(pri) Als vor einigen Wochen der Bundestagswahlkampf etwas Fahrt aufnahm, herrschte in der Wählerschaft noch ziemliche Ratlosigkeit. Deren Hälfte konnte sich für keinen der Kandidaten erwärmen. Aber »Keiner« steht nun einmal nicht auf dem Wahlzettel, und so positionierte sich das Wahlvolk allmählich doch – und plötzlich wurde sichtbar, was bis dahin viele leugneten: Es gibt eine Wechselstimmung im Lande. Das zeigt auch ungeachtet ihrer problematischen Zusammensetzung die Querdenker-Bewegung, die eben nicht auf Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten zu reduzieren ist. Eine Mehrheit hierzulande möchte offensichtlich weniger rückwärtsgewandten Konservatismus, sondern stattdessen ein Ausschreiten nach links, allerdings nur vorsichtig. Das half erst der grünen Annalena Baerbock, dann aber – als diese sich als wenig professionell erwies – dem Sozialdemokraten Olaf Scholz.
Er steht nicht nur unangefochten an der Spitze der Kandidaten, wenn es um die Befähigung zum Kanzler geht; auch seine Partei hat inzwischen die Union überflügelt und die Grünen deutlich hinter sich gelassen. 25 Prozent werden der SPD in aktuellen Umfragen vorausgesagt – und nur noch 20 Prozent CDU/CSU bzw. 16,5 Prozent den Grünen. Es folgen die FDP mit 13,5, die AfD mit 11 und die Linkspartei mit sieben Prozent. Entsprechend hat die SPD die meisten Optionen fürs Regieren; sie könnte mit Union und Grünen, Union und FDP, mit Grünen und FDP und sogar knapp mit Grünen und Linken Koalitionen bilden.
Die ersten beiden Varianten scheiden dabei wohl aus, denn es ist kaum denkbar, dass sich CDU und CSU dazu herablassen, als Juniorpartner der Sozialdemokraten zu fungieren. Eher möglich ist ein Bündnis mit Grünen und FDP, was wohl Olaf Scholz am meisten gefiele; allerdings hat die FDP dafür bereits so hohe Hürden errichtet, dass die Wahrscheinlichkeit ebenfalls gering ist. Ähnliches gilt für eine rot-grün-rote Koalition, für die der SPD-Kandidat selbst und mehr noch die Grünen Bedingungen formulierten, die Grundprinzipien der Linkspartei widersprechen.
Damit relativieren sich die auf den ersten Blick aussichtsreichen demoskopischen Daten beträchtlich. Zwar könnte die SPD stärkste Partei werden, weiß aber möglicherweise damit wenig anzufangen – ein Pyrrhussieg also, während die unterlegene Union aufgrund dessen doch wieder zum Zuge kommt. Denn sie könnte mit FDP und Grünen ebenfalls eine stabile Regierung bilden. Die FDP hofft schon lange inständig auf ein erneutes Zusammengehen mit CDU und CSU. Und die Grünen haben in der jüngeren Vergangenheit unverblümt ihre Bereitschaft erkennen lasssen, es mit der Union versuchen. Dass ihre Programmatik einschließlich des Kampfes gegen den Klimawandel dabei kein unüberwindliches Hindernis ist, bewiesen sie wiederholt; gerade deshalb bildete sich gewissermaßen in Opposition zu ihnen die Friday-for-future-Bewegung.
Für die Wähler ist dies keine erfreuliche Prognose, werden sie doch wieder die Verlierer sein. Mit einer unionsgeführten Regierung, dies bewies deren langjährige Koalition mit den Sozialdemokraten, ist Veränderung nicht zu erwarten. Vielmehr wird Sozialabbau fortgesetzt werden, rückt ein Umbau des Wohnungsmarktes in weite Ferne, werden Angriffe auf demokratische Rechte zunehmen und auch künftig Klimaschutz auf Sparflamme betrieben. Das alles sind Erfahrungen aus Bundesländern, in denen FDP und Grüne mit der CDU koalieren. Hinzu kommen die Umschichtung von Finanzmitteln in den Militäretat und auf internationaler Ebene der Ausbau von Rüstungsexporten und das Bestreben, eine »robustere« Rolle in der Welt zu spielen.
Unter dem Strich also eine Fortsetzung bisheriger Politik, die gerade in den letzten Jahren immer weniger den Bedürfnissen der Mehrzahl der Menschen entsprach, sondern im Interesse einer machtbewussten Minderheit die Umverteilung von unten nach oben betrieb. Und sich in Krisensituationen nicht gerade durch Kompetenz auszeichnete, wie jüngst der YouTuber Rezo detailliert nachwies. Es gibt zwar am Wahltag durchaus die Chance, eine solch deprimierende Entwicklung nicht zuzulassen. Ob sie genutzt wird, ist bislang zweifelhaft. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.