(pri) Wie sehr mitunter die Wirklichkeit einerseits und ihre Deutung durch interessengeleitete Interpreten andererseits auseinanderklaffen, kann man gegenwärtig sehr schön an der Studie »Verlorene Mitte – Feindselige Zustände« der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) beobachten. Denn sie bediente sich nicht nur mit dieses martialischen Titels, sondern lieferte schon im Vorwort eine Auslegung, die durch die empirischen Ergebnisse kaum gestützt wird, es sei denn, man hält die Bestätigung der eigenen Hypothese für das Ziel der Interpretation und verzichtet auf eine vorurteilslose, für die Politik der Regierungsparteien, die SPD also eingeschlossen, freilich schmerzhafte Analyse.
Apodiktisch wird zunächst festgestellt,
»dass rechtsextreme, -populistische und demokratiefeindliche Einstellungen und Tendenzen in der Mitte tief verwurzelt sind und die Normalisierung rechter Einstellungen sich immer mehr in der Mitte festschreibt und verfestigt«, aber nur zehn Zeilen weiter wird auch eine anhaltende »Demokratiebefürwortung« konstatiert. Diesen offensichtlichen Widerspruch versucht die Studie dadurch zu lösen, dass sie eine Art gespaltenen Bürger erfindet, der nur wieder vereinheitlicht werden müsse: »Wie erreichen wir diese Menschen, die Demokratie wollen, aber dies in der Praxis anders leben? Haben wir alle die gleiche Idee davon, was Demokratie ist?«
Eine Antwort auf diese Fragen liefert die Studie nicht; vielmehr wird zunächst die Hypothese vom »Rechtsruck« breit dargestellt, was die meisten Medien dankbar aufgriffen, enthebt es doch auch sie der Aufgabe, etwas tiefgründiger nach den Ursachen einer solchen Entwicklung zu fragen. Folglich dominierten in der Berichterstattung die alarmistischen Aussagen, Und viele der Journalisten sind offensichtlich gar nicht bis zur Seite 223 der Studie vorgestoßen, wo plötzlich von ganz andersartigen Forschungsergebnissen die Rede ist, nämlich von »Demokratiebefürwortung« und sogar der Beobachtung, dass »ein Großteil der Bevölkerung gerade der Integration von Migrant*innen durchaus positiv gegenübersteht«.
Denn bei der Frage nach »pluralistischer Demokratiebefürwortung« reagierten nur drei bis sechs Prozent der Befragten negativ.
»Demgegenüber halten es beispielsweise 86,3 % der Befragten für unerlässlich, dass Deutschland demokratisch regiert wird und 92,6 % sind der Ansicht, die Würde und Gleichheit aller sollte in einer Demokratie an erster Stelle stehen.« Und weiter: »Insgesamt wird der Demokratie in Deutschland Vertrauen entgegengebracht. Insbesondere auf allgemeiner und abstrakter Ebene zeigt jeder zweite Befragte Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie (64,8 %) und ihrer Institutionen (56,6 %).«
Aber, so heben die Forscher der FES sogleich mahnend den Zeigefinger, gebe es auch in bemerkenswertem Maße »Demokratiemisstrauen« und »illiberales Demokratieverständnis«. Dies haben sie durch Konfrontation der Befragten mit Aussagen wie »Die demokratischen Parteien zerreden alles und lösen die Probleme nicht.«, »Politiker umgehen die bestehenden Gesetze, wenn es um ihre eigenen Vorteile geht.«, »Die Demokratie führt eher zu faulen Kompromissen als zu sachgerechten Entscheidungen.« oder »Es wird zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen.« herausgefunden – und damit zugleich die Fragwürdigkeit ihrer Methode offengelegt. Denn sie haben nicht einmal vorsichtig hinterfragt, ob derartige Meinungen in der Bevölkerung tatsächlich von Demokratiemisstrauen und illiberalem Demokratieverständnis zeugen oder nicht vielmehr aus dem Versagen der Politik und dem Fehlverhalten ihrer Repräsentanten resultieren. Solche Aussagen sind für sie von vornherein nicht etwa »legitime Kritik am Funktionieren der bestehenden Demokratie, sondern vielmehr … durch Illiberalität gefärbte Abwertung der Demokratie«.
Eigentlich hätte es die FES stutzig machen müssen, dass vor dem Hintergrund der beinahe hundertprozentigen Zustimmung zur Demokratie so viele Bürger den von ihnen vorgegebenen Aussagen zum Demokratiemisstrauen zustimmten. So »sind bis zu der Hälfte der Befragten der Meinung, die demokratischen Parteien würden gesellschaftliche Probleme nicht lösen (42,9 %) und werfen Politiker*innen pauschal vor, bestehende Gesetze zu umgehen (46,3 %) oder sich mehr Rechte herauszunehmen als normale Bürger*innen (49,5 %)«. Auch zum illiberalen Demokratieverständnis wurden die Forscher nicht entsprechend ihrer Hypothese fündig: »Während 35,6 % der Befragten es für zutreffend halten, im nationalen Interesse könnten >nicht allen die gleichen Rechte gewährt werden< und 22,5 % der Meinung sind, auf Minderheiten werde zu viel Rücksicht genommen, halten zwischen 41,6 % und 54,3 % der Befragten diese Aussagen für unzutreffend.« Ergo:
»Es lässt sich insgesamt keine eindeutige Zunahme der demokratieablehnenden Einstellungen oder der politischen Entfremdung erkennen.« Und: »Zumindest ist keine Trendentwicklung beobachtbar, die eine Verschärfung des Demokratiemisstrauens oder von politischen Entfremdungsgefühlen zwischen 2002 und 2018/19 anzeigt.«
Aber die Interpreten dieses empirischen Bildes ficht das nicht an. Sie halten an ihren Vorurteilen fest und produzieren mit der Art und Weise ihrer medialen Repräsentation faktisch Fake News, d. h. ihre Deutung ist durch die Tatsachen nicht gedeckt. Die Studie geht vom Dogma des gegenwärtigen Zustandes der Demokratie aus und stellt sich nicht einmal die Frage, inwieweit gerade dieser Zustand eine der Ursachen von „Demokratiemisstrauen“ und „illiberalem Demokratieverständnis“ ist. Dass es berechtigte Kritik am realen Funktionieren der Demokratie geben könnte, ist für die Verfasser ein Gedanke fern ihrer Vorstellungswelt.
Stattdessen konstatieren sie, »Verschwörungsmentalität« sei in Deutschland aktuell weit verbreitet, wobei bereits solche Äußerungen wie »Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte.«, »Die Medien und die Politik stecken unter einer Decke.« und »Ich vertraue meinen Gefühlen mehr als sogenannten Experten.« als Belege dienen – ungeachtet dessen, dass es für all dies genügend Belege gibt, auch wenn es natürlich pauschal nicht zutrifft. Zugleich sprechen sie nebulös von einem »Nebeneinander von antidemokratischen und demokratiebefürwortenden Mentalitäten in der Bevölkerung«, wofür sie ebenso nebulös vorrangig eine »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« verantwortlich machen. Ein anderes Erklärungsmuster kommt ihnen nicht wirklich in den Sinn. Und ebenso wenig, dass die skeptischen Äußerungen zum Funktionieren der realen Demokratie gerade wegen dieser kritischen Note vielleicht sogar demokratiefreundlich sein können, demokratiefreundlicher jedenfalls als die rechthaberische Leugnung politischen Fehlverhaltens durch viele Politiker selbst.
Dabei ist keineswegs zu übersehen, dass es neben dieser stabilen demokratiefreundlichen Haltung in der Bevölkerung natürlich auch negative Einstellungen bis hin zu rechtsextremistischen Positionen gibt, doch bleiben gerade deren Ursachen durch die Vorgehensweise der FES-Studie weitgehend ausgeblendet. Zwar wird gelegentlich auf »sozioökonomische Einflüsse« verwiesen, das aber eher beiläufig und vor allem ohne einen Zusammenhang zur konkreten Politik herzustellen, so als wären die sozialen Probleme gewissermaßen schicksalhaft über die Menschen gekommen. Kommentatoren der Studie sind da mitunter schon weiter:
»Wie wäre es mit dieser Erklärung: Die Bahn kommt zu spät oder gar nicht, seit Jahren. Begründung, ob offen ausgesprochen oder nicht: Kein Geld da. In den deutschen Städten fehlt Wohnraum in riesigen Dimensionen, und die Politik zuckt nur mit den Schultern. Müssen halt mehr Wohnungen bauen. Aber leider auch hier: Kein Geld da. Und die Liste geht weiter: marode Schulen, unterbesetzte Ämter. Ja sicher, alles erträglich, international steht das Land immer noch gut da. Aber die Menschen haben ein gutes Gedächtnis: Sie erinnern sich, dass vor zehn Jahren, während der Finanzkrise, urplötzlich Milliarden da waren, quasi über Nacht, um die Banken zu retten.«
Auch die gravierenden Fehler in der Integrationspolitik, die wesentlich zur negativen Haltung in weiten Bevölkerungskreisen gegenüber Flüchtenden beigetragen haben, sind in der Studie nirgends ein Thema. Dabei haben insbesondere die CSU und weite Teile der CDU diese Ressentiments bewusst geschürt, durch die unsägliche Obergrenzen-Diskussion, rassistischen Sprachgebrauch und die konkrete Verweigerung von Hilfe, durch die Seehofer-Administration in Bayern von Anfang an bis heute, wo 51 deutsche Städte ihre offizielle Bereitschaft erklärten, im Mittelmeer gestrandete Bootsflüchtlinge aufzunehmen und ihnen dies durch die Bundesregierung verweigert wird.
Aber auch die SPD mit ihrer fortgesetzten Unterwerfung unter Unionsforderungen hat die in der Studie ihrer Stiftung konstatierte Fremdenfeindlichkeit mitzuverantworten, denn solche Aussagen wie »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.« oder »Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.« gehören zum allgemeinen Sprachgebrauch der Partei. Ebenso gibt es bei den Grünen Vertreter, die – siehe der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer – solche Sätze sagen könnten: »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.« Und bei der Linkspartei – Beispiel Sarah Wagenknecht – solche, die meinen: »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.« All diese Meinungen – für die FES Indikatoren von Fremdenfeindlichkeit – sind gewöhnlicher Politik-Sprech; wen wundert es da, wenn sie in der Bevölkerung teilweise weit verbreitet sind.
Indem die Studie solche Zusammenhänge bewusst ausblendet, trägt sie dazu bei, die Politik von jeder Verantwortung für die Rechtsentwicklung und wachsenden Demokratieverdruss in Teilen der Bevölkerung freizusprechen. Ursache soll eine auf imaginäre Weise entstandene Menschenfeindlichkeit sein, die dazu führe – wie eine der Autorinnen der Studie ausführte, dass »dass die gesellschaftliche Mitte zunehmend auf matschigem Boden steht und einige eben auch drohen, im Sumpf zu versinken«. Daraus ergebe sich die Aufgabe, »mehr Engagement für politische Bildung und das Erklären von Demokratie aufzuwenden«. Die Aufgabe, die Menschen durch eine vernünftigere, gerechtere und dadurch überzeugendere Politik gegen rechtes Gedankengurt immun zu machen, sieht man bei der Friedrich-Ebert-Stiftung offensichtlich nicht.