(pri) Lenin oder gar Stalin wird der Satz zugeschrieben: »Deutsche Revolutionäre besetzen einen Bahnhof erst nach Kauf einer Bahnsteigkarte«. Will heißen: Wenn es ums Revolutionieren geht, sind die Deutschen außerordentlich vorsichtig. Sie stehen nicht sofort auf den Barrikaden wie Unzufriedene anderswo, sondern sichern sich erst einmal ab, auf dass nicht allzu viel verloren geht von dem, was sie liebgewonnen haben.
Anzeichen von Wechselstimmung können sich mithin schon in allerlei kleineren Unmutsgesten offenbaren, in wachsender Streikbereitschaft ebenso wie in Impfunlust, in demoskopischer Sprunghaftigkeit oder einem Hungerstreik um des Klimas willen. Kommen dann aber auch noch vielfältige und gut besuchte Demonstrationen, außer von Klimaschützern auch von verunsicherten Mietern, von Anti-Auto-Aktivisten, Protestieren gegen rechts oder Verfechterinnen des Schwangerschaftsabbruchs hinzu und sind ungeachtet ihrer problematischen Zusammensetzung selbst die Querdenker nicht auf Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten zu reduzieren – dann zeigt diese allgemeine Verunsicherung und Unruhe im Land, dass die Chancen offenbar nicht schlecht stehen, aus dieser Wechselstimmung eine andere Realität zu machen.
Selbst der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mag dies ahnen, verbergen sich doch hinter seinen lautstark hinausposaunten Kampfesrufen allzu oft subtile Sticheleien, die den Verdacht nähren, er könne mit einer Niederlage des CDU-Vorsitzenden durchaus leben, weil eine Koalition diesseits der Union doch schon bald in schweres Wasser käme, was dann ihm selbst eine neue Chance böte. Laschet hingegen baut auf das Beharrungsvermögen der Konservativen, das sich in ähnlichen Konstellationen wie der sich abzeichnenden bereits bewährt hat.
2005 hatte Rot-Rot-Grün 327 Mandate im Bundestag, die Union und FDP hingegen nur 287. 2013 führte das linke Lager mit 320 zu 311 Mandaten, die nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Parlament CDU und CSU allein aufbrachten. Beide Male unterwarf sich die SPD ohne Not als Juniorpartner der Union – Triumph der Bahnsteigkarte. Helmut Schmidt hingegen, dessen SPD 1976 nur 224 Sitze gegenüber 254 der C-Parteien erreicht hatte, blieb im Amt, weil die FDP ihn weiterhin stützte – worauf jüngst ausgerechnet deren heutiger Vorsitzender süffisant hinwies. Christian Lindner würde dies gern mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholen, doch dazu fehlt Schwarz-Gelb die Mehrheit. Dass diese heuer Rot-Grün-Rot hat, ist freilich auch nicht sicher; gerade daraus ergeben sich die vielfältigen Gedankenspiele um mögliche Koalitionen ebenso wie die Versuche, Unerwünschtes durch Vorfestlegungen auszuschließen.
Lindner geriert sich dabei, unterstützt von einer eher konservativ denkenden Medienzunft, als vorgeblicher »Königsmacher«, obwohl seine Partei allenfalls dann zum Zuge kommt, wenn die Grünen mitspielen. Diesen wiederum müsste zu denken geben, dass sie ungeachtet ihrer Stärke sowohl von CDU/CSU als auch von der SPD bereits fest als Partner vereinnahmt werden und keinen (beim Rechtsbündnis) bzw. wenig (bei einem möglichen Linksbündnis) Einfluss darauf haben, wer am Ende die zur Mehrheit notwendigen Mandate beisteuert. Und ob ihr selbstbewusstes Versprechen: »Zukunft passiert nicht. Wir machen sie.« erreichbar ist, wenn man ohne Bahnsteigkarte nicht auszukommen glaubt.
Denn ein Momentum ist – zumal in der Politik – kein Selbstläufer. Man muss daran glauben und etwas dafür tun. Man braucht zwar Besonnenheit, aber Zögern und Zaudern sind kaum am Platze. Das gilt auch in diesen Tagen der Wahl. Am Sonntagabend werden wir wissen, inwieweit die deutsche Bahnsteigkarte das linke Momentum zu bremsen vermochte.