(pri) Seit dem 24. Februar 2022 ist von einer Zeitenwende die Rede, so als sei sie wie ein Schicksalsschlag über uns gekommen. Tatsächlich jedoch hat sie sich langsam, schleichend vollzogen – wie bei einem Kranken, der allmählich dahinsiecht und dem Hilfe von allen Seiten verweigert wird. Die Entspannungspolitik, einst Hoffnungszeichen für eine bessere Welt, lag schon lange im Koma. Der russische Präsident Wladimir Putin hat sie jetzt endgültig zu Grabe getragen.
Das Unheil begann vor mehr als 30 Jahren, also paradoxerweise zu einer Zeit, als schon einmal alle an eine Zeitenwende glaubten. Der Kalte Krieg schien nach 1989 zu Ende, und viele hofften, man könne mit dem Bau eines gemeinsamen Hauses Europa beginnen, in dem alle einen gleichberechtigten Platz haben. Die Voraussetzungen dafür schienen gut, denn sukzessive änderten sich die Machtverhältnisse in den Ländern des einen der sich bis dahin feindlich gegenüberstehenden Blöcke, des »sozialistischen Lagers«. Das galt in besonderem Maße für die Sowjetunion, die selbst ein Staatenbündnis war und sich in einem nicht unproblematischem, teils schmerzvollen Prozess auflöste. In Europa entstanden demokratische Staaten mit vielen Gemeinsamkeiten, nun galt es, zwischen ihnen ein gedeihliches Zusammenleben zu organisieren.
Logisch wäre es damals gewesen, wenn sich auch das andere Bündnis, die NATO, aufgelöst hätte, denn anscheinend hatte es seine Daseinsberechtigung verloren. Dies aber war ein Trugschluss, was man leicht mit einem Blick auf die Entstehungsgeschichte der NATO belegen kann. Sie wurde 1949 gegründet, um den Machtzuwachs der Sowjetunion nach ihrem Sieg über den Hitlerfaschismus zu kompensieren. Die Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich hatten gehofft, das faschistische Deutschland werde in einem Krieg gegen die UdSSR erfolgreich sein; deshalb hatten zum Beispiel Chamberlain und Daladier Hitlers Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei erfüllt und später die USA und England so lange wie möglich gezögert, ehe sie 1944 die zweite Front gegen Deutschland eröffneten. Ihre Motive beschrieb in seinen Memoiren der amerikanische General Alfred Wedemeyer, der die strategische Konzeption der USA im Zweiten Weltkrieg ausgearbeitet hatte:
»Nachdem die Sowjetunion und Deutschland – am 22. Juni 1941 – […] ihre traditionelle Rolle von Urfeinden übernommen hatten, war es meine oft ausgesprochene Überzeugung, dass die Westmächte sich so ruhig, wie die Situation es erlaubte, verhalten sollten, während die beiden Kolosse sich gegenseitig zermalmten. England und möglicherweise die Vereinigten Staaten konnten dann einschreiten und die historische Rolle ausüben, das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen, und damit die Vorherrschaft sowohl der Kommunisten wie der Faschisten in Europa verhindern.«
Erst als die Rote Armee unaufhaltsam vorrückte, wurden die Westmächte aktiv, mussten aber dennoch zusehen, wie die Sowjetunion ihre Einflusszone bis weit nach Mitteleuropa ausdehnte. Der gerade abgewählte britische Premier Winston Churchill beklagte in einer Rede im US-amerikanischen Fulton 1946,
»die Hauptstädte der alten Staaten Mittel- und Osteuropas Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia … und die Bevölkerung ringsum liegen alle im sowjetischen Wirkungskreis, so muss ich es nennen, und unterliegen, auf die eine oder andere Weise, nicht bloß sowjetischem Einfluss, sondern zu einem sehr hohen und in einigen Fällen zunehmendem Maße der Lenkung durch Moskau.«
Er prägte damals den Begriff des »eisernen Vorhangs«, der amerikanische Präsident Harry S. Truman griff das auf und entwickelte 1947 die nach ihm benannte Doktrin der aktiven Beeinflussung der Entwicklung anderer Länder im Sinne der westlichen Vorstellungen. Dass sich dies vor allem gegen die Sowjetunion richtete, zeigten die von George F. Kennan publizierten Thesen »zur Eindämmung des sowjetischen Imperialismus«, die zu einer Leitlinie US-amerikanischer Außenpolitik wurden und bis heute – nun bezogen auf Russland – geblieben sind. Sie führten zur Schaffung der NATO und sind der Grund, dass das Bündnis auch nach Ende des kalten Krieges erhalten blieb.
Zur Begründung dieses Konfrontationskurses mangelt es in den westlichen Konzepten nicht an hehren Worten von Freiheit und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. In der Praxis jedoch erwiesen sie sich in aller Regel als Instrumente schnöder Machtpolitik. Kriege wurden – so in Vietnam oder im Irak – um geopolitischer Vorteile willen vom Zaun gebrochen. Blutige Diktaturen – zum Beispiel in Lateinamerika, aber auch in Saudi-Arabien und anderswo – erhielten Unterstützung bei der Niederhaltung unzufriedener Volksmassen. Methoden des Wirtschaftskrieges wurden eingesetzt, um missliebige Entwicklungen zu verhindern – gegen Kuba, Chile, Iran, Syrien und mitunter sogar gegen Verbündete, wie die Vorgänge um Nord Stream 2 zeigten.
Das nimmt den westlichen Absichtserklärungen jede Glaubwürdigkeit, und einzelne Länder – Gegner wie Verbündete – sehen darin einen Freibrief für ähnliches Handeln bei der Durchsetzung eigener Interessen. So jetzt auch Russland, was sein Vorgehen keineswegs rechtfertigt, die gegenwärtige antirussische Kampagne jedoch als Heuchelei entlarvt. Es hätte in den 1990er-Jahren die Chance gegeben, eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa zu schaffen. Nicht Russland hat das damals verhindert, ganz im Gegenteil. Es war die NATO, die gemäß ihres Gründungsauftrags die Eindämmungspolitik fortsetzte und sogar forcierte.
Begünstigt wurde diese Entwicklung durch einen antisowjetisch geprägten Nationalismus in den ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages und später auch in früheren Sowjetrepubliken, den man aufgrund schlechter Erfahrungen dieser Länder mit der UdSSR durchaus verstehen kann, der aber von den USA in den Jahren des kalten Krieges auch systematisch gefördert worden war. Die Sender »Radio Free Europe« und »Radio Liberty« hatte man extra dazu geschaffen; sie trugen so ihren Teil zu nationalistischen Eruptionen sowohl in der zerfallenden Sowjetunion als auch bei der Auflösung Jugoslawiens bei.
Er wurde auch später immer wieder befeuert, so zum Beispiel durch die Unterscheidung zwischen dem »alten« und einem neuen Europa, das US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld während des Irak-Krieges 2003 vornahm, an dem sich Deutschland und Frankreich nicht aktiv beteiligten, wohl aber fast alle osteuropäischen Länder, die sich in die »Koalition der Willigen« einreihten. Zielführend für eine Entspannungspolitik war solche Protektion militärischer Alliierter nicht, denn sie förderte deren Nationalismus, der stets die Gefahr der Konfrontation nach außen in sich birgt.
1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen, 2004 die Slowakei, Bulgarin, Rumänien und Slowenien sowie als erste Ex-Sowjetrepubliken die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. 2009 folgten Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmazedonien. Seit 2018 ist neben Georgien und Bosnien-Herzegowina auch die Ukraine offizieller Beitrittskandidat der NATO. Standen deren Truppen 1989 an der Elbe, sind sie jetzt schon an der Narva, dem estnischen Grenzfluss zur russischen Exklave Kaliningrad, und wollten sich demnächst am Dnipro einrichten – nur 500 Kilometer von der russischen Landgrenze entfernt.
Alle Versuche Russlands, eine solche Entwicklung durch Verhandlungen zu verhindern, scheiterten an dem erklärten Willen der NATO zur Expansion in Richtung Osten. Und in diesem Prozess des Scheiterns änderte sich die russische Sicht auf die einstige Entspannungspolitik. Sie wird von ihr seit einiger Zeit als eine Kette von Niederlagen empfunden, weshalb sie sich von ihr immer mehr lossagte und auf Methoden der Gewaltanwendung zurückgriff. Das zeigte sich im Georgien-Krieg, auch wenn dieser von Tiflis provoziert war, das zeigte sich bei der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine und jetzt besonders deutlich mit dem Angriff auf die Ukraine selbst.
Der als außenpolitischer Vordenker Putins geltende Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift »Russia in Global Affairs«, sieht darin
»die Ausübung klassischer Gewalt, die sich an einfachen, rohen, dafür aber klar verständlichen Prinzipien orientiert: Blut und Boden«.
Dem stünde auf der anderen Seite eine moderne Methode zur Durchsetzung von Interessen und Einfluss gegenüber:
»Sie wird durch eine Reihe von ideologischen, kommunikativen und wirtschaftlichen Instrumenten umgesetzt. Diese sind gleichzeitig wirksam und flexibel. Gemeinhin werden sie als >Werte< bezeichnet.«
Die Anwendung dieser Methode, der Russland keinen echten Widerstand entgegensetzen konnte, habe zur heutigen Situation geführt und zur Moskauer Entscheidung, auf die Mittel »unmittelbarer bewaffneter Konfrontation« zurückzugreifen. Lukjanow mutmaßt, die russische Führung »war sich der Folgen wahrscheinlich bewusst oder strebte sie möglicherweise sogar bewusst an.« Sein Fazit:
»Die Ukraine des Jahres 2022 ist die entscheidende Feuerprobe. Hier wird sich zeigen, welcher dieser Ansätze auch künftig erfolgreich sein wird.«
Zu diesen objektiven Faktoren tritt ein subjektiver Aspekt, und der hat mit der Person Wladimir Putins zu tun. Der russische Präsident, geprägt von den Folgen des faschistischen Vernichtungskrieges gegen sein Land und sozialisiert im sowjetischen Geheimdienst KGB, ist fest davon überzeugt, dass die NATO aufgrund ihrer Geschichte eine dauernde Bedrohung für Russland darstellt. Er wird in diesem Jahr 70 Jahre alt und betrachtet es offensichtlich als seine Mission, einen erneuten Überfall auf sein Land so sicher wie irgend möglich auszuschließen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass dies in jenem Maß, das er für erforderlich hält, bei Verhandlungen nicht zu erreichen ist; deshalb greift er zum Mittel der Gewalt, solange das noch möglich ist.
Hinzu kommt, dass Putin durch seine lange Regierungszeit – wie andere langjährige Potentaten auch – den Blick für die Realitäten teilweise verloren hat. Er rechnete offenbar nicht mit wesentlichem Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen eine »militärische Spezialoperation«, sondern glaubte zumindest an das Stillhalten des »Brudervolkes«. Ein beunruhigender Beleg dafür war die öffentliche Zurechtweisung seines Chefs des Auslands-Nachrichtendienstes, Sergej Naryschkin, in der Sitzung des russischen Sicherheitsrates kurz vor Kriegsbeginn. Dieser, über die Stimmung in der Ukraine bestens informiert, hatte offensichtlich Bedenken hinsichtlich Putins Plänen, wurde aber von ihm barsch auf Linie gebracht.
Die Taktik der russischen Truppen in den ersten Kriegstagen deutet ebenfalls auf diese Fehleinschätzung hin, denn zunächst richtete sich die Kriegführung nicht gegen die Bevölkerung, wie selbst US-Geheimdienste einräumten. Außer Berichten in sozialen Netzwerken über bombardierte Schulen und andere zivile Einrichtungen seien dem Geheimdienst keine anderen Dinge bekannt, erklärte Scott Berrier, Direktor des Militärgeheimdienstes DIA, weshalb er derzeit nicht von Kriegsverbrechen sprechen wolle. Für den Fortgang des Krieges jedoch sagte CIA-Chef Burns sehr »hässliche Wochen« voraus: »Er wird ohne Rücksicht auf zivile Opfer die Kämpfe intensivieren.«
Die Signale aus Moskau lassen tatsächlich keine andere Prognose zu, zumal der Nationalismus der Ukraine zunehmend in einem Patriotismus aufgeht, der sich auf die Traditionen des Großen Vaterländischen Krieges gegen Hitlerdeutschland besinnt. So entschlossen wie damals die deutschen Aggressoren werden heute in weiten Teilen des Landes »die Russen« bekämpft. Man will nicht kapitulieren, sondern siegen.
Daraus ergeben sich Fragen zum weiteren Verhalten von USA und NATO. Mit der grundsätzlichen Bewertung der russischen Absichten lagen die amerikanischen Geheimdienste offensichtlich richtig, und der Alarmismus des US-Präsidenten Joe Biden vor dem russischen Überfall, der selbst die Verbündeten irritierte, hatte darin eine Basis. Umso mehr verwundert, dass er, der für die USA und damit die NATO von vornherein ein militärisches Eingreifen in den Konflikt ausschloss, die Ukraine zu fortgesetzter Ablehnung von Verhandlungen über die russischen Sicherheitsansprüche ermutigte. Unterschätzte er vielleicht doch die Berichte seiner Dienste? Oder sah er im zu erwartenden Kriegsausbruch die Chance, selbst politisches Terrain zu gewinnen? Bot sich nach dem Debakel in Afghanistan und angesichts innenpolitischer Schwierigkeiten die Möglichkeit, nun wieder stärkere Dominanz über Europa zu gewinnen und zugleich die dortige Bereitschaft zu befördern, die Ausgaben für Militär und Aufrüstung wesentlich zu erhöhen?
Letzteres ist ohne Zweifel gelungen; die USA und die NATO haben Putins Todesstoß für die Entspannungspolitik akzeptiert, die russische Herausforderung angenommen und sich auf diesen anscheinend ultimativen Kampf mit unterschiedlichen Methoden eingelassen. Für Biden war die Ukraine schon immer ein Schlüsselstaat in der Auseinandersetzung mit Russland. Beim Umsturz 2013/14 war er wiederholt vor Ort und unterstützte die prowestliche Regierung. Diesen Positionsgewinn will er sich nicht nehmen lassen – mit dem Ergebnis: In der Ukraine rasten zwei Züge ungebremst aufeinander zu, und es kam zum Crash. Und: Es gibt derzeit auf beiden Seiten keinerlei Willen, die Konfrontation zu beenden.
Nicht bei Putin, der schon als positiv bewerten mag, dass die Schlacht nicht auf russischem Boden stattfindet, nicht im Westen, der sorgsam ebenfalls darauf achtet, nicht unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Leidtragenden sind wie immer jene, die ungefragt in die Händel der Mächtigen hineingezogen werden, die jetzt um ihres Lebens willen fliehen müssen und später zurückkehren werden, um die von anderen hinterlassenen Trümmer wieder aufzuräumen. Und es sind die Tausenden Toten, die auf dem Schlachtfeld zurückbleiben und damit für eine lange Zeit das Verhältnis ganzer Völker zueinander kontaminieren.