(pri) Dem SPD-Urgestein August Bebel wird der Satz nachgesagt: »Wenn mich meine Feinde loben, kann ich sicher sein, einen Fehler gemacht zu haben.« Im Umkehrschluss heißt das wohl für das designierte sozialdemokratische Vorsitzenden-Tandem Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, dass der massive Tadel, der ihm seitens seiner Feinde, die vorgeblich so objektiven staatsnahen Leitmedien an der Spitze, entgegenschlägt, die Botschaft vermittelt, dass sie alles richtig machen. Denn ohne Zweifel geben sie erstmals seit langer Zeit einer deutlichen Mehrheit der Basis ihrer Partei wieder Hoffnung auf eine Rückkehr zu den Prinzipien eines Interessenvertreters für jene in der Gesellschaft, die zwar die materiellen Werte schaffen, jedoch um sie oft betrogen werden, für die unverdient Schlechterverdienenden und für die sozial Schwachen.
Gerade diese Klientel, für die SPD vor mehr als 150 Jahren gegründet worden war, fand sich in ihrer eigenen Partei nicht mehr wieder, war sie doch in den letzten Jahren mehr denn je zur Beute eines opportunistischen Führungszirkels geworden, dem es mehr um Posten am Regierungstisch als um konsequente Vertretung der Mitgliederinteressen ging und der deshalb vom Aufstand der Basis total überrascht wurde. Allein dies zeigt, wie abgehoben die SPD-Führungsriege inzwischen agierte.
Und auch die verkniffenen Reaktionen aus dem Partei-Establishment belegen, dass sie unverändert nicht in der Lage sind, die eigenen Mitglieder zu verstehen. Sie nörgeln unter Verweis auf die Biografien von Esken und Walter-Borjans über deren vermeintliche Unfähigkeit, das höchste Parteiamt auszufüllen. Doch was sie da als Makel ausmachen – Walter-Borjans beharrlichen Kampf gegen Steuerhinterziehung und das ungerechte Steuersystem insgesamt, das lieber dem Normalbürger in die Tasche greift statt die Reichen zu belasten, und Saskia Eskens frühere Tätigkeiten als Paketbotin, Kellnerin und Schreibkraft – stellte sich für die SPD-Mitgliedschaft als viel näher am eigenen Leben und den eigenen Problemen dar als das Berufsfunktionärstum der Führungspolitiker.
Schon einmal hatte die die SPD-Spitze die Stimmung der Basis ignoriert – 2017, als Martin Schulz mit einem ähnlichen Programm wie jetzt Walter-Borjans und Esken in den Bundestagswahlkampf startete und sofort die Herzen der übergroßen Mehrheit der Sozialdemokraten eroberte. Damals gewann die SPD in wenigen Wochen 10 000 neue Mitglieder, Schulz wurde mit 100 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten gewählt, und in den Umfragen stieg die SPD auf über 30 Prozent. Der etablierten Führung aber war schon damals das reibungslose Funktionieren der von CDU und CSU dominierten Groko wichtiger, weshalb sie dort Kompromisse machte, die mit den Forderungen ihres Kanzlerkandidaten in Konflikt gerieten; dies verwässerte auch das Wahlprogramm, dem wirklich konkrete und radikale Forderungen fehlten.
Schulz wurde eingehegt, was dieser – als Mitglied des Seeheimer Kreises selbst eher dem konservativen Flügel der Partei zuneigend – geschehen ließ. So verspielte er schnell das anfängliche Vertrauen und wurde mit dem schlechtesten Ergebnis für die Nachkriegs-SPD (20, 5 Prozent) bestraft. Die Führung jedoch setzte gegen verbreitete Skepsis der Basis mit einer manipulativen Kampagne die Fortführung der Koalition mit CDU und CSU durch.
Auch jetzt ist unübersehbar, dass die alte SPD-Spitze versucht, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans auf ihre Linie festzulegen und die Groko auf unübersehbare Zeit fortzusetzen. Der Seeheimer Kreis spielt dabei eine besondere Rolle, in der Bundestagsfraktion fürchten vor allem jene, die gegenüber dem Koalitionspartner allzu devot auftraten, bei einer baldigen Neuwahl nicht wieder aufgestellt zu werden, aber auch den Ministern, die sich gut in ihren Ämtern eingerichtet haben, und einigen SPD-Ministerpräsidenten ist der Machterhalt wichtiger als die Erneuerung ihrer Partei. Sie machen sich vor allem Sorgen, die designierten Parteichefs könnten mit ihren ur-sozialdemokratischen Forderungen die Unionsparteien überfordern und monieren deshalb, Walter-Borjans und Esken würden zu hohe Erwartungen wecken und Kompromissmöglichkeiten verbauen. Genau diese Unterwürfigkeit gegenüber CDU und CSU war es aber, die den anhaltenden Niedergang der SPD bewirkte; ihre Fortsetzung würde die Partei weitgehend eliminieren.
Daher kommt es darauf an, dass die Stimme der Basis künftig auch in der Parteiführung deutlich zu vernehmen ist – durch die beiden neuen Vorsitzenden, aber auch durch integre Mitstreiter an ihrer Seite. Natürlich müssen die 24,3 Prozent aller Mitglieder, die sich für Olaf Scholz und Klara Geywitz entschieden haben, ebenfalls in der neuen Führung Gehör finden, doch insgesamt sollte gelten, dass das Votum der Mitgliedschaft über die Personalentscheidung hinaus maßgebend ist – als inhaltliche Richtungsentscheidung. Nur dann, wenn die künftige SPD-Spitze besser als bisher auf ihre aufsässige, aber auch traditionsbewusste Basis hört, hat die Partei die Chance, wieder eine bedeutende politische Rolle im Land zu spielen.