(pri) Auch wenn Olaf Scholz gestern tapfer verkündete, er wolle gewinnen, ist die tatsächliche Botschaft der SPD in puncto Kanzlerkandidatur ein kaum noch für möglich gehaltenes Zeichen von Realitätsnähe. Denn mit der Nominierung des Finanzministers der Großen Koalition akzeptiert die eher linke Walter-Borjans/Esken-Führung der Partei die aktuelle Popularität des eher rechts tickenden Scholz beim Wahlvolk, aber zunehmend auch in der Sozialdemokratie. Pragmatisch setzt sie auf die Karte, die derzeit den besten Stich zu machen verspricht, auch wenn sie ihr nicht gefällt. Und sie kalkuliert gleichzeitig kühl ein, dass es am Ende nicht reichen könnte, was dann nicht allein und vielleicht nicht einmal hauptsächlich ihr angelastet würde; schließlich stand ein anderer vorn im Rampenlicht.
Dieser neue Pragmatismus der SPD hebt sich deutlich von der Linie ab, die verschiedene Parteiführungen seit dem Machtverlust 2005 verfolgten. Damals gab Franz Müntefering die – wie sich bald zeigte – zerstörerische Losung aus, Opposition sei Mist, nahm als Vizekanzler an der Seite Angela Merkels Platz und organisierte so den ersten Niedergang der SPD bei den Wahlen 2009, nach denen sie und ihr Kandidat Frank-Walter Steinmeier zum Regieren nicht mehr gebraucht wurden, denn Schwarz-Gelb hatte eine Mehrheit. Vier Jahre später setzte sich die Dezimierung der SPD-Wählerschaft fort, aber die SPD strebte nun mit Peer Steinbrück wieder in die Große Koalition, anstatt die zahlenmäßig bestehende Chance zu einem Linksbündnis zu nutzen. Dazu hatte sich der einstige Finanzminister »Beinfreiheit« ausbedungen – nach rechts und damit in weiteren Niedergang.
Diese deprimierende Perspektive vor Augen sah das Parteivolk 2017 in Martin Schulz und dessen vermeintlichem Wunsch nach eigener Beinfreiheit, aber nun nach links, einen Hoffnungsträger – aber nur kurzzeitig, denn die rechte Parteiführung fing den Kandidaten in der Furcht, er könne es ernst meinen, schnell wieder ein und sabotierte einen Wahlkampf mit echten Alternativen. Nun bettelte die Union um die Koalition mit dem eigentlichen politischen Gegner, was diesen in eine tiefe Krise führte – und bei einigen der Mainstream-Medien schon zum freudigen Abgesang auf die Sozialdemokratie.
In diese Reihe der glücklosen S-Politiker von Schröder über Steinmeier, Steinbrück und Schulz scheint Scholz nicht nur alphabetisch, sondern auch mit seinen Ansichten zu passen; immerhin hatte er als SPD-Generalsekretär 2003 für die Streichung des Begriffs »demokratischer Sozialismus« aus dem SPD-Programm geworben. Doch eines ist anders als in all den Jahren des SPD-Niedergangs seither: Die Parteispitze ist linksorientiert und offensichtlich bemüht, die rechte Betonfraktion aufzubrechen – in einem mühseligen, aber beharrlichen Prozess allmählichen Wandels. Bei einem Tanker, als welcher die SPD gern bezeichnet wird, sind Kursänderungen offensichtlich schwierig und langwierig. Aber nicht unmöglich, wie Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in nur acht Monaten ihres Wirkens zeigten.
Und vielleicht hilft ihnen ja der sprichwörtliche Opportunismus der Sozialdemokratie im Falle Olaf Scholz dergestalt, dass er mal nicht nach rechts, sondern vielleicht nach links ausschlägt, wenn dies Erfolg verspricht. Eine kühne Idee, aber nur wenn die SPD Kühnheit nicht scheut, kommt sie wohl aus ihrem Jammertal.