(pri) Das Stück ist – wie bei Shakespeare fast immer – von anhaltender Aktualität. »Richard III.«, seit vier Jahren an der Berliner Schaubühne ständig ausverkauft, verhandelt Machtgewinn und Machterhalt mittels bedenkenlos-brutaler Methoden – in einer Zeit, da Potentaten überall auf der Welt genau auf diese Weise nach oben streben, nicht unbedingt immer mit dem blutigen Instrumentarium der Shakespeare-Zeit, aber auch das gibt es noch oder wieder, wie das Beispiel des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zeigt.
Davor kann nicht eindringlich genug gewarnt werden, doch was Regisseur Thomas Ostermeier dazu auf die Bühnen brachte, greift zu kurz, wie schon 2015 die Kritik vermerkte und wie mit jedem neuen »Richard« auf der Weltbühne immer deutlicher wird. Gewiss muss man ihm und seinem Ensemble zugute halten, dass vor vier Jahren die heutige Entwicklung in all ihrer bedrohlichen Schärfe nicht absehbar war, doch ein wenig mehr Frühwarnsystem hätte man sich schon gewünscht von einem Theater, das zu Recht den Anspruch erhebt, der Zeit den Puls zu führen. Doch Ostermeier hatte dies gar nicht im Sinn. Wie er selbst sagte, brachte er den englischen Königsmörder auf die Bühne, weil er »eben keinen Lear, keinen Antonio und auch keinen Shylock im Ensemble« hatte, aber einen Richard, nämlich Lars Eidinger. Und dieser Schauspieler, der im gleichen Haus schon den Hamlet zum Ereignis machte, enttäuschte ihn auch diesmal nicht. Er spielt einen Richard, der »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«, wie ein späterer Dramatiker-Kollege Shakespeares eine seiner Komödien nannte, kongenial zu vereinen suchte, was mit den ersten drei Ausdrucksformen durchaus gelang, freilich auf Kosten der tieferen Bedeutung.
Denn Eidinger legte den perfiden Massenmörder als einen an, der vom glitzernden höfischen Leben, das Ostermeier gleich anfangs mit einem Staniolregen zelebriert, weitgehend ausgeschlossen ist – und dies vor allem wegen seiner körperlichen Gebrechen, dem schiefen Gang, dem Buckel, dem entstellenden Kopfschutz. Weshalb er seine unbefriedigende Lage durch Destruktion zu kompensieren sucht: »Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.« Dass es dabei und dazu auch um Macht geht, bleibt unterbelichtet, was das Stück auf eine psychologische Studie reduziert – mit dem Anspruch, den Unhold irgendwie zu verstehen. Aber schon das funktioniert nicht, denn Eidinger-Richard spielt den Genuss, das Wonnegefühl über seine Intrigen und ihr ganz unproblematisches Gelingen so extensiv aus, dass Anteilnahme nicht aufkommt, allenfalls dass Interesse des Insektenforschers, wie lange solch ein Gewaltspiel gut gehen kann, und die Spannung, wie es endet. Scherz, Satire und Ironie passen einfach nicht zu einem solchen Charakter; sie verharmlosen ihn nicht einmal, sie machen ihn unglaubwürdig.
Unterhaltsam ist das zwar allemal und dazu natürlich Eidingers beliebtes Spiel mit dem Publikum – so wenn er eine Zuschauerin, die seine Nacktheit samt gemäßigt ausgestreckter Rute aufs Handy holt, milde tadelt und ihr den Skizzenblock empfiehlt: »Aktzeichnen in der Schaubühne!« Und beim Schlussapplaus selbst das Telefon mitbringt, wohl um die Voyeurin auch bloßstellen zu können, falls sie es mit ihm tut. Oder wenn der Verzehr von Kartoffeln mit Quark mit dem Hinweis kommentiert wird, das biete auch die Theaterkantine an. Aber der Ernst des Vorgangs verschwindet hinter der theatralischen Raffinesse, vor allem geht eine wichtige Botschaft des Stücks fast völlig verloren – nämlich die Frage nach dem Anteil des Umfelds am Erfolg eines zu allem entschlossenen und skrupellosen Emporkömmlings. Dass es solche Aufsteiger derzeit vermehrt gibt, ist ja kein Zufall, und dass sie ihren Aufstieg immer besser abzusichern vermögen, hat Kalkül, wie Richard III. exemplarisch zeigt.
Bei Shakespeare hat Richard viele Helfer – getäuschte, geschmeichelte, auf Vorteil hoffende, Nachteil fürchtende, beim Starken andockende, Schutz erwartende oder auch einfach ihren blutigen Job erledigende. Sie alle wissen mehr oder weniger über seine Untaten, verdrängen jedoch allenfalls ihr Unbehagen und machen sein Spiel mit – fast bis zum Schluss. Davon ist in der Schaubühne wenig zu sehen. Die Mitspieler Richards sind oft nur auf betreten herumstehende Statisten reduziert, gewinnen kaum Statur und lassen so seinen Aufstieg als unausweichlich, alternativlos erscheinen. Richard mal X, wie wir es gerade erleben – das ist aber kein Schicksal, sondern Menschenwerk. Und das nicht im Singular, sondern im Plural.