(pri) Auf einmal geben sich (fast) alle alarmiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi forderte die Bundesrepublik auf, ihm Waffen zu liefern und löste damit ein überwiegend negatives Echo in der heimischen politischen Landschaft aus. In der gleichen Landschaft, die noch bis gestern – quer durch beinahe alle Parteien – fast gar nichts ausließ, um die Spannungen im Osten Europas zu erhöhen, nun aber plötzlich den dadurch erzeugten Kältehauch verspürt – und schaudert.
Das Verlangen des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck, der Ukraine »Defensivwaffen« zu liefern, war da nur das letzte Glied einer langen Kette, zu der vor allem militärische NATO-Manöver an Russlands Grenzen sowie immer neue Sanktionen gegen Russland und Belarus gehörten – und auf der anderen Seite eine wohlwollende Nachsicht gegenüber jehrelanger Weigerung der ukrainischen Regierung, ihren Teil des Minsker Abkommens zu erfüllen. Das gilt insbesondere für dessen politische Festlegungen, so die Vorschrift, das 2014 verabschiedete Gesetz »Über die zeitweilige Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in einzelnen Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk« mit Leben zu erfüllen, was vor allem die Vorbereitung von Wahlen bedeutete. Diese jedoch wurden nie angesetzt; stattdessen erließ die ukrainische Rada 2018 ein sogenanntes Reintegrationsgesetz, das nicht nur von Russland als klarer Verstoß gegen das Minsker Abkommen gegeißelt wurde, sondern auch von objektiven Beobachtern im Westen.
Natürlich haben auch die ostukrainischen Separatisten und ihre Moskauer Schutzmacht das Abkommen in vielfacher Hinsicht missachtet; aber gerade diese gegenseitige Geringschätzung einst einvernehmlich getroffener Übereinkünfte erfordert den Dialog unter Einbeziehung unparteiischer Vermittler, will man das Blutvergießen endlich beenden. NATO und EU taugen zu solcher Vermittlung freilich nicht, denn sie stehen ziemlich unverblümt auf der Seite ukrainischer Scharfmacher bis hin zu offen faschistischen Kräften. Diese Parteinahme verhinderte letztlich auch alle Bemühungen des 2019 gewählten Präsidenten Selenskyi, entsprechend seinem Wahlversprechen, einen Friedenskurs zu verfolgen. Vereinzelte Versuche, die Gespräche wieder voranzubringen, so zum Beispiel durch eine vom heutigen Bundespräsidenten Steinmeier entwickelte und nach ihm benannte Formel zur Abhaltung von Wahlen in der Ostukraine, wurden auf diese Weis ebenfalls torpediert.
Dem Unwillen ukrainischer Kreise, zu einem Ausgleich auf der Basis der Minsker Festlegungen zu kommen, stehen wachsende Aggressivität der ostukrainischen Separatisten und zunehmende Ungeduld Russlands gegenüber, die vor allem in dessen monströsem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine zum Ausdruck kam. Das heizte die Lage zusätzlich an, aber auch die westlichen »Garantiemächte« des Minsker Abkommens, die Bundesrepublik und Frankreich, unternahm nichts gegen diese Eskalation, im Gegenteil. Ihre einseitige Unterstützung der Rechtskräfte in Kiew machte es letztlich auch Selenskyi unmöglich, deren Druck zu widerstehen.
Er schaltete auf Konfrontation gegenüber allem russischen Einfluss, unter anderem durch die Blockierung dreier Fernsehsender, der die Regierung prorussische Propaganda vorwarf. was ein Rüge der UNO gegenüber Kiew auslöste. Die Maßnahme sei nicht gerechtfertigt, unverhältnismäßig und widerspreche den internationalen Menschenrechtsstandards; von der Bundesregierung wurde sie jedoch im Prinzip gutgeheißen – ganz im Gegensatz zur sonst üblichen Empörung gegen Einschränkungen der Medienfreiheit vor allem in Russland und China.
Es liegt in der Logik dieser westlichen Politik, dass ihr Opfer irgendwann an den Punkt kommt, wo es meint, es genüge nicht, den Mund zu spitzen, man müsse auch pfeifen. Genau so ist es mit Selenskyi geschehen, und nun stehen die Zauberlehrlinge der EU und NATO da und haben Mühe, den bedrohlich anschwellenden Forderungen nach substanziellen militärischen Hilfen Einhalt zu gebieten. Sie ermutigten rechte Kräfte in der Ukraine um ihrer eigenen geostrategischen Ziele willen zu ständig fortschreitender Eskalation und kalkulierten damit eine Entwicklung ein, die zu unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden führen kann.