(pri) Wolfgang Schäuble, dem jedes Amt zugetraut wurde, kam doch über die zweite Reihe nie hinaus. Er diente Helmut Kohl und Angela Merkel, aber beide hielten ihn auf Abstand. Er wurde der dienstälteste deutsche Parlamentarier. Gestern ist er in Offenburg gestorben.
Machtverlust vollzieht sich oft schleichend. Dann werden – so 2010 – Nebensächlichkeiten wie der rüde Umgang mit einem Untergebenen zur vermeintlichen Hauptsache, und die eigentliche Hauptsache, die Politik des Betreffenden, gerät zu etwas anscheinend Nebensächlichem. Wer sprach damals noch über Wolfgang Schäubles Finanzpolitik?
Natürlich hatte der Finanzminister den Machtverlust gespürt – und sich verzweifelt dagegen gestemmt. Geholfen hatte es letztlich wenig, und das lag auch, aber nicht entscheidend an seinen gesundheitlichen Problemen. Es lag auch, aber ebenfalls nicht entscheidend, an der genüsslichen Demütigung des eigenen Pressesprechers vor laufenden Kameras. Wolfgang Schäuble scheiterte daran, dass seine Zeit abgelaufen war und er in seinem Ehrgeiz und mit seinem Sendungsbewusstsein den Zeitpunkt verpasste, zu dem er noch frei über seinen Abgang entscheiden konnte.
Wolfgang Schäuble war zeitlebens zuerst ein politischer Mensch. Nur kurz übte der promovierte Jurist und studierte Ökonom seinen Beruf beim Finanzamt Freiburg bzw. als Rechtsanwalt aus. Schon mit 30 Jahren wurde er 1972 in den Bundestag gewählt, dem er seitdem ununterbrochen angehörte. Sein eigentlicher Aufstieg begann in der Ära Kohl, der ihn erst zum Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer machte und 1984 zum Minister für besondere Aufgaben. Früh hatte er sich durch hohen Sachverstand wie die Fähigkeit empfohlen, komplizierte Verhandlungen so geräuschlos wie erfolgreich zu führen. Das galt für dubiose Waffengeschäfte ebenso wie für die delikaten Beziehungen zur DDR. Schäuble bereitete 1987 den Honecker-Besuch in Bonn vor und handelte gut zwei Jahre später den Einigungsvertrag aus.
Die politische Philosophie des badischen Beamtensohns war vom Konservatismus in Elternhaus und heimatlichem Umfeld ebenso geprägt wie von nüchternem, jedoch in der Sache selten opportunistischem Pragmatismus. Letzterer offenbarte sich lediglich in beinahe bedingungsloser Loyalität gegenüber Autoritäten – hießen sie Helmut Kohl oder Angela Merkel. Zum innerparteilichen Putschisten taugte Schäuble nicht; er selbst nannte das einmal »die Bereitschaft, Führung zu ertragen«. Zwar spielte der leidenschaftliche Berufspolitiker Schäuble auf diese Weise stets tonangebend im politischen Orchester der Bundesrepublik mit, aber zum Dirigenten auf dem Podium hat er es nie geschafft. Er blieb stets in der zweiten Reihe, war dort aber unverzichtbar, gab daher häufig die erste Geige für den Orchesterleiter.
Kohl hatte ihn im Frühjahr 1989 zum Innenminister gemacht. Hier brauchte er jemanden, der das inzwischen als allzu großzügig empfundene deutsche Asylrecht wirkungsvoll einschränkte. Schäuble legte im Innern die sich lange liberal gebende FDP auf eine solche Linie fest und scheute sich nach außen nicht, von der DDR die von ihr mit der Mauer betriebene Abschottung gegenüber den eigenen Bürgern auch in Bezug auf in die Bundesrepublik strebende Ausländer zu verlangen. Bei der Aushandlung des Einigungsvertrages nutzte Schäuble die Schwäche der DDR-Regierung und die mangelnde Kompetenz ihres Unterhändlers Krause gnadenlos aus und setzte die Interessen der alten Bundesrepublik konsequent um – immerhin aber mit so viel Augenmaß, dass die Folgen vieler Entscheidungen ein wenig gemildert wurden, was ihre negative Wirkung – zumindest zeitversetzt – nicht verhinderte. Insofern gehen viele Verwerfungen im jahrzehntelangen Einigungsprozess auch auf sein Konto.
Das damals als erfolgreich bewertete Agieren Wolfgang Schäubles machte ihn bald zum »Kronprinzen« für die Zeit nach Kohl, der ihn allerdings im Einheitsjahr 1990 noch nicht fürchten musste – erst recht nicht nach dem Attentat am 12. Oktober, das den Politiker vom dritten Brustwirbel abwärts lähmte und in den Rollstuhl verbannte. Ende 1991 wurde er Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die er bald zu einem Machtzentrum neben dem Bundeskanzleramt ausbaute. Federführend bei allen wichtigen Entscheidungen bis zum Ende der damaligen schwarz-gelben Koalition achtete er sorgsam darauf, dass dadurch das konservativ-bürgerliche System stabilisiert und nicht geschwächt wurde – ob durch das Fernhalten unerwünschter Asylbewerber, den Abbau sozialer Errungenschaften oder frühzeitige Forderungen nach einem Einsatz der Bundeswehr im Innern, ob durch die Beteiligung deutscher Soldaten an UNO-Einsätzen oder die Orientierung auf eine von deren starken Ländern dominierte EU. Innenpolitische Zuspitzungen vermied er, versuchte vielmehr, die SPD und ab Mitte der 90er Jahre sogar die Grünen ins eigene Boot zu holen – freilich mit weitgehender Verpflichtung auf die eigenen konservativen Positionen. Dieser Kurs erwies sich als kontraproduktiv; Schäuble dürfte nicht unwesentlich zur Wahlniederlage 1998 beigetragen haben.
Der Fraktionschef, den Kohl offensichtlich nie für einen geeigneten Nachfolger gehalten hatte, der aber nun von ihm auch den CDU-Parteivorsitz übernahm, strebte die schnelle Rückkehr seiner Partei an die Macht an – zunächst mit gewissem Erfolg. Dazu trug bei, dass Schäuble – im Verein mit seiner neuen Generalsekretärin Angela Merkel – eine Modernisierung der Union einleitete, mit der der Vertrauensverlust in der Wählerschaft wettgemacht werden sollte. Eine Vernachlässigung konservativer Aussagen bedeutete das jedoch nicht, wie die Kampagne um die doppelte Staatsbürgerschaft bewies.
Die Aufholjagd gegenüber der rot-grünen Regierung wurde Ende 1999 durch den Spendenskandal jäh gestoppt. Er verbannte Schäuble endgültig in die zweite Reihe der Politik – vordergründig wegen seiner Verwicklung in die Affäre, mehr aber wohl deshalb, weil sein Typ eines Politikers, den trotz flexiblen Vorgehens eine gewisse Prinzipientreue auszeichnet, den gesellschaftlichen Veränderungen – auch durch die deutsche Vereinigung – nicht effektiv genug gerecht werden konnte. Jetzt waren die Beliebigen, die Pragmatischen gefragt; die immer wieder beklagte Götterdämmerung des Konservatismus nahm damals ihren Anfang. Gänzlich konnte und wollte die Union auf die letzte ernst zu nehmende konservative Galionsfigur natürlich nicht verzichten; sie brauchte Schäuble auch ob seines Scharfsinns und seines taktischen Geschicks. Aber in die erste Reihe ließ ihn die neue Vorsitzende nicht mehr aufsteigen – weder bei der Bewerbung als Berliner Regierender Bürgermeister noch bei der Kandidatur zum Bundespräsidenten 2004.
Allerdings berief sie ihn ein Jahr später zum Innenminister der großen Koalition mit der SPD – und Schäuble vergaß alle Demütigungen, konnte der Droge Politik nicht widerstehen. Konzeptionell blieb er seinem Credo vom starken, systemsichernden Staat treu. Unter Hinweis auf die Terrorgefahr versuchte er wie in einer Torschlusspanik wesentliche demokratische Rechte abzubauen und Befugnisse für die Sicherheitsorgane auszuweiten. Ob Kameraüberwachung oder Online-Durchsuchung von Computern, ob Rasterfahndung oder Vorratsdatenspeicherung bei Telefonnutzern, ob »finaler Rettungsschuss« oder präventiver Abschuss von Passagierflugzeugen zur Terrorbekämpfung, ob Ausweitung von Polizeibefugnissen oder Relativierung des Folterverbots – stets ließ Schäuble eine Missachtung rechtsstaatlicher Standards erkennen, die selbst Parteifreunde mitunter befremdete. Mit vielen dieser Initiativen scheiterte der »Verfassungsminister« allerdings, doch war dies weniger das Verdienst des Koalitionspartners SPD als vielmehr des Bundesverfassungsgerichts.
Als ebenso wenig erfolgreich erwiesen sich Schäubles Bemühungen um die Integration vor allem muslimischer Migranten. Die von ihm initiierte Islamkonferenz kam über folgenlose Debatten kaum hinaus. Für die vor allem sozialen Ursachen vieler Integrationsdefizite bot auch er keine Lösungen an, orientierte stattdessen auf die Disziplinierung von Ausländern durch den Einbürgerungstest. Das seither immer weiter zunehmende Wiederaufleben dumpfer rassistischer Parolen gegen Migranten ist beredter Ausdruck des Scheiterns solcher konservativen Konzepte auch auf diesem Gebiet.
Insofern war es wohl kein Zufall, dass die Kanzlerin bei der Regierungsbildung mit der FDP auf die weitere Verwendung Schäubles im Innenressort verzichtete und dort stattdessen ihren Vertrauten Thomas de Maizière platzierte. Der einstige Finanzbeamte Schäuble übernahm die Aufgabe, die Einnahme- und Ausgabenpolitik des Staates zwischen den Erfordernissen sozialer Balance und der klientelistischen Steuersenkungspolitik vor allem der Freidemokraten hindurch zusteuern – auch keine Erfolgsgeschichte. Weder konnte er den Sparkurs im Innern strikt durchsetzen noch fanden die meisten seiner Vorschläge zur Einflussnahme auf die internationalen Finanzmärkte ausreichend Unterstützung.
Erst mit den Vorgängen um die Kreditwürdigkeit Griechenlands 2015 änderte sich die Lage. CDU/CSU-Abgeordnete kritisierten zunehmend das von ihnen als zu lasch empfundene Vorgehen Angela Merkels in dieser Frage; sie brauchte nun den Finanzminister und seine beinharte Position. Für ihn war der griechische Widerstand gegen das EU-Austeritätsprogramm nicht nur das Aufbegehren so ungestümer wie unerfahrener Jungpolitiker mit vorgeblich schlechten Manieren – auch wenn er diese Botschaft gern gegen seinen Amtskollegen Varoufakis streute. Mit scharfem Verstand hatte Schäuble schnell erkannt, dass die Syriza-Linken ein ganz anderes Europa bauen wollten, als es ihm vorschwebte. Er taktierte bis zur Grexit-Drohung und zwang damit Griechenland den Verzicht auf einen wesentlichen Bestandteil seiner Souveränität auf: den Treuhandfonds, in den das Land 50 Milliarden Euro seines Staatsvermögens einbringen und damit privatisieren musste, um durch den Verkauf vorrangig die Forderungen der Gläubiger zu bedienen. Er erreichte auch eine weitere Verschärfung der Sparauflagen. An Athen exerzierte er vor, wie er sich die »beschränkte Souveränität« innerhalb der EU vorstellt.
Der persönlichen Karriere half das indes wenig. Nach den Wahlen 2017 nominierte ihn die Unionsfraktion für die Funktion des Bundestagspräsidenten, die mit politischem Einfluss kaum verbunden ist. Er füllte sie gewohnt diszipliniert und souverän bis 2021 aus und geht als der mit 51 Jahren »am längsten amtierende Abgeordnete der deutschen Parlamentsgeschichte auf nationaler Ebene seit der konstituierenden Sitzung des ersten gesamtdeutschen Parlaments am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche« ein, wie Wikipedia errechnet hatte und hinzufügte, damit habe er sogar den bisherigen Rekordhalter August Bebel überholt. Immerhin – am Ende noch ein kleiner Sieg über die SPD!
(Eine gekürzte Fassung wurde am 30. Dezember 2023 in »nd- die Woche« nachgedruckt.)