(pri) Schon Carl von Clausewitz, preußischer General und Militärwissenschaftler, definierte vor etwa 200 Jahren den Krieg als »bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« und charakterisierte ihn somit als etwas beinahe Normales, wenn Staaten ihre Interessen durchzusetzen versuchen und glauben, dies mit gewaltlosen Mitteln nicht mehr erreichen zu können. Das klingt zunächst verstörend, aber die Geschichte beweist, dass zu diesem extremen politischen Mittel immer wieder gegriffen wurde und wird, so jetzt auch durch Russland. Aber Clausewitz weist damit auch den Weg zur Beendigung eines Krieges, weil »dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört …, sondern in seinem Wesen fortbesteht, wie auch die Mittel gestaltet sein mögen, derer er sich bedient«. Was heißt, dass es letztlich stets nichtkriegerischer Mittel bedarf, um einen Waffengang zu Ende zu bringen. Und der preußische Feldherr gibt darüber hinaus einen Fingerzeig, wann solche Mittel eingesetzt werden sollten: »Sobald der Kraftaufwand so groß wird, dass der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann: So muss dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.«
Von derlei vernünftigem Denken und Handeln sind die gegenwärtigen Kriegsparteien und ihre Unterstützer derzeit noch weit entfernt, doch die Phase hochemotionaler Kriegsbefürwortung, die die Propaganda der Kontrahenten – wie in der Regel zum Beginn jedes Krieges – kennzeichnete, geht allmählich zu Ende, zumindest im westlichen Lager.
In den ersten Wochen nach dem Einfall Russlands in die Ukraine war hier jede sachliche Analyse von Ursachen und Folgen des Krieges verpönt, wurde sie gar diffamiert, um die zwar verständliche, dennoch aber vernunftwidrige Begeisterung für die Beantwortung der russischen Gewalt mit eigener Gewalt nicht zu stören. Die Medien schalteten sich bis auf wenige Ausnahmen selbst gleich und transportierten die vor allem von den USA und der Ukraine vorgegebene politische Lesart ohne jede Differenzierung in die Wohnzimmer. Andere Stimmen kamen nicht zu Wort.
Das änderte sich jedoch hierzulande Ende April, als 28 Intellektuelle und Künstler einen offenen Brief verfassten, der bis heute von fast 300 000 Menschen unterschrieben wurde. Sie warnten vor zwei Grenzlinien, »die unmittelbare Gefahr eines Weltkrieges« und »das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung«, das die Eskalation des Krieges zwangsläufig mit sich bringen würde. Jetzt erhielten auch angesehene Unterzeichner dieses Briefes wie der Sozialpsychologe Harald Welzer, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der Philosoph Julia Nida-Rümelin, der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar und andere in der breiten Öffentlichkeit das Wort und sorgten umgehend für eine Versachlichung und damit eine neue Qualität der Debatte.
Doch nicht nur in der Bundesrepublik gewann die Vernunft an Boden, die Bertolt Brecht im »Galilei« als »sanfte Gewalt« bezeichnet hatte, der die Menschen »auf die Dauer nicht widerstehen« könnten. Die italienische Regierung legte im Mai einen detaillierten mehrstufigen Plan für eine »diplomatische Gegenoffensive« vor. In den USA veröffentlichte die »New York Times« fast zeitgleich einen Kommentar, der im Gegensatz zu ihrer bis dahin vertretenen Linie einräumte, es liege »nicht in Amerikas Interesse, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte«. Fast wie eine Antwort klang ein Meinungsbeitrag des US-Präsidenten Joe Biden für die Zeitung, in dem er zunächst neue Waffenlieferungen für die Ukraine ankündigte, sie jedoch »nur« mit dem Ziel verband, das Land in eine »möglichst starke Position am Verhandlungstisch« zu bringen, denn dort müssten »die am Boden geschaffenen Fakten berücksichtigt werden«. Biden erklärte: »Wir wollen keinen Krieg zwischen der Nato und Russland.« Aber die Ukraine erhalte »jede Unterstützung bei ihren Bemühungen, eine Verhandlungslösung für den Konflikt zu finden«.
Bei den erklärten Bellizisten in der Ampelregierung und in den hiesigen Medien ist davon allerdings noch nicht viel angekommen. Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick stieß unlängst bei Maybrit Illner mit seiner realistischen Einschätzung, die Ukraine führe gegen Russland »einen aussichtslosen Kampf« und der Krieg sei »vielleicht nur mit einem schmutzigen Kompromiss« zu beenden, auf heftigen Widerspruch. Nicht nur der CDU-Politiker Kiesewetter, auch die ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf und die stellvertretende Chefredakteurin und Leiterin des Hauptstadtbüros vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), Eva Quadbeck, favorisierten eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld. »Einen Verhandlungsfrieden wird es mit Putin nicht geben«, verkündete letztere apodiktisch.
Beweise dafür hat man nicht, weshalb sich die Kriegsbefürworter in abenteuerliche Verschwörungstheorien flüchten, die der russische Präsident freilich mit seinen kruden Erzählungen über eine nicht existente ukrainische Nation und ihre fehlende Staatlichkeit befeuert. Ein Blick in die Geschichte lässt jedoch erkennen, dass es stets eine Rivalität zwischen Russen und Ukrainern gab – im Zarenreich ebenso wie in der Sowjetunion; gerade letztere jedoch war bemüht, diese Differenzen so weit wie möglich einzuebnen, was sich als konfliktreicher, von Höhen und Tiefen gekennzeichneter Prozess erwies, der sich auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR fortsetzte, aber keine Zukunft mehr hatte, als sich in beiden Ländern gegensätzliche Imperialismen etablierten. Putin bestreitet das nicht, sieht darin aber eine Fehlentwicklung, die korrigiert werden müsse. Die Ukraine leugnet dies Tatsachen gleich ganz, und der Westen schließt sich dem aus eigennützigen Motiven an.
Zur genannten Talkrunde gehörte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, von dem – wie letzthin auch vom sozialdemokratischen Bundeskanzler trotz wortreicher Auftritte – allerdings nichts Konstruktives zu hören war. Die SPD sitzt mit ihrem Opportunismus zwischen allen Stühlen, wird von den Bellizisten des Falschspiels gegenüber der Ukraine bezichtigt und von vielen Genossen der Abkehr von der Entspannungspolitik Willy Brandts geziehen. Tatsächlich hat sich Scholz längst für den Schulterschluss mit den Konfrontationspolitikern entschieden, fürchtet aber, dass seine »Zeitenwende« in Richtung Aufrüstung bei Mitgliedern wie Wählern der Sozialdemokratie nicht gut ankommt. 300 000 von ihnen waren bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu Hause geblieben.
Doch zu einer ähnlich mutigen Politik wie seine Vorgänger Brandt und Schröder kann und will sich der heutige SPD-Kanzler nicht durchringen. Ihm fehlen dazu Kreativität wie Charisma. Telefonate mit Putin, die nur dazu dienen, diesem einen bedingungslosen Rückzug nahezulegen, sind reine Zeitverschwendung und zeugen lediglich von Realitätsferne, die durch Symbolpolitik überdeckt werden soll. Eine aussichtsreiche Verhandlungslösung kann nur vom aktuell vorhandenen Status quo ausgehen, und der ist für die Ukraine umso besser, je schneller ein Waffenstillstand erreicht wird. Je länger hingegen der Krieg dauert, desto weniger ukrainischen Bodens wird in die Verhandlungsmasse eingehen; das hat der Kampfverlauf der letzten Wochen deutlich gezeigt. Insofern ist es keine sanfte, sondern eher eine unsanfte Gewalt der Vernunft, die am Ende an den Verhandlungstisch zwingt.
Bestätigt wird diese Prognose durch ein umfangreiches Interview des russischen Politwissenschaftlers Sergej Karaganow. Er gilt als einer der Berater Putins, hat sich aber eine eigene Sicht auf die Dinge bewahrt. Für ihn ist zwar ein »Sieg« Russlands, »was auch immer das bedeutet«, alternativlos, aber er schließt nicht aus, dass durch den Krieg »eine effektive, lebensfähige Ukraine« entstehen könnte, dass zumindest »ein Teil der Ukraine ein befreundeter Staat Russlands werden wird«. Gelinge das jedoch nicht, sei mit einer Teilung der Ukraine zu rechnen, denn das erste Ziel Moskaus sei, »die Expansion der Nato zu beenden«. Das zweite, »die Donbass-Republiken von acht Jahren ununterbrochener Bombardierung zu befreien«. Eine Eroberung der gesamten Ukraine liege nicht im russischen Interesse, »denn dann würden wir mit der Last eines verwüsteten Landes zurückbleiben, eines, das durch 30 Jahre Unfähigkeit verwüstet wurde und dann natürlich die Verwüstung durch unsere Militäroperation«.
Ignoriert man die propagandistischen Versatzstücke der Karaganowschen Argumentation, bleiben dennoch genügend Ansatzpunkte für ein Konzept der Konfliktlösung, in das sowohl die Ukraine als auch ihre westlichen Unterstützer eigene Interessen einbringen könnten – zumindest hin zu dem von Varwick genannten »schmutzigen Kompromiss«. Er ist aber noch immer besser als die Fortsetzung des Tötens und Zerstörens, das gegenwärtig mit großem Kraftaufwand von beiden Seiten betrieben wird. Er steht längst nicht mehr mit dem jeweiligen politischen Ziel der Kontrahenten im Gleichgewicht und muss folglich – siehe Gneisenau – »aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein«.