Nach ihrer großen Enttäuschung über den Patriarchen versucht es die CDU jetzt mit dem Matriarchat
Gestern wurde Angela Merkel als künftige Parteivorsitzende der westgeprägten CDU nominiert. Zum zweiten Mal nutzte sie eine Chance, die sich aus dem Chaos ergab.
(»Neues Deutschland« vom 21. März 2000)
Im Herbst 1989 saß Angela Merkel scheinbar uninteressiert im Institut für Physikalische Chemie der Berliner Akademie der Wissenschaften über einem wissenschaftlichen Bericht. Ein Kollege fragte, so Alexander Osang im »Spiegel-Reporter«, warum sie nicht auf der Straße sei. »Das bringt ja doch nichts«, soll sie gesagt haben. Sie war ein Kind der DDR und hatte wohl resigniert, weil sie nicht mehr an Veränderungen glaubte. Sie hatte ihr bisschen Frieden mit dem System gemacht und eine bescheidene wissenschaftliche Laufbahn einschlagen können. Nach Abitur und Physikstudium promovierte sie und machte nun diszipliniert ihre Arbeit. Eine Karriere, auch das hatte sie »rfahren, hing am wenigstens von ihr selbst ab – zumal sie sich den bestehenden Verhältnissen nicht ausliefern wollte. Über persönliche Entwicklungen entschied oft Herkunft mehr als Leistung, marxistische Zitatenfestigkeit mehr als geistige Kreativität.
Karriere in Umbruchzeiten
Angela Merkel kam aus einem kirchlichen Elternhaus. Zwar gehörte ihr Vater Horst Kasner nicht zu zu den besonders aufmüpfigen Pfarrern; einen Werbeversuch des MfS hatte er aber stolz abgelehnt. Auch die Tochter zog es nicht in oppositionelle Zusammenhänge, sie war FDJ-Mit-glied und an der Akademie sogar Funktionärin – Sekretär für Agitation und Propaganda. Dennoch konnte sie mit solchem Hintergrund nicht aufsteigen – und wollte es wohl auch nicht. Nicht einmal ans nahende Ende der DDR mochte sie glauben. Dann aber schaute sie doch beim Demokratischen Aufbruch mit seinem als Dissidentenanwalt bekannten Vorsitzenden Wolfgang Schnur vorbei und wurde -vielleicht nun gerade, weil sie die Tochter eines Templlner Pfarrers war – die Pressesprecherin von dessen Minipartei. Die war kein halbes Jahr später – und inzwischen ohne Schnur – zusammen mit der Ost-CDU und der DSU Regierungspartei, und Angela Merkel stieg zur stellvertretenden Regierungssprecherin auf.
Plötzlich waren Spielräume da gewesen, die sie hatte nutzen können. DasChaos war auch für sie die schönste Zeit, weil Autoritäten nichts mehr galten. Aus der Bedeutungslosigkeit sprang sie ins Rampenlicht – und musste dazu kaum mehr tun, als ihre Fähigkeiten ausspielen – die schnelle Auffassungsgabe, präzises Denken, eine sichere Urteilsfähigkeit und eine Portion Misstrauen, die sie vor übereilten Entscheidungen bewahrte. Schließlich eine »konstruktive« Bereitschaft zur Resignation, wenn sie an allzu hohe Grenzen stieß.
Gerade letztere brauchte sie bald wieder. Die DDR ging zu Ende, die CDU-Ost trat jener der alten Bundesrepublik bei; wer weiter dabeibleiben wollte, durfte nicht so eigensinnig sein wie ein Lothar de Maiziere, nicht so offenherzig wie ein Peter-Michael Diestel, nicht so leichtsinnig wie ein Günther Krause. Er musste seinen Frieden mit den neuen Verhältnissen schließen, wollte er eine mehr oder minder bescheidene politische Laufbahn einschlagen. Angela Merkel wurde Bundesministerin für Frauen und Jugend von Helmut Kohls Gnaden, dann Stellvertreterin des großen Vorsitzenden in der Partei, schließlich Umweltministerin.
Eine neue Chance bot sich, als eine neue, zunächst kleine Krise nahte. 1998 verlor die Union die Bundestagswahlen. Der neue Vorsitzende Wolfgang Schäuble suchte eine Managerin mit jenen Fähigkeiten, die Kohls »Mädchen« mitbrachte -selbständig, aber nicht zu eigenständig, schnell von Begriff, ohne allzu viel Neues zu erfinden, loyal, und doch nicht unterwürfig. Die CDU konnte zwar im folgenden Jahr die Schlappe verwinden, sogar Wahlerfolg auf Wahlerfolg feiern, aber inhaltliche Innovationen gab es kaum, halbherzige Versuche dazu blieben im Ansatz stecken.
Sehnsucht nach neuer Identifikationsfigur
Dann kam im letzten Herbst die große Krise, die Beinahe-Katastrophe der CDU. Und schnell sah Angela Merkel vertraute Situationen wieder, erkannte in Abläufen schon einmal Erlebtes, begann, zunächst wohl instinktiv, so zu handeln, wie zehn Jahre zuvor. Sie wusste, dass in solcher Lage nichts zu erzwingen war und beschränkte sich aufs Reagieren zum passenden Zeitpunkt, an der richtigen Stelle, mit dem rechten Maß. Gestern, nach ihrer »Präsentation« als Kandidatin, bezeichnete sie sich als »realistischen Menschen«. Ihr Handeln ergebe sich aus den Fakten. Und so setzte sie auch jetzt Akzente, wo es sinnvoll schien und sie gleichwohl nicht gefährdete. Am 30. November 1999 veranlasste sie Kohl zum Geständnis, dass es in seiner Amtszeit Schwarzkonten gab. Am 8. Dezember schickte sie allen Beteiligten einen Fragebogen über ihr Wissen. Am 22. Dezember forderte sie ihre Partei in einem Zeitungartikel auf, sich von Kohl zu lösen. Dann legte sie eine Pause ein, ließ der Partei, die ja – anders als das DDR-System – nicht zerstört werden sollte, Luft zum Atemholen und trieb gleichzeitig mit ihrem Vertrauten Willi Hausmann die Klärung der Tatsachen voran.
Zu jenem Zeitpunkt war der Vorsitzende Wolfgang Schäuble bereits angeschlagen, musste sich mit seiner eigenen Affäre beschäftigen. So hatte Angela Merkel wieder jene Spielräume, die sie nutzen konnte. Erneut war da ein Stück Chaos, fehlten die Autoritäten. Und sie konnte eine Erfahrung der Wendezeit aktualisieren, indem sie auf die Basis ihrer Partei zuging. Sie wusste um die Verunsicherung, die die Menschen in Umbruchsituationen ergreift, kannte ihre Sehnsucht nach Orientierung, zumindest aber nach Trost und Hoffnung – und bot den »Dialog« an. Im Februar, schon bevor Schäuble aufgab, wurden jene Regionalkonferenzen beschlossen, die Angela Merkel vor allen anderen ins Rampenlicht stellten. Den einfachen Parteimitgliedern, die nach dem Absturz Helmut Kohls ihre Leitfigur verloren hatten, bot sie neue Identifikation. Wenn die CDU schon keinen Papi mehr habe, sagt sie dann beispielsweise der »Süddeutschen Zeitung«, dann wolle sie jetzt eben eine Mami. Nach ihrer großen Enttäuschung mit dem Patriarchen flüchtet sich die CDU ins Matriarchat.
Nicht nur der emotionale Zustand der Partei half ihr. auch die taktischen Fehler ihrer Kontrahenten ebneten den Weg. Die Rühe und Rüttgers verstanden nicht, dass angesichts der tiefgreifenden Diskreditierung der gesamten Führung kaum noch etwas nach den alten Ritualen verlief. Rüttgers glaubte viel zu lange an den Nimbus Helmut Kohls. Rühes Wort, dass nicht das Gefühl der Mitglieder, sondern die Vernunft der Leitungen zu entscheiden habe, warf auch ihn endgültig aus dem Rennen. Und Stoibers ungeschickte Inszenierungen hinter den Kulissen liefen ins Leere, weil sie nach bayerischem Kungelmuster ablaufen sollten und die Stimmung der CDU-Basis negierten.
Natürlich hatte Angela Merkel auch Glück. Wolfgang Schäubles Verstrickung in das Kohlsche Spendenwesen, seine Tricksereien bei ihrer Aufklärung nahmen ihm jede Glaubwürdigkeit und ließen die unbelastete Ostdeutsche umso heller strahlen. Und dass Roland Koch in Hessen bis heute mit dem Rücken an der Wand steht, verhinderte die Konkurrenz des »brutalstmöglichen« Strebers in Machtpositionen. Angela Merkel setzte auf die »Macht des Faktischen«, musste nicht Fakten schaffen, um nach der Macht greifen zu können.
Inhaltliche Unverbindlichkeit
Solch ein Coup gelingt nur in Umbruchsituationen. Jetzt strebt die CDU danach, zur Normalität zurückzukehren – für Angela Merkel ohne Zweifel die schwierigere Etappe. Sie weiß, dass sie nun bald an der Spitze der Karawane, die Helmut Kohl so gern trotz allen Hundegebells weiterziehen ließ, marschieren wird und damit die Pfeile der politischen Gegner wie – oft schlimmer noch – politischer »Freunde« auf sich zieht. Sie wird auch die Richtung angeben müssen, wo sie doch in der Vergangenheit Orientierungen folgte, allenfalls eine geordnete Marschformation organisierte. Auch gestern blieb sie im Inhaltlichen vage, unverbindlich – so etwa auf die Frage, was für sie konservativ sei: »Zu bewahren, was bewahrenswert ist.«
Auch stolze Siege begründen keine dauerhafte Siegesserie. Stefan Heym hat Angela Merkel vor einigen Wochen einmal mit Jeanne d’Arc verglichen – jener auf so wundersame Weise an die Spitze des französischen Heeres gelangten Jungfrau, die Sieg auf Sieg errang und sogar zur Heiligen erklärt wurde. Das aber verhinderte nicht, dass sie am Ende doch auf dem Scheiterhaufen starb.
Andere Politker haben ihre Skandale, Angela Merkel aber ist ein Skandal. Wie gemein! Hat die „Zufallspolitikerin“ mit dem feinen Sinn fürs geschickte Taktieren, die auch manches Mal von den Mißgeschicken ihrer weniger gekonnt agierenden Parteifreunde karrieremäßig profitiert hat, nicht gerade in schwierigen Zeiten ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen in das Seelenleben der orientierungslos gewordenen CDU-Parteibasis gezeigt, nachdem sowohl der einstige Übervater und Vormund der Christdemokraten Helmut Kohl von der politischen Bühne abgetreten sowie sein langjähriger Weggefährte, aber glückloser Gehilfe und Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble schon nach kurzer Zeit an den eigenen Verstrickungen in das alte „System Kohl“ jäh gescheitert ist? Die Meisterin der unverbindlichen Sprechblasen ist wohl ein Politikertypus, den bestimmte Umbruchszeiten nach oben spülen, aber auch ein Polit-Apparatschik, auf den man besser verzichten könnte.