(pri) In der Europäischen Union herrscht Panik, denn die anstehende Wahl zum Europaparlament verheißt nichts Gutes, vielmehr erkleckliche Zugewinne jener Parteien, die – ob rechts oder links – pauschal als »populistisch« bezeichnet werden. Der holländische SP-Spitzenkandidat Timmermans nannte sie eine »Schicksalswahl«, und landauf, landab wird – mit gutem Recht – vor rechten Demagogen, Rechtsradikalen und Rechtsextremisten gewarnt. Denn tatsächlich sind sie es, die derzeit das Bild in vielen EU-Mitgliedsstaaten prägen – in Ungarn, Italien, Polen, Österreich vor allem, aber auch in den Niederlanden, in Frankreich, in Estland, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, etlichen skandinavischen Ländern und nicht zuletzt hierzulande sind sie im Vormarsch.
Aber so umfangreich und alarmistisch auch die Lagebeschreibung ist, so wenig wird über die Ursachen gesprochen. Man könnte meinen, die Orban, Salvini, Kaczynski, Strache, Wilders, Le Pen, Gauland und andere seien vom Himmel gefallen; dabei war und ist es die EU selbst, die sie hervorgebracht und stark gemacht hat. Und dies nicht nur wegen des bürokratischen Wasserkopfes der Behörde, dieser oder jener Einzelentscheidung in Brüssel oder Straßburg oder sonstiger behebbarer Mängel, sondern weil das von ihr verkündete Konzept der gemeinsamen, einvernehmlichen Verfolgung politischer Ziele durch mehr als zwei Dutzend europäischer Staaten auf dem Fundament einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht funktionieren kann.
Denn für die systemimmanente Wirtschaftswissenschaft ist nun einmal »die Dynamik der Konkurrenz (…) im Kapitalismus die treibende Kraft der Produktivkraftentwicklung … Die kapitalistische Konkurrenz funktioniert also nur dadurch, dass es Gewinner, die belohnt, und Verlierer, die bestraft werden, gibt.« Mithin taugt die Schillersche Vision »Alle Menschen werden Brüder« nicht als Wert kapitalistischen Agierens. Es geht vielmehr ums genaue Gegenteil: Alle Menschen sind Konkurrenten. Und jeder ist angehalten, kompromisslos nach dem eigenen Vorteil zu streben – und sei es auf Kosten des Nebenmannes. Was so nach kapitalistischem Maßstab für das Zusammenleben der Menschen gilt, ist erst recht Richtschnur für die Beziehungen zwischen Staaten. Sie alle funktionieren – mehr oder weniger laut – nach dem Motto »Wir, als Staat, Land, Volksgruppe – zuerst!«
Genau danach handeln die Mitgliedsstaaten der EU. Und daraus ergeben sich die meisten der gegenwärtigen Konflikte. Der Umgang mit Geflüchteten im Mittelmeer ist dafür das wohl überzeugendste Beispiel. Erst waren es die starken europäischen Mittelmächte wie Deutschland oder Österreich, die das für sie bequeme Prinzip durchsetzten, dass Flüchtlinge das Problem jenes Landes sind, auf dem sie erstmals europäischen Boden betreten. Nach dieser »Dublin-Regel« mussten sie sich keine Sorge machen, von Flüchtenden je behelligt zu werden, ganz im Gegensatz zu den Anrainern des Mittelmeers oder den Randstaaten mit ihren kilometerweiten Außengrenzen. Sie traf die Zunahme der Migration aus der Armut nach Europa – und sie hatten plötzlich keine »Brüder« mehr. Die meisten nahmen murrend die zusätzlichen Lasten auf sich, konnten aber allein die dadurch entstehenden inneren Probleme nicht bewältigen. Die Folge waren wachsender Unmut in der Bevölkerung, der schnell Wortführer fand, und damit die Ausbreitung rechtsdemagogischer Parolen. Selbsternannte »starke Männer« griffen sie auf und münzten sie in Wählerstimmen um; Matteo Salvini in Italien ist eines dieser Produkte kapitalismuskonformer EU-Politik.
Als anderes Beispiel kann der Umgang mit den neuen Mitgliedern der Europäischen Union dienen, die für die – vor allem wirtschaftlich – starken Staaten ein willkommener Absatzmarkt waren, den sie durch großzügige Kreditvergabe noch befeuerten. Irgendwann aber mussten die Kredite zurückgezahlt werden – und nun erwies sich das, was zunächst wie ein Wohlstandsgewinn aussah, für nicht wenige der neuen EU-Länder als böse Falle. Griechenland wurde weitgehend unter Zwangsverwaltung gestellt, andere Staaten konnten sich nur durch rigide Sparprogramme davor bewahren. Die Zeche zu zahlen aber hatten letztlich vor allem die Bürger, die kleinen Leute; auch das machte nicht wenige von ihnen empfänglich für die Parolen rechter Demagogen. Sie wurden stark, weil sich die Tonangebenden in der EU egoistisch durchsetzten und zuerst auf ihren Vorteil achteten.
In den osteuropäischen Ländern führten die wirtschaftlichen Verwerfungen zu erheblicher politischer Instabilität, und das von diktatorischen Zügen des Staatssozialismus geprägte neue Establishment suchte und sucht einen Ausweg in der Einschränkung demokratischer Freiheiten. Im Visier ist besonders die Judikative als dritte Gewalt, so in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien, in all diesen Ländern werden aber auch die Medien als vierte Gewalt behindert. Zwar beklagen EU-Gremien solche Verstöße gegen festgeschriebene europäische Normen, aber sie tun gleichzeitig wenig, um die Ursachen dieser Entwicklung zu beseitigen – zum Beispiel durch fairen Handelsaustausch, durch Investitionen in lukrative Produktionsstätten bei gleichzeitigem Verzicht auf Billiglöhne und Steuerdumping. Es widerspricht der kapitalistischen Grundhaltung der reichen EU-Staaten, die Europäische Union nicht nur zu einer Währungsunion und einem Binnenmarkt, sondern auch zu einer Sozialunion zu machen.
Es ist der durch die Globalisierung entfesselte Kapitalismus, der einer gemeinsamen Politik der europäischen Staaten im Wege steht. Seit er eine – wenn auch am Ende vielleicht nur noch theoretische – Alternative durch den realen Sozialismus auf europäischem Boden nicht mehr fürchten muss, treten seine negativen Seiten immer deutlicher hervor. Vor allem die schnell wachsende Kluft zwischen Arm und Reich polarisiert auch politisch, und angesichts der weitgehend fehlenden linken Alternative profitieren davon derzeit vor allem rechte Kräfte, die die Unzufriedenen um sich versammeln.
Aber man muss gar nicht unbedingt nach rechts schauen, um die Unvereinbarkeit kapitalistischen Konkurrenzdenkens mit der europäischen Gemeinsamkeit zu beobachten. Auch zwischen den großen Ländern Europas tobt der Konkurrenzkampf. Deutlichstes Zeichen dafür ist bisher der Brexit, der das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU zum Ziel hat. Er war einst vom britischen Premierminister David Cameron in Gang gesetzt worden, indem er auf eine Sonderstellung seines Landes innerhalb der EU pochte. Als er diese nicht im gewünschten Maße durchsetzen konnte, übernahmen andere EU-Gegner das Kommando; auch sie konnten sich dabei auf wachsende Unzufriedenheit in Großbritannien über die Rücknahme sozialer Standards stützen. Der Streit über die Vormachtstellung in Brüssel ist der Hintergrund des Brexit, was heute aber kaum noch thematisiert wird.
Dafür schwelt zumindest unterschwellig bereits die nächste Auseinandersetzung um die Macht in der EU – diesmal zwischen Deutschland und Frankreich. Frankreichs Präsident Macron ist bestrebt, die Stellung seines Landes deutlich aufzuwerten und hat dazu eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet. Doch östlich des Rheins ist er damit auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die meisten Reformvorschläge lehnt die Bundesregierung ab, vor allem jene, die auf stärkeren sozialen Ausgleich in Europa zielen. Es stört Frankreich, wie sehr Deutschland vor allem die südeuropäischen Länder ökonomisch von sich abhängig gemacht hat. Aber auch zum Umgang mit dem britischen Brexit-Chaos, in der Klimapolitik und bei Handelsfragen gibt es deutsch-französische Differenzen.
All dies ist keine Überraschung, sondern gehört zur Wirkungsweise des kapitalistischen Systems, ist also weder durch emotionale Appelle noch durch wortreiche Beschwörungsformeln aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil: Unmittelbar nach der Wahl werden wir einen gnadenlosen Machtkampf um die einflussreichen Positionen in der EU-Bürokratie erleben. Dann wird das Konkurrenzprinzip des Kapitalismus alle Schwüre und Versprechungen, die derzeit zu hören sind, zu Makulatur machen – einfach deshalb, weil es eben zu seiner Genetik gehört, »dass es Gewinner, die belohnt, und Verlierer, die bestraft werden, gibt.«