(pri) Lenin oder wer auch immer den Deutschen attestierte, vor der Revolution lösten sie erst einmal eine Bahnsteigkarte, scheint zumindest mit dieser Charakterisierung recht zu behalten. Denn das Bundestagswahlergebnis des letzten Sonntags ist weder Fisch noch Fleisch; es verrät vielmehr das Bestreben, sich nur ja nicht allzu sehr festzulegen, weil man ja nicht weiß, was am Ende daraus wird. Vor allem zeugt es von der Scheu, mutig neue Wege zu beschreiten, gar ins Risiko zu gehen, weil anders Veränderung nicht zu haben ist.
Natürlich gibt es dafür Gründe, und die Ursachenforschung ist denn auch in vollem Gange. Wichtiger aber noch als diese ist die Frage, was daraus folgt – und die Antwort darauf ist wenig ermutigend. Denn einen wirklichen Sieger gab es bei diesen Wahlen nicht; alle haben mit dem Resultat ein Problem, und wir werden schon bald erleben, dass sich die hiesige Politik in einem Dilemma befindet, aus dem sie vielleicht irgendwann einen Ausweg findet, aber gewiss keinen, der rundum für gut zu befinden ist.
Das gilt auch für die SPD, die noch am ehesten Grund zum Jubeln hatte. Denn ihr ist es nach einer langen, von Niedergang gekennzeichneten Durststrecke gelungen, beim Wähler wieder Vertrauen – und damit auch Wahlen – zu gewinnen. Allerdings ist dies mit hohen Erwartungen verbunden, und zugleich haben die Sozialdemokraten kaum eine Wahlmöglichkeit mehr. Sieht man einmal von der großen Koalition ab, die in beiden Parteien kaum einer will, bleibt nur die Ampel mit Grünen und FDP.
Olaf Scholz, von vornherein kein Freund eines Bündnisses unter Einschluss der Linken, wird über deren Absturz nicht traurig sein, aber zugleich fehlt ihm ein Druckmittel gegenüber den Freidemokraten; er ist zum Erfolg verpflichtet. Das bedeutet, dass er nicht nur zwischen den beiden grundverschiedenen kleineren Parteien vermitteln muss, was schon kompliziert genug ist. Er muss das mögliche Resultat dann auch noch in der eigenen Partei durchsetzen, die – von der Spitze bis in die stark verjüngte Fraktion – kaum bereit sein wird, sozialdemokratische Wahlversprechen der streng neoliberalen FDP zu opfern.
Dabei ist er stark davon abhängig, was Grüne und FDP möglicherweise miteinander aushandeln. Mehr noch: Er ist davon abhängig, dass sie überhaupt etwas aushandeln. Das jedoch ist angesichts ihrer bisherigen Feindschaft und der Positionen, die sie jeweils im Wahlkampf vertreten haben, etwas Ähnliches wie die Quadratur des Kreises. Es spricht Bände, dass bereits ein gemeinsames Foto der grünen und gelben Unterhändler in der Öffentlichkeit als Riesensensation empfunden wird. Besonders FDP-Chef Lindner, aber auch die klimabewussten Grünen haben einige rote Linien gezogen, die sich nirgends überschneiden. Vor vier Jahren hat die FDP nicht einmal ein Ergebnis akzeptiert, an dem damals die Union beteiligt war. Nicht nur Lindner »fehlt die Phantasie«, wie dies heuer mit der SPD gelingen soll.
Dennoch sind auch FDP und Grüne zum Erfolg verpflichtet und werden Positionen räumen müssen, wollen sie zusammenkommen – und tatsächlich schwebt die Abrissbirne bereits über den Wahlprogrammen. Aber zugleich zeichnet sich schon jetzt ab, dass dies zu innerparteilichen Zerreißproben führen kann. Nicht umsonst haben die Grünen bereits die permanente Einbeziehung der Basis in den Verhandlungsprozess beschlossen und zu praktizieren begonnen.
Auf ein Scheitern der Ampel-Variante hofft die Union und bietet dafür eine Jamaika-Koalition an, steht aber dann zumindest vor dem gleichen Problem wie die SPD, eher vor einem noch größeren. Denn dann dürfte der Druck auf die Grünen noch stärker werden – und damit möglicherweise auch deren innerparteilicher Widerstand. Käme jedoch die Union letzteren zu sehr entgegen, würde dies zur Zerreißprobe für die FDP, und sie müsste sich – wie 2017 – entscheiden: »Falsch zu regieren oder nicht zu regieren«.
Vor allem aber ist noch gar nicht sicher, ob sich CDU und CSU nach ihrer eklatanten Niederlage inhaltlich so positionieren können, dass sie als handlungsfähiger Verhandlungspartner anerkannt werden. Vor allem bei den Grünen bezweifelt das eine Mehrheit; es gehört zu ihrer Druckausübung auf die FDP, die die Jamaika-Variante unbedingt im Spiel behalten will. Aber auch bei den Grünen gibt es Jamaika Befürworter; der prominenteste ist Robert Habeck .
Die Schwäche der Union manifestiert sich vor allem in der Schwäche ihres Kanzlerkandidaten Armin Laschet. In seiner eigenen Partien wächst der Widerstand gegen ihn, und bei Markus Söder und der CSU hat man den Eindruck, sie sähen ihn lieber heute als morgen scheitern, um sich dann als Retter in der Not darzustellen. Nicht zuletzt deshalb kämpft Laschet verzweifelt darum, dass die Jamaika-Variante im Rennen bleibt; neigt sich die Waage endgültig einer Ampel-Koalition zu, ist seine politische Karriere beendet. Dann gibt sich die Bundes-CDU ebenso eine neue Führung, wie die Partei in Nordrhein-Westfalen, denn dort hat niemand Lust, mit einem Verlierer in den Landtagswahlkampf 2022 zu gehen.
Auch dann aber ist die CDU nicht aus dem Schneider, denn sie verlor nicht nur wegen Laschet, sondern vor allem wegen des inhaltlichen Vakuums, das die politische Performance Angela Merkels hinterlassen hat. Für Friedrich Merz ist die Partei »denkfaul« geworden; sie habe »das thematische Arbeiten verlernt«. Immer mehr Christdemokraten wollen sich daher dem Gang in die Opposition nicht verschließen. Ein Risiko, weil keineswegs sicher ist, dass die CDU mit ihrem oft verstaubten Konservatismus neben einer sich modern gebenden FDP bestehen kann.
Schlecht ist die Prognose aber auch für die Linkspartei. Sie muss konstatieren, dass sie es nicht verstanden hat, sich neben der SPD als eigenständige Partei zu etablieren, deren Hauptkompetenz das Soziale ist – und da vor allem die Vertretung jener, die unter den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus am meisten leiden. Eine Chance hat sie nur als konsequent antikapitalistische und in ihren Forderungen radikale Partei, nicht aber als ein weiterer Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Dass dies keine klassenkämpferische Spinnerei ist, wie ihr schnell vorgeworfen wird, zeigte der Erfolg des Berliner Volksentscheids über die Enteignung von Immobilienkonzernen. Das Engagement der Linken dafür verhinderte den großen Absturz bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus; gleichzeitig aber zeigte sich auch hier, dass nur ein Teil der Befürworter der Enteignung der Linkspartei als Partner wirklich vertraut. Für potenzielle Linkswähler waren die innerparteilichen Grabenkämpfe von verheerender Wirkung; einige Unbelehrbare sind offenbar trotzdem entschlossen, sie fortzusetzen.
So bleibt als Fazit, dass letztlich keiner bei der Bundestagswahl gewonnen hat. Und ganz auszuschließen ist nicht, dass am Ende doch wieder die große Koalition, die in Wirklichkeit nur noch eine kleine ist, ins Spiel kommt. Es wäre zwar interessant zusehen, ob sich die Union, die bei mehreren vergangenen Wahlen die SPD mit dem Hinweis auf deren »staatsbürgerliche Verantwortung« in das Bündnis mit ihr nötigte, nun selbst dazu durchringen könnte, als Juniorpartner der Sozialdemokraten zu fungieren. Ein Gewinn fürs Land wäre das freilich ebenso wenig wie die jetzt angestrebten Dreier-Koalitionen.
Die Verzweiflung über das Wahlergebnis und seine denkbaren Weiterungen führen nun gar zu Lösungsvorschlägen wie eine Minderheitsregierung, wovor jedoch hierzulande eine politische Klasse zurückschreckt, die lieber die Bahnsteigkarte löst als ein Risiko zu wagen. Wenn gar nichts geht, wird sie den Auftrag des Wählers an diesen zurückgeben und ihn im kommenden Jahr erneut an die Wahlurnen rufen.