weiter. – Warum wird nun bei der Geschichte der DDR so gänzlich anders verfahren? Muss Geschichte nicht als Ganzes angenommen werden?«
Krampitz verweist auf die völlig andere Mentalität, die sich in der DDR herausgebildet hatte und die nun, faktisch über Nacht, nichts mehr galt:
»Eine deutliche Trennung von Arbeits- und Lebenswelt, wie sie der Kapitalismus mit sich bringt, hat es in der realsozialistischen Arbeitswelt nicht gegeben; will heißen: Die Menschen haben in ihrem Job nicht nur gearbeitet, sondern auch gelebt. Hier hatten sie ihren Freundeskreis. Zu einem Volkseigenen Betrieb gehörte ein Kindergarten, eine Bibliothek, ein Sportverein, eine Ambulanz, oft genug auch eine Physiotherapie. Betriebseigene Kulturhäuser waren keine Seltenheit.« Mit dem Arbeitsplatz verloren viele Ostdeutsche auch ihre sozialen Bindungen; sie wurden heimatlos. Krampitz dazu: »Die Kerzenrevolution war ursprünglich der Aufbruch der Ostdeutschen aus der staatlichen Bevormundung. Hunderttausende von ihnen erleben heute eine viel stärkere Bevormundung, eine Abhängigkeit, die sie früher nicht für möglich gehalten haben. Viele von ihnen leben in existenzieller Angst, dass ihnen der Sachbearbeiter im Jobcenter die Lebensgrundlage streicht, aus welchen Gründen auch immer.«
Die neue westdeutsche Mentalität der Konkurrenz, des gegenseitigen Ausstechens war und blieb vielen früheren DDR-Bürgern bis heute fremd. Nicht wenige können und möchten so auch nicht leben, fühlen sich aber ohnmächtig gegenüber der Dominanz der neuen Bestimmer und begehren dagegen auf, undifferenziert auch gegen Neues, das ihnen unheimlich ist und in ihr Weltbild nicht passt. Und liefern damit zugleich willkommene Begründungen für ihre Entfremdung vom Westen, die unverzüglich als Entfremdung von der Demokratie interpretiert wird. Waren es früher vor allem die »Nachwirkungen der DDR-Diktatur«, die weiterbestehenden »Mauern in den Köpfen«, die als Ursache für ostdeutsche Unangepasstheit herhalten mussten – und auch heute noch gern bemüht werden, ist es jetzt der »Populismus«, wahlweise von rechts oder von links, der als Wurzel genannt wird, eine Wurzel, die wohlgemerkt fast nur auf ostdeutschem Boden Keime hervorbringt.
Im gerade veröffentlichten »Populismus-Barometer 2018« aus dem Hause Bertelsmann wird der neue Modebegriff sehr weitgehend ausgelegt und auch auf solche Kritik an der bundesdeutschen Politik übertragen, die durchaus plausibel ist. So gelten schon Aussagen wie »Die Bürger sind sich oft einig, aber die Politiker verfolgen ganz andere Ziele« oder »Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht« und sogar »Wichtige Fragen sollten nicht von Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden« als populistisch. Alles was vom politischen Mainstream abweicht, wird so als abseitig diffamiert, und nicht nur Extreme wie die AfD werden auf diese Weise ins Abseits gestellt, sondern jegliche Kritik, zuerst natürlich jene von links, aber auch bei CDU/CSU und FDP wachse bereits eine Populismusneigung, die bei der SPD schon länger vorhanden sei; lediglich die Grünen gelten den Bertelsmann-Analysten noch als »populismusresistent«.
Wenn man weiß, was in den ostdeutschen Bundesländern gewählt wird, dann verbirgt sich hinter solchen Aussagen unverblümt der Versuch, den negativ konnotierten Populismus vorrangig als ein Ostproblem dazustellen und damit den dortigen Unmut zu erklären, was zugleich von der Aufgabe enthebt, die Politik so zu ändern, dass sie den Erwartungen der Menschen in stärkerem Maße gerecht wird.
Was aus all dem erwachsen kann, zeichnet sich am Horizont bereits ab. Was früher bezüglich der DDR eher so etwas wie schwärmerische Nostalgie war, wird mehr und mehr zur Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der es zwar genügend Probleme gab, für die Mehrheit der Bürger aber keine existentiellen. Dass sich – abgesehen von einigen sinnvollen Strukturen wie Polikliniken oder Agrargenossenschaften und so etwas Unpolitischem wie dem Rechtsabbiegepfeil im Straßenverkehr – auf die bundesdeutsche Wirklichkeit kaum etwas aus der DDR übertragen lässt, weil es dem kapitalistischen System in seinem Kern widerspricht, wird immer mehr Ostdeutschen bewusst. Eine Rückkehr zum Sozialismus wollen sie aber auch nicht, so dass die Idee eines dritten Weges neue Anhänger gewinnen dürfte – einschließlich des Gedankens, dieses Konzept auch auf eigenem Terrain auszuprobieren.
Schließlich ist dem Deutschen das Separatistische nicht fern; es gab über Jahrhunderte Kleinstaaterei und auch später immer wieder Trennungsversuche, zum Beispiel von Bayern. 1953 war es der von der CDU hoch verehrte Konrad Adenauer, der auf eine Stalin-Note, die eine Neutralisierung Deutschlands ins Gespräch brachte, antwortete:
»Lieber das halbe Deutschland janz als das janze Deutschland halb«.
1989 galt zwar nicht für die Mehrheit, aber für eine starke Minderheit der DDR-Bürger eine reformierte Republik als denkbare Option. Warum sollte man das nicht neu erwägen? Immerhin gibt es bereits in Mitteleuropa drei Staaten, in denen die deutsche Sprache dominiert. Irgendwie und immer mehr lockt bei allen Diskussionen über das gescheiterte Zusammenwachsen auf deutschem Boden fern am Horizont die DDR.