Heute vor 20 Jahren bot wieder einmal das Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxermburg der Opposition in der DDR die Möglichkeit, sich gegen den Druck der Staatsmacht Gehör zu verschaffen. Und sichtbarer als je zuvor wurde, dass sich der Widerstand gegen das Regime in der DDR immer weiter ausbreitete – sowohl räumlich in vielen Teilen der DDR als auch organisatorisch, indem immer neue Bereiche, gesellschaftliche Gruppen Kritik artikulierten und sich zu vernetzen begannen.
Der Protest am 15. januar 1989 war da nur eine Art Auftakt für viele Aktivitäten der folgenden Wochen und Monate, die selbst vom Ministerium für Staatssicherheit immer weniger beherrschbar waren und bei der SED-Parteiführung wachsende Hilflosigkeit auslösten. Immer mehr ließen sich immer weniger einschüchtern.
Darüber entstand ein gutes Jahr später, im Sommer 1990, nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
DDR 1989 – Der Countdown läuft
Sah es lange so aus, als sei die Oppositionsbewegung in der DDR auf die Hauptstadt beschränkt, so änderte sich das spätestens im Jahre 1989 gründlich. Dabei hatte dieser Eindruck stets getrogen, gab es immer auch Aktivitäten überall im Lande; sie fanden aber in der Regel keine so weite Verbreitung wie Berliner Vorkommnisse, die von den dort ansässigen ausländischen Medien natürlich vorrangig wahrgenommen wurden. Das erstaunt jedoch auch deshalb, weil die Oppositionsbewegung gerade in der nicht der Zentrale zugetanen »Provinz« oft noch elementarer, noch radikaler auftrat als in Berlin. Besonders kennzeichnend dafür waren die Ereignisse in Leipzig und Dresden zu Anfang 1989.
Die Leipziger Bürgerrechtsaktivisten, die schon bei den Solidaritätsaktionen für die in Berlin im Januar 1988 Verhafteten sehr engagiert in Erscheinung traten, hatten das ganze Jahr über die Staatsmacht mit ihren Aktionen beschäftigt. Das Zentrum ihres Widerstandes war die Nikolai-Kirche, aber sie hatten – zum Beispiel mit einem Pleiße-Gedenkmarsch oder mit Aktivitäten zur Dokumentarfilmwoche im November 1988 – ihren Handlungsradius bald auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt. Wenige Tage vor der traditionellen Liebknecht/Luxemburg- Ehrung hatten sie Flugblätter verteilt, die zu einer Alternativaktion aufriefen. »Der Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht«, hieß es da, »soll uns Anlass sein, weiter für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates einzutreten. Es ist an der Zeit, ruhig und offen unsere Meinung zu sagen: Schluss mit der uns lähmenden Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit. Lassen Sie uns gemeinsam eintreten
– für das Recht auf freie Meinungsäußerung,
– für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,
– für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift ›Sputnik‹ (deutschsprachige Zeitschrift, die Beiträge aus der aktuellen sowjetischen Presse enthielt – d. Verf.) und kritischer sowjetischer Filme.«
Dazu sollten am Nachmittag des 15. Januar 1989 ein Schweigemarsch vom Leipziger Markt zur Braustraße, wo sich das Geburtshaus Karl Liebknechts befindet, stattfinden. Diese Aktion beschrieb das Ministerium für Staatssicherheit später so: »Am 15. Januar 1989, nach 16.00 Uhr rotteten sich ca. 150 – 200 Personen vor dem Untergrundmessehaus im Stadtzentrum von Leipzig zusammen. Durch eine männliche Person wurde ein vorbereiteter Text verlesen, in dem zur Teilnahme an dem in den Hetzflugblättern angekündigten Schweigemarsch aufgerufen wurde. Danach setzte sich diese Personengruppierung in Richtung Neues Rathaus in Bewegung. Es wurden keine .Symbole mitgeführt. Da die Teilnehmer den wiederholten Aufforderungen der Deutschen Volkspolizei nach Auflösung des Marsches nicht Folge leisteten, erfolgte durch die Schutz- und Sicherheitsorgane die Zuführung von insgesamt 53 Personen. Die erfolgten Befragungen der Zugeführten ergaben, dass 24 in Kenntnis des Inhaltes des Hetzflugblattes und weitere 23 entsprechend der Aufforderung der männlichen Person an dieser provokatorisch-demonstrativen Aktion teilnahmen. 5 waren durch Bekannte zur Teilnahme aufgefordert worden und 1 Person befand sich unter starkem- Alkoholeinfluß. Alle zugeführten Personen wurden auf der Grundlage des VP-Gesetzes belehrt und zeitlich versetzt nach Abschluss der Verdachtsprüfungshandlungen bis 22.00 Uhr entlassen.«
Diese Aktion war eine der ersten in Leipzig, bei der Polizei so massiv eingesetzt wurde – auch für die jungen Bereitschaftspolizisten eine neue Erfahrung. Einer von ihnen schilderte später in den »Umweltblättern« seine Empfindungen: »Spekulationen und Gerüchte kursierten um die geplante Demonstration. Keiner wusste Genaues; unsere Vorgesetzten schwiegen sich aus. Um die Mittagszeit kam der Befehl zur Einsatzvorbereitung. Kurze Zeit später bekamen wir die Schlagstöcke ausgeteilt. So ungefähr um 14.00 Uhr traten wir auf dem Exerzierplatz an. Erst jetzt wurde uns der Einsatz anlässlich einer nicht genehmigten Demonstration zur ›Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit‹ angekündigt. Es folgten Belehrungen über Disziplin, Verantwortungsbewusstsein etc. sowie über die Handhabung des Schlagstocks (nur auf Weichteile), Abführgriffe etc. . . Wir . . . wurden zur Gedenkstätte gefahren. Die Straße wurde von uns oben und unten mit ca. 15 Mann abgeriegelt. Ich beobachtete Stasi-Leute, die aufgeregt innerhalb und außerhalb der Straße hin- und hergingen. Wahrscheinlich erhielten sie von einem Vorgesetzten innerhalb der Absperrung Anweisungen. Andere Stasi-Leute waren damit beschäftigt, die Ausweise von Passanten zu kontrollieren, die sich der Straße näherten. Nur Anwohner wurden durchgelassen. Es kamen mehrere Grüppchen, die stehen blieben und dem Treiben zusahen. Ich hatte beklemmende Gefühle. Tränen standen mir in den Augen (War es der Wind, oder. . .). Mein Freund neben mir starrte stumpf vor sich hin. Ich stehe hier als Polizist, muss als Grundwehrdienstleistender Dinge tun, die ich mit meinem Gewissen, nicht vertreten kann. Ein Glück, dass wir mit den eigentlichen Demonstranten nicht in Berührung kamen. . . Als wir die Sperrkette in der Straße aufzogen, schaute eine junge Frau aus dem Fenster. Nach einiger Zeit schloss sie das Fenster, zündete im Zimmer Kerzen an und spielte Geige.«
Der MfS-Bericht erwies sich übrigens als unvollständig. Zwar wurden die »Zugeführten« in der Nacht zum Montag freigelassen, doch schon in den nächsten Tagen wieder in Gewahrsam genommen. Fred Kowasch, der erst nicht exakt definierte Redner an der Untergrundmessehalle, wurde‘ am Montag, 13 Uhr, verhaftet; am Mittwoch lud die Polizei alle, die sich als Kontaktadressen der Arbeitsgruppe für Menschenrechtsfragen zur Verfügung gestellt hatten, zu Verhören. Dabei wurde angestrebt, Leipzig als Ausgangspunkt dieser Arbeitsgruppe zu
bestimmen – exaktes Schubkastendenken bestimmte die Arbeitsmethoden des MfS. Doch aus den eingangs dargestellten Ermittlungen ließ sich offensichtlich wenig machen. Am Freitag darauf entließ man Kowasch wieder aus der Haft, und in der folgenden Woche wurden auch die Ermittlungsverfahren eingestellt. Die Leipziger Bürgerrechtler brachten diese für sie überraschende Entwicklung mit dem Abschluss der Wiener KSZE-Folgekonferenz in Zusammenhang – ein Faktor, der sich für die Wirkungsmöglichkeiten der oppositionellen Gruppen in den nächsten Wochen positiv bemerkbar machen sollte.
In Dresden kam es – auch schon traditionell – am 13. Februar 1989 zu Aktionen in und vor der Kreuzkirche sowie der zerstörten Frauenkirche, wo ein Nachtgebet stattfand. Polizei und Staatssicherheit machten hier Jagd auf unliebsame Losungen, darunter auf ein Schild, mit der Aufschrift »KSZE an Elbe und Spree«. Die Dresdener Oppositionellen spielten damit auf die erfolgreich abgeschlossene KSZE- Konferenz an, die ein Dokument verabschiedet hatte, das viele Bürgerrechtsaktionen faktisch legalisierte und damit eine große Ermutigung für die Gruppen war.
Dr. Hans Voß, stellvertretender Leiter der DDR-Delegation in Wien, schilderte nach der Wende, wie im Verlauf der dort vom 4. November 1986 bis 19. Januar 1989 tagenden Folgekonferenz die Position der DDR immer unhaltbarer wurde: »Die Forderungen des Westens, die in vielem mit den Auffassungen der Gruppen konform gingen, stießen am Anfang auf eine einhellige Gegenposition der sozialistischen Länder. Doch mit den Jahren, vor allem mit der Demokratiebewegung in der UdSSR, aber auch in Ungarn und Polen, änderte sich das. Es kam dann sogar so weit, dass Druck auf jene Staaten ausgeübt wurde, die sich sträubten, den Forderungen des Westens entgegenzukommen.«
Voß hob hervor, dass die DDR- Delegation die Entwicklung richtig prognostizierte: »Wir informierten, wie sich die Dinge wahrscheinlich gestalten würden, wir verwiesen auf die vor allem für die Sowjetunion geänderten Umstände und entwickelten eigene Vorstellungen zum weiteren Vorgehen. Einiges wurde beachtet, zumindest in der ersten Zeit; dafür sprachen .ja auch bestimmte Entscheidungen, z. B. über die Verwaltungsgerichtsbarkeit.« Aber später war die Führung der damaligen DDR dann immer weniger zu Zugeständnissen bereit. »Man trug uns auf, dieses oder jenes zu vermeiden, was aber kaum noch gelang«, schilderte Voß das Dilemma. »Nicht einmal die früheren Verbündeten zogen mit, was unsere Führung nicht verstand. Sie lebte in einer irrealen Welt, auch was diese Prozesse betraf.«
Dieser Irrationalismus hatte sich zuvor schon in der Haltung zur sowjetischen Informationspolitik gezeigt, die im »Sputnik«-Verbot kulminierte. Das MfS reflektierte die in der DDR-Bevölkerung weithin positiven Auffassungen über Perestroika und Glasnost, fühlte sich jedoch gehalten, sie letztlich zu bagatellisieren und das eigene Wunschdenken als Bevölkerungsmeinung auszugeben. Zitat: »Während in zurückliegender Zeit die Auffassung dominierte, das offene und kritische Aufzeigen von Fehlern und Schwächen in der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung der UdSSR und die in breiter Form dazu geführte öffentliche Auseinandersetzung damit seien Ausdruck der Stärke der KPdSU, nehmen jetzt Auffassungen an Umfang und Intensität zu, dass die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und die Entwicklung einer Atmosphäre der Offenheit nicht dazu führen dürfen, in der Öffentlichkeit hemmungslos subjektivistische Meinungen und Beurteilungen von Menschen und Prozessen kundtun, Halbwahrheiten, Spekulationen und bürgerliche Auffassungen verbreiten zu können.« Die unrealistische Sicht auf den geistigen Zustand der Bevölkerung zeigte sich später auch in der Bewertung der Ausreisewelle, was sich besonders verhängnisvoll auswirken sollte.
Für die Bürgerrechtler war Wien eine Ermutigung. »Die Beschlüsse waren – wenn auch formal nicht verbindlich, so doch moralisch von erheblicher Wirkung – und damit«, sagte Dr. Voß, »geeignet, bei den Behörden die Rechte einzuklagen und bei Nichtgewährung immer wieder nachzustoßen. Dabei erhielten die Gruppen auch die Unterstützung westlicher Staaten, die immer
wieder Fragen an uns richteten. Wir wollten darauf schon eine Antwort geben – schließlich waren wir dazu verpflichtet, aber von der Zentrale wurde das immer wieder abgeblockt. Man empfahl uns, diese Dinge nicht zu ernst zu nehmen, sondern zu ignorieren .«
Als die Wiener Konferenz zu Ende war, verstärkte sich diese wirklichkeitsfremde Haltung der Führung noch. »Von Wien aus«, so Voß, »konnten wir noch Einfluss nehmen, auf Zwänge verweisen, denen wir international ausgesetzt waren. Nun aber zog das nicht mehr, und mehr und mehr waren wir gehalten zu versuchen, unseren Verpflichtungen auszuweichen.«
So hatte zwar die Partei- und Staatsführung alles getan, um eine positive Wirkung des KSZE-Prozesses auf die innere Entwicklung zu verhindern; dennoch aber wirkte er sowohl bei mancher zentralen Entscheidung – zu erinnern sei nur an die mühsamen und letztlich halbherzigen Schritte vorwärts in Reisefragen – als auch auf den unteren Ebenen. Mit den Festlegungen von Wien im Hinterkopf versuchte anfangs noch mancher Funktionär, ein allzu spektakuläres Vorgehen gegen Andersdenkende zu vermeiden. Klaus Gysi berichtete sogar davon, dass es in dieser Zeit gelang, Vertreter des Außenministeriums zu Gesprächen mit Kirchenleuten über die KSZE-Problematik zu gewinnen. Damit erweiterten sich die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition, und diese war bemüht, im Frühjahr 1989 neben der quantitativen Erweiterung auch sine neue Qualität zu erreichen. Die »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) trat am 11. März nach langer Konsolidierungs-Phase wieder mit einem Grundsatzdokument an die Öffentlichkeit.
Der Weg dahin war nicht einfach gewesen, denn trotz der Erweiterung der oppositionellen Massenbasis war es der Initiative den gesamten Winter über nicht gelungen, die von Werner Fischer beklagten inneren Zwistigkeiten zu überwinden. Hinzu kam, dass die Initiative im Januar 1989 schwer von der Nachricht getroffen wurde, dass zwei ihrer Mitglieder als Spitzel für die Staatssicherheit arbeiteten. Sie hatten sich selbst gestellt, wobei ein Schachzug des Mf’S zur weiteren Verunsicherung der Opposition nicht ausgeschlossen wurde. Oberst Zeiseweis, stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung‘ Berlin glaubte aber im Nachhinein nicht an eine gezielte Aktion, obwohl solches Vorgehen durchaus praktiziert wurde. Wie auch immer – das Ergebnis war wachsendes Misstrauen innerhalb der IFM und damit eine Erschwerung ihrer Arbeit. Dennoch brachte sie den Aufruf vom 11. März in die Öffentlichkeit, womit sie eine wesentliche Erweiterung ihrer Aktivitäten beabsichtigte, eine Verbreiterung ihrer Basis anstrebte. »Wir hatten uns bis dahin überwiegend auf thematische Arbeit konzentriert, zu Wirtschaftsfragen, zur Justizreform, auch zur Entwicklung außerhalb der DDR«, berichtete Gerd Poppe später. »Das aber gefügte nun offensichtlich nicht mehr. Wir mussten unsere Möglichkeiten erweitern, zumal wir ja bewusst nicht unter das Dach der Kirche wollten. Der März-Aufruf sollte auch ermöglichen, uns weitgehend von der Kirche zu lösen und eine selbständige Arbeit zwischen den Gruppen zustande zu bringen.«
Nach einer kurzen Charakterisierung der internationalen Entwicklung, vor allem der Reformkräfte in sozialistischen Ländern, und der zugespitzten Situation in der damaligen DDR kommt der Aufruf zu dein Schluss: »Die bisher auf einen relativ abgeschlossenen Kreis und auf den Berliner Raum orientierte ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ will der neuen Situation dadurch Rechnung tragen, dass sie sich von nun an als offen für all diejenigen Menschen in der DDR erklärt, die sich den nachfolgend angeführten Arbeitsgrundlagen und Zielvorstellungen anschließen können und wollen.« Dann stellte das Papier die offene Arbeitsmethode der IFM dar (»Die ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ ist weder eine Organisation noch eine Partei.Um sich ihr anzuschließen, bedarf es keiner eingeschriebenen Mitgliedschaft.«) und umriss ihre wichtigsten inhaltlichen Ziele: »Wie der Näme ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ nahe legt, betrachtet sie Frieden und Menschenrechte als voneinander untrennbar. Sie hält es für gefährlich, eins gegen das andere auszuspielen. Die Menschenrechte sind unteilbar. Mit dem Hinweis auf die Verwirklichung sozialer Rechte und Pflichten dürfen nicht die politischen Rechte und Pflichten gering geschätzt werden – und umgekehrt. Zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören das Recht auf Freizügigkeit und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es ist notwendig, den tatsächlich vorhandenen Pluralismus der Meinungen zu akzeptieren und die gesellschaftlichen Probleme offenzulegen. Die IFM wird stets für freie und ungehinderte Information und Kommunikation eintreten und alle eigenen Möglichkeiten (z.B. unabhängige Publikation, Ausstellungen, Seminare) dafür nutzen. Mit ihrem Handeln werden die der IFM verbundenen Menschen sich in erster Linie ihrem Gewissen verpflichtet fühlen, was unter anderem heißt, das Recht auf Meinungsfreiheit ungeachtet staatlicher Restriktionen wahrzunehmen. Ihre Bereitschaft zum Dialog erstreckt sich auf alle gesellschaftlichen Kräfte – ungeachtet der Weltanschauung, Religion, ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit – innerhalb des eigenen Landes wie auch über die Landesgrenzen hinweg.« Sie werden dann im einzelnen präzisiert; das Dokument schließt mit den Worten: »Durch persönliche Kontakte und Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg will die ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ dazu beitragen, den Entspannungsprozess ›von unten‹ zu fördern.«
Das Echo war zunächst gering. Die IFM konnte ihren Ruf als verschworener Verein mit hohem theoretischen Anspruch nicht so schnell überwinden; viele scheuten sich offensichtlich deshalb davor, sich ihr anzuschließen, Hinzu kamen Anzeichen eines Sektierertums, das zwischen »alten« und »neuen« Mitgliedern fein differenzierte. Werner Fischer: »Viele dachten wohl, sie würden einmal gefragt werden: Wart ihr schon vor dem Aufruf in der IFM, oder habt ihr erst danach den Mut dazu besessen?« So entstand die paradoxe Situation, dass der vorhandene Drang zum Zusammenschluss zunächst der ältesten Bürgerrechtsgruppe nicht zugute kam. Vielmehr profitierte davon die Kirche, die mehr und mehr aus der bisherigen Deckung heraustrat.
Bereits im Oktober 1988 hatte das MfS – vor allein unter dem Eindruck der Proteste gegen die Zensierung der Kirchenzeitungen – in einer Analyse festgestellt: »Die Mehrzahl der Aktivitäten der Kräfte des politischen Untergrundes vollzieht sich unter dem Dach der evangelischen Kirche und des reaktionären Teils des Klerus. Dabei hat die Berlin-Brandenburgische Kirche unter Forck eine gewisse Vorreiterrolle gespielt.« Danach verschärfte ach die Gangart des Staates gegenüber der Kirche weiter und zwang diese förmlich in eine ausdrückliche Oüoositionsrolle. Bischof Gottfried Forck sprach in diesem Zusammenhang von »Nötigung« der evangelischen Kirche, »weil sie plötzlich herausgefordert war«. Und er fuhr fort: »Sie hat das gar nicht unbedingt gerne getan, hat sich oft über die Gruppen fürchterlich geärgert, wenn sie durch diese in etwas hineingerissen wurde, aber mehr und mehr wuchs doch die Einsicht, dass das, was die Gruppen betrieben, sie selber eigentlich «ich betreiben musste. Der Beitrag der Kirche zur Wende wurde wesentlich angestoßen durch die Gruppen, die sich unter dem Dach der Kirche gesammelt und sie tüchtig vorwärtsgetrieben haben.«
Ein deutliches äußeres Zeichen war neben vielen Einzelaktionen das Friedensseminar von Basisgruppen evangelischer Kirchen. das vom 24. bis 26. Februar 1989 in Greifswald stattfand. Vertreter oppositioneller Gruppierungen aus der gesamten DDR trafen sich, um unter dem Motto »Unser europäisches Haus – wie stellen wir es uns vor und wie können wir daran mitwirken?« zu diskutieren. Es ging den Organisatoren dabei vor allem um Letzteres, nämlich die Verstärkung ihrer Mitsprache in wichtigen gesellschaftlichen Angelegenheiten und die Schaffung der dafür erforderlichen organisatorischen Strukturen.
Das gelang auf dieser Veranstaltung noch nicht, doch die Tendenz war unverkennbar. Pur das MfS bedeutete es schon einen Erfolg, dass die weitere Zusammenarbeit noch nicht auf eine neue Basis gestellt werden konnte. Es berichtete: »Die von den Organisatoren . . . angestrebte weitere Vernetzung und inhaltliche Profilierung der kirchlichen Basisgruppenarbeit fand keine erkennbare unmittelbare Fortsetzung. . .« Das MfS stellte gleichzeitig fest, dass etwa ein Drittel der ca. 200 Teilnehmer der Veranstaltung erstmals vertreten war und gerade diese »Neulinge«“ sich besonders dafür interessierten, nutzbare Informationen und Anregungen für ihre Arbeit zu erhalten. Die damit verbundene Erweiterung des oppositionellen Potentials wurde offensichtlich nicht gesehen; der Staatssicherheit genügte in ihrer zunehmenden Bedrängnis, dass die Schaffung schlagkräftiger Organisationsformen der Opposition noch ausblieb. Und so stellte sie befriedigt fest: »Nicht die Zustimmung des Plenums fanden Vorschläge, dem ›Friedensseminar‹ eine festere Struktur im Sinne einer Vereinigung, die künftig die Gruppen gegenüber dem Staat vertreten solle, zu geben sowie ein Adressenverzeichnis aller ›Basisgruppen‹ zu erarbeiten und den Gruppen zur Verfügung zu stellen.«
Dennoch ging die organisatorische Zusammenführung der Oppositionellen in schnellem Tempo weiter, auch wenn dies von der Kirche – entsprechend deren von Forck dargelegter unentschiedener Haltung – nicht immer mit Freude gesehen wurde. Die Gruppen bedienten sich dazu in wachsendem Maße eines Mittels, das stets in revolutionären Prozessen als organisatorische Klammer gedient hatte – der Presse. Im Frühjahr 1989 nahm die »Herstellung und Verbreitung nichtgenehmigter Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse antisozialistischen Inhalts und Charakters«, wie es in der Sprache der Staatssicherheit hieß, sprunghaft zu. Das MfS berichtete im Juni 1989: »Insgesamt ist aktuell eine steigende Tendenz hinsichtlich der Profilierung existierender und der Herausgabe neuer sogenannter Informationsblätter zu beobachten.« Allein in Berlin identifizierte es sieben solcher Publikationen. Die Darstellung von deren Zielen durch das Ministerium lässt klar erkennen, dass die Opposition damit einen Zuwachs an Koordination zwischen den Gruppen und letztlich ihre bessere Organisierung erreichen wollte: »Die damit von feindlichen, oppositionellen Kräften verfolgte Zielstellung besteht nicht nur in der Gewährleistung der Kommunikation vorgenannter personeller Zusammenschlüsse untereinander und mit gleichgelagerten Gruppen. Vielmehr geht es diesen Kräften darum, kontinuierlich weitere konzeptionelle Grundlagen für das Wirksamwerden feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in der DDR zu entwickeln, ihre politischen Auffassungen und Forderungen republikweit öffentlichkeitswirksam zu propagieren und zur Diskussion zu stellen – gewissermaßen eine breit gefächerte ›publizistische Gegenöffentlichkeit‹ herzustellen – und auf dieser Basis Gleichgesinnte, Sympathisanten und weitere Personen für die feindlich-negativen Ziele zu gewinnen und bei diesen antisozialistische Bewußtseins- und Handlungsbereitschaften herauszubilden bzw. zu erzeugen, den jeweiligen personellen Zusammenschluss und dessen politische Ziele öffentlich aufzuwerten (auch international) und den gegebenen Handlungsrahmen missbrauchend, gezielt auf eine Legalisierung hinzuwirken, den Solidarisierungseffekt mit Gleichgesinnten im In- und Ausland auszuprägen sowie ›DDR-weite‹ Informationsbeziehungen für feindliche, oppositionelle Kräfte aufzubauen.«
Während die Kirche diesen Aktivitäten noch reserviert gegenüberstand, engagierte sie sich auf einem anderen Feld weit stärker; hier stand sie unter besonderem Druck ihrer eigenen, nicht auf Jugendliche beschränkten Basis, Es ging um die Reformierung des Bildungssystems in der damaligen DDR, die nach den Vorgängen an der EOS »Carl von Ossietzky« besondere Aufmerksamkeit fand. Teilnehmer der fünften Tagung der 9. Synode der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 31.3. bis 4.4.1989 forderten energisch eine Umorientierung des Bildungswesens. In einem Beschluss verlangten sie von allen Bildungseinrichtungen
»- die Entwicklung von Fähigkeiten zum Dialog und zur Toleranz, die Erziehung zur Friedensfähigkeit (z. B. Konfliktlösungen mit friedlichen Mitteln; Abbau der militärischen Elemente im Unterricht),
– Raum für Spontaneität, Anerkennung eigener Interessen und persönlicher Fähigkeiten (z.B. in der musischen Erziehung und durch Wahlfächer in der Oberstufe),
– die Anerkennung des Beitrages christlicher Schüler und christlicher Eltern«.
Die bis dahin schon erheblichen Aktivitäten nahmen nun schnell weiter zu. Bereits am 15. April 1989 fand in Potsdam eine »Pädagogische Werkstatt« statt. Vom 26. bis 28.Mai veranstaltete der Friedenskreis Weißensee ein »Forum zu Volksbildungsfragen«, an. dem bekannte Bürgerrechtler wie Jens Reich, Frank-Herbert Mißlitz und der Liedermacher Karl-Heinz Bomberg teilnahmen, aber auch relegierte Schüler der EOS »Carl von Ossietzky« und die Direktorin einer Marzahner Oberschule. Am 2. Juni wurde die Diskussion in der Samariter-Gemeinde Berlin-Friedrichshain fortgesetzt, und vom 9. bis 11. Juni sollte in Friedrichsfelde ein »Pädagogischer Kongress von unten« stattfinden, auf dem der Eisenhüttenstädter Rechtsanwalt Rolf Henrich, später einer der Mitbegründer des Neuen Forum, auftreten wollte. Diese Veranstaltung konnte das MfS weitgehend verhindern. An dieser konkreten, für viele Menschen der damaligen DDR wichtigen Frage zeigte sich, wie schnell das oppositionelle Potential wuchs, in welchem Umfang immer mehr Menschen den Weg zur Bürgerrechtsbewegung fanden.
Im Frühjahr 1989 gab es jedoch eine Reihe weiterer Ereignisse, die die Entwicklung der Opposition beschleunigten. Erinnert sei nur an die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, die Geschehnisse in China im Juni und ihre offizielle Widerspiegelung durch die DDR und vor allem die seit Mai in immer schnellerem Tempo zunehmende Ausreisewelle, gegen die die Partei- und Staatsführung keinerlei Gegenmittel fand. Diese Vorgänge setzten einen Prozess in Gang, der bis zum Herbst ständig eskalierte.
Auch ich fühle mich veranlaßt, den Blick 20 Jahre zurück zu lenken.
Vor allem hier: http://tageundjahre.de/
Dabei ist mir die schlichte Bewahrung, Wiedergabe, Reproduktion dessen, was war das Hauptbedürfnis. Dies nicht aus einer grundsätzlichen Abneigung gegen das Aufdecken von Zusammenhängen, eher aus dem Gefühl heraus, daß es noch viele tief liegende Zusammenhänge aufzuspüren gilt und es deshalb besonders nötig ist, das Unmittelbare zu haben und neu zu betrachten.
Wenn in der DDR-Provinz im Jahr 1989 sich 150-200 Personen zu einem nicht genehmigten Gedenkmarsch für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zusammenfanden, so finden sich in westdeutscher Provinz im Jahr 2009 zu einer Filmvorführung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum gleichen Anlaß gerade einmal 15 Personen zusammen. Diese „Zusammenrottung“ mußte allerdings weder bei den Ordnungsbehörden angemeldet werden noch fand sie unter den gestrengen Augen der Sicherheitskräfte statt. Wie schön ist doch die persönliche Freiheit im „Goldenen Westen“, aber wie unschön ist auch die politische Leere im neoliberalen Deutschland!