Fritz Streletz – schon 1992 verstand er sich als Wendeopfer

Ein hoher Militär, der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Generaloberst a. D. Fritz Streletz, ist jetzt in Oranienburg verstorben. Seine Leistung lässt noch einmal enen Hauch auf die Geschichte der DDR erkennen, denn durch ihn und seine Vorgesetztzen gab es keinen Schiessbefehl, der das Ende der DDR ankündigte. Seine Erklärung des Schiessbefehls im Verlauf des Prozesses gegen ihn und seine Mitangeklagten waren Aussagen, die bis heute der Entwicklung standhalten. Im folgenden die Charakterisierung von Fritz Streletz aus dem Buch „Kurzer Prozeß. Honecker und Genossen – ein Staat vor Gericht?“ und seine Erklärung vom 14. Dezember 1992, enthalten im gleichen Buch.

Fritz Streletz kam zwar auch aus einfachen Verhältnissen, fühlte sich aber schon als 14jähriger zum Militär hingezogen. Erst Unteroffiziersschüler, dann im Reichsarbeitsdienst, wurde er noch 1944 einberufen und an die Ostfront geschickt. Er lief nicht über, sondern geriet im Februar 1945 in sowjetische Gefangenschaft. Mehr als drei Jahre arbeitete er vor allem auf Baustellen in der Nähe Moskaus. Um schneller entlassen zu werden, verpflichtete er sich bereits dort, das weiterzumachen, was er als einziges gelernt hatte, das sogenannte Waffenhandwerk. Am 5. Oktober 1948 wieder frei, trat er am 1. November seinen Dienst als VP-Wachtmeister an. Einen Monat später war er auch Mitglied der SED. 1951/52 absolvierte der junge Polizeioffizier einen Sonderlehrgang in der Sowjetunion und wurde dort für höhere Funktionen der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee, ausgebildet. In dieser brachte er es dann gleich zum Stellvertreter des Chefs des Leipziger Militärbezirks.

1959 wurde der damalige Oberst Streletz wieder für zwei Jahre /um Studium geschickt, diesmal auf die sowjetische Generalstabsakademie. Seine Position war nun schon so stark, dass einer Empfehlung der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED, das Studium wegen zweier Vorkommnisse in seinem Verantwortungsbereich und damit verbundener »Vernachlässigung der Dienstaufsichtspflicht« zu verschieben, nicht entsprochen wurde. Nach seiner Rückkehr 1961 wurde Streletz Chef des Stabes des Leipziger Militärbezirks und drei Jahre später als Generalmajor Stellvertreter des Hauptstabes der NVA in Strausberg. Eine »Generalstabslaufbahn«, wie er es stolz selbst nannte, begann. Und stolz ist er noch heute auf seine Berufung zum Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, die es ihm ermöglichte, »die Aufträge solcher Persönlichkeiten wie des Vorsitzenden des Verteidigungsrates gewissenhaft und militärisch exakt zu erfüllen«.

Seine Erklärung vom 14. Dezember 1992 hat folgenden Wortlaut:

Ich bin bereit, zu den gegen mich in der Anklage erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen und alle Fragen zu beantworten, damit wir eine erfolgreiche Sachaufklärung betreiben.

Ich tue dies aus eigener und freier Entscheidung mit dem Ziel, mich nicht nur gegen die erhobene Anklage zu verteidigen, sondern auch um einen Beitrag zur Gewinnung historischer Wahrheit zu leisten. Dies scheint mir dringend notwendig, da die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zum eigentlichen historischen Sachverhalt nicht nur zur Nebensache deklariert wurden, sondern auch enorme Lücken aufweisen. Bei Belassung dieser Lücken würde das so entstandene Bild dementsprechend auch die falsche Beurteilung der Verantwortlichkeiten fortschreiben.

Diese Erklärung und meine weiteren Einlassungen sowie Antworten auf Fragen zur Sache haben überhaupt nichts damit zu tun oder sollen in Abrede stellen, daß ich persönlich den Tod oder jede Verletzung eines Menschen und das damit hervorgerufene persönliche Leid eines einzelnen oder einer Familie zutiefst bedauere.

Dieses Gericht ist nach meiner Auffassung

— weder nach internationalem Recht

— noch nach DDR-Normen

zuständig. In Anbetracht dieser Tatsachen hätte im Einigungsvertrag eine ausreichende Regelung gefunden werden müssen.

Da sich Herr Honecker und Herr Keßler ausführlich zu politischen Fragen und Gedanken dieses Prozesses aus ihrer Sicht geäußert haben, möchte ich vorab kurz auf 3 Probleme

— die sogenannte innerdeutsche Grenze

— den Schusswaffengebrauch und

— die Minenverlegung eingehen:

1. Zur sogenannten innerdeutschen Grenze

Bei der früheren Staatsgrenze der DDR zur BRD ging es um keine »innerdeutsche« Grenze, sondern um eine durch den zweiten Weltkrieg geschaffene bittere Tatsache,

a) die Trennlinie zwischen Sozialismus und Kapitalismus,

b) die sensible Grenze zwischen dem Warschauer Vertrag und die NATO,

c) die Trennungslinie zwischen den mächtigsten und modernste Streitkräftegruppierungen der Welt,

d) die Sicherung des sogenannten »Eisernen Vorhanges« im Kalten Krieg zwischen Ost und West.

Deshalb genoss diese Grenze immer die absolute Priorität und stellte sich dar in einer internationalen Dimension.

Sie war vor allem auch in militärpolitischer Hinsicht jederzeit brisant.. Gerade deshalb ist der Begriff »innerdeutsch« absolut irreführend. Jede Veränderung der politischen Großwetterlage wir hier deutlich spürbar.

Deshalb waren die Sicherheitsmaßnahmen an dieser Grenze auch keine autonomen Entscheidungen der damaligen DDR, sondern sie waren Ergebnisse von internationalen Rahmenbedingungen und Zwängen. Diese letztendlich internationalen Entscheidungen wurden immer, soweit mir bekannt, mit Moskau bzw, den Führungsorganen des Warschauer Vertrages abgestimmt bzw, vorgegeben.

Im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg, der zwischen den bei den Weltsystemen herrschte, sowie der Verpflichtung der DDR gegenüber den Mitgliedern des Warschauer Vertrages wurden die Aufgaben und Maßnahmen für die Grenzsicherung festgelegt.

Deshalb waren auch an der Staatsgrenze zur BRD mit einer Länge von 1378 km annähernd 30000 Grenzsoldaten eingesetzt und an der Grenze zum damaligen Berlin-West mit einer Länge von 161 km 8000 Mann im Grenzdienst tätig. Im Gegensatz dazu waren an der Grenze zu Polen und zur Tschechoslowakei mit einer Länge von rund 900 km nur 600 Grenzer im Einsatz.

Allein diese Zahlen beweisen anschaulich, daß die Grenztruppen in die sicherheitspolitischen und militärischen Planungen des Warschauer Vertrages einbezogen waren und eine wichtige Aufgabe bei der Friedenssicherung und Friedenserhaltung zu erfüllen hatten. Es mag sein, daß politische Erwägungen bei der 1972 erfolgten Herauslösung der Grenztruppen aus der NVA eine Rolle spielten. Im übrigen wird die Bundeswehr heute einer Personalreduzierung unterzogen, die zumindest teilweise beim Bundesgrenzschutz kompensiert wird.

Die Auffassung der Staatsanwaltschaft von einer lediglich innerdeutschen Grenze findet im übrigen noch nicht einmal in dem zwischen der DDR und der BRD am 21. Dezember 1972 geschlossenen Grundlagenvertrag ihren Ausdruck.

In diesem Vertrag bestätigen sich die damaligen beiden deutschen Staaten die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung territorialer Integrität und Souveränität. Im Artikel 6 heißt es:

»Wir respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten.«

Heute, im nachhinein, die Grenzen zwischen der DDR und der BRD trotz Grundlagenvertrag als eine Grenze wie zwischen Bayern und Hessen darzustellen, entspricht nicht der historischen Wahrheit. Diese Tatsachen sind sicherlich der Staatsanwaltschaft ebenso bekannt; hierauf habe ich jedenfalls in meiner Vernehmung bereits hingewiesen. Diese Tatsachen werden heute bewußt verschwiegen und in die Überlegungen nicht mit einbezogen.

Alle Entscheidungsträger der DDR hatten unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des politischen Systems hiervon auszugehen.

Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen hatten die Grenztruppen die Aufgabe,

— die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze,

— die Souveränität und territoriale Integrität ihres Landes zu gewährleisten sowie

— die Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet durchzusetzen.

Dazu gehörte die schwierige Aufgabe, Versuche illegaler Grenzübertritte und anderer Verletzungen der Staatshoheit nicht zuzulassen sowie Grenzverletzer festzunehmen.

Nach meinem Verständnis ist es das Recht jedes souveränen Staates, über die Art und Weise, wie er seine Grenzen schützen will und sichert, selbst zu entscheiden. Selbstverständlich muß er hierbei sowohl die eigene Verfassung nach innen wie auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen nach außen beachten. Ohne eine richtige Einschätzung dieser Frage ist auch eine zutreffende Beurteilung der innerstaatlichen Bestimmungen der DDR über die Grenzsicherungsmaßnahmen und den damit im unmittelbaren Zusammenhang stehenden Schußwaffengebrauchsbestimmungen an der Staatsgrenze nicht möglich.

2. Zum Schußwaffengebrauch an der Staatsgrenze

Ich habe nie daran gezweifelt, daß die DDR berechtigt war, zum Schutz ihrer Staatsgrenze gegen Angriffe von außen oder innen diese auch mit der Waffe zu verteidigen.

Die mögliche Anwendung der Schußwaffe wurde abgeleitet aus dem Artikel 7 Absatz 1 der Verfassung der DDR, und zwar als staatlicher Auftrag der Volkskammer der DDR an die Exekutive.

Danach waren die Staatsorgane verpflichtet,

— »die territoriale Integrität der DDR und

— die Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenzen… sowie

— den Schutz und die Nutzung« (Art. 7 Abs. 1 Verfassung der DDR) des Staatsgebietes

zu gewährleisten.

Aus diesem staatlichen Auftrag erwuchs einerseits die Verpflichtung zum Handeln für die dazu berufenen Organe und andererseits die Verpflichtung des Staates, den in Erfüllung dieser Au fgabe handelnden Personen die erforderliche Rechtssicherheit zu garantieren. Klar war hierbei selbstverständlich auch die Tatsache, daß die Grenze zwischen DDR und BRD damals eben keine »normale« Grenze war,

Die Schußwaffengebrauchsbestimmungen für die Grenztruppen unterlagen einer genau festgelegten strengen gesetzlichen Regelung und entsprachen mindestens den Anforderungen, wie sie in anderen westeuropäischen Ländern üblich sind. Zweck dieser Bestimmungen war es, im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten

— ein willkürliches Handeln auszuschließen und

— den Einsatz der Schußwaffe auf den äußersten Notfall zu

beschränken.

Das Ziel der Schußwaffenanwendung war ausnahmslos die Festnahme von Grenzverletzern und niemals ihre Tötung. Dies muß auch heute allein deswegen schon glaubhaft sein, weil jeder Fall des Schußwaffengebrauchs an der Grenze mit tragischen Auswirkungen zu einer internationalen negativen Publizität führte.

Die Vertreter der Anklage wissen nunmehr ebenfalls, daß es niemals einen sogenannten »Schießbefehl« gegeben hat, mit welchem die Tötung von Menschen entgegen den gesetzlichen Bestimmungen angeordnet wurde. Es ist auch bekannt, daß der NVR niemals einen derartigen Beschluß gefaßt hat.

Ich möchte darauf hinweisen, daß, wenn ein solcher Beschluß gefaßt oder ein derartiger Befehl gegeben worden wäre, infolge davon mit Sicherheit weitaus mehr Opfer zu beklagen gewesen wären, als dies heute schon der Fall ist.

Es sei mir in diesem Zusammenhang gestattet, an folgende Zahlen zu erinnern: In den letzten 10 Jahren von 1979 bis 1988 wurden 3600 Grenzverletzer festgenommen; 187mal wurde dabei die Schußwaffe angewendet, davon 30- bis 40mal mit gezieltem Feuer. Auch diese Zahlen beweisen, daß

— der Einsatz der Schußwaffe die Ausnahme bildete und

— nie direkt befohlen wurde, Grenzverletzer zu töten,

— es niemals einen sogenannten »Schießbefehl« gegeben hat.

Aus diesem Grunde fand bei jedem Vorkommnis an der Grenze, wo es zuvor zum Schußwaffeneinsatz gekommen war, eine Untersuchung durch die hierfür zuständigen Organe des MfS und der Militärstaatsanwaltschaft statt. Die Untersuchungen, die an Ort und Stelle geführt wurden, hatten das Ziel, in jedem Einzelfall festzustellen, ob der Schußwaffeneinsatz gerechtfertigt war oder ob gegen bestehende Bestimmungen verstoßen wurde.

Mir ist klar, daß mir heute von vielen und nicht zuletzt von der Staatsanwaltschaft entgegengehalten wird, daß es schließlich für Fälle des Schußwaffeneinsatzes Belobigungen und Vorteile für die beteiligten Grenzsoldaten gab. Darüber, daß es solche Belobigungen gab, wenn ein Grenzdurchbruch verhindert wurde, wird mit Sicherheit noch in diesem Prozeß zu sprechen sein.

Doch muß ich darauf hinweisen, daß in diesem Zusammenhang auf jeden Fall nicht die Kompetenz des NVR angesprochen war und es auch niemals zu den Aufgaben des NVR gehörte, derartige vorerwähnte Untersuchungen anzuordnen oder selbst vorzunehmen. Tatsächlich hat sich der NVR niemals mit solchen Fragen befaßt.

Auch die Ausbildung der Grenztruppen gehörte nicht zu den Aufgaben des NVR, geschweige denn in irgendeiner Form zu mei ner militärischen Kompetenz.

Bei einem Vorfall wurde im Einzelfall entschieden, ob dieser so bedeutsam war, daß er an den Minister sofort gemeldet werden mußte. Aufgrund einer internen Festlegung habe ich zwischen 6.30 Uhr und 7.00 Uhr dem Sekretär für Sicherheitsfragen, Egon Krenz, telefonisch Meldung erstattet. Gegen 7.30 Uhr wurde die auf Arbeitsebene mit dem MfS abgestimmte Meldung dem Minister zur Unterschrift vorgelegt. Das unterzeichnete Dokument wurde sodann unverzüglich per Sonderkurier zum ZK der SED geschafft, wo es Erich Honecker und Egon Krenz zugeleitet wurde, so daß sie bei ihrem Arbeitsbeginn die Meldung vorfanden. Mit Eintreffen der Meldung im ZK hatte ich dienstlich mit den jeweiligen Vorfällen (»Besonderes Vorkommnis«) nichts mehr zu tun. dies hinderte mich jedoch nicht, wiederholt gegenüber dem Chef der Grenztruppen meine Kritik hinsichtlich des hohen Anteils von Dauerfeuer zum Ausdruck zu bringen; es stellte meines Erachtens kein geeignetes Mittel dar, die Grenzverletzer festzunehmen, und entsprach auch nicht den bestehenden Schußwaffengebrauchsbestimmungen.

Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn man unterstellt, es hätte seit der Verabschiedung des Grenzgesetzes im Jahre 1982 eine Faustregel des Inhalts gegeben, »besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt«. Auch trifft es nicht zu, daß die für die Erarbeitung der Schußwaffengebrauchsbestimmungen verantwortlichen Personen diese Bestimmungen allein so interpretiert haben oder interpretiert wissen wollen.

Nach meiner Kenntnis unterscheiden sich die Schußwaffengebrauchsbestimmungen der Grenztruppen der DDR inhaltlich nicht von den entsprechenden Bestimmungen. der BRD.

3. Zur Verminung der Staatsgrenze

Es war allgemein üblich, daß zwischen »nichtbefreundeten« Staaten von seiten des sozialistischen Lagers das Grenzgebiet aus Sicherheitsgründen zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde. Die Entstehung dieser Sperrgebiete ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei einem immensen wechselseitigen Mißtrauen anzusiedeln. Auch zwischen der DDR und der BRD wurde, aufgrund der Besonderheiten dieser Grenze, das Grenzgebiet durch die Organe der DDR und die zuständigen Organe der Sowjetarmee als militärisches Sperrgebiet behandelt.

Die beim Oberkommandierenden der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, später Westgruppe, akkreditierten Militärverbindungsmissionen der USA, Englands und Frankreichs haben diese Festlegungen immer respektiert. Es sind keine Versuche des Eindringens und auch keine Proteste durch die 3 Militärverbindungsmissionen der Alliierten zu verzeichnen gewesen. Dies mag die unschöne Situation der vorhandenen Verminung nicht verbessern, doch läßt sie ein anderes Licht auf die Vorgänge zu. Wie bereits betont, waren die Sicherheitsmaßnahmen an der Grenze der DDR zur BRD keine nationalen, sondern internationale Entscheidungen. Dies betraf auch die Verminung.

Die Grundsatzentscheidung, ob und mit welchem Minentyp die Staatsgrenze zu sichern ist, war notwendigerweise eine politische Entscheidung, die von der DDR in Übereinstimmung mit Moskau und den Führungsorganen des Warschauer Vertrages getroffen wurde.

Der genaue zeitliche Beginn der Verminung ist mir nicht bekannt. Es erscheint mir jedoch heute als ziemlich sicher, daß die ersten Verminungen auf die Sowjetarmee in den 40er und 50er Jahren zurückzuführen sind.

Die Beschlüsse des NVR wurden in dem von mir skizzierten Rahmen gefaßt und können auch nur unter Berücksichtigung dieser Vorgaben richtig beurteilt werden.

Für mich als Soldat war es nie zweifelhaft, daß die DDR berechtigt war, entlang der Staatsgrenze ein militärisches Sperrgebiet einzurichten und dort Minenfelder anzulegen. Auch andere Staaten haben dieses Recht in Anspruch genommen. Es ist zweifellos richtig, daß der NVR auch in der Zeit, in der ich Sekretär dieses Gremiums war, Beschlüsse zur Verminung der Staatsgrenze gefaßt hat. Es ist auch richtig, daß ich in keinem Fall derartigen Beschlüssen widersprochen habe.

Mir ist keine völkerrechtliche Bestimmung bekannt, die es einem souveränen Staat oder einem überstaatlichen Verteidigungsbündnis verbietet, seine Grenzen zum militärischen Sperrgebiet zu deklarieren und gegebenenfalls auch durch Minenfelder abzusichern, wenn durch die Anlage der Minenfelder und ihre Kennzeichnung bzw. Absperrung eine Verletzung der Zivilbevölkerung ausgeschlossen ist. Es ist mir auch nicht bekannt, daß jemals die UNO oder andere internationale Organisationen die DDR wegen der Anlage von Minenfeldern im Grenzgebiet gerügt, geschweige denn verurteilt haben.

Minenfelder stellten militärische Sicherungsmaßnahmen dar und wurden im Frieden ausschließlich in militärischen Sperrgebieten angelegt. Diese Minenfelder waren deutlich durch sichtbare Warnschilder mit dem Hinweis auf die bestehende Lebensgefahr gekennzeichnet. In den militärischen Bestimmungen wurde den Anforderungen an die Sicherheit der Minensperren besondere Aufmerksamkeit gewidmet. So war z.B. vorgeschrieben:

— die Errichtung eines 2 m hohen Zaunes um erdverlegte Minen,

— das Anbringen von Warnschildern an beiden Seiten der Minensperren mit der Aufschrift »Achtung Minen! Gesperrt – Lebensgefahr!«,

— die Anlage eines 15 m breiten Sicherheitsstreifens zu beiden Seiten der Minensperren.

Diese Sicherheitsvorkehrungen waren für jedermann weithin sichtbar. Ein zufälliges Sichverirren war ausgeschlossen. Es gab keine verdeckten oder geheimen Minensperren!

Der Grund, weshalb in Einzelfällen Minenverletzte nicht sofort geborgen werden konnten, lag sicher auch daran, daß erst ein mit der Anlage des Minenfeldes vertrauter Pionier-Spezialist mit besonderer technischer Gerätschaft herangezogen werden mußte.

Sogar bei den Grenztruppen gab es in diesem Zusammenhang und bei anderen Arbeiten 113 Minen-Opfer (1 Toter, 45 Schwerverletzte, 67 Leicht- und Mittelschwerverletzte). Die Zahl derer mehrt also die schreckliche Bilanz dieser Grenze nochmals. Doch muß ich als Militär darauf hinweisen, wenn mir heute der Vorwurf des Totschlags gemacht wird, daß jeder, der in ein Minenfeld gelaufen ist, dies unter Wahrnehmung und Kenntnis der tatsächlichen Gefahren getan hat.

Die Minenfelder stellten den letzten Abschnitt der Grenzsicherung dar. Ihnen vorgelagert war das übrige Grenzgebiet mit einer Tiefe bis zu 5 km.

Sinn dieses verhältnismäßig tief gestaffelten Grenzgebietes war es, einen potentiellen Republikflüchtling bereits in der Tiefe des Grenzgebietes festzunehmen, um ihn gar nicht erst an die Grenzlinie, d.h. an die Minenfelder heranzulassen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurden nach abgestimmten Plänen

— die Volkspolizei

— die zuständigen MfS-Organe und

— die Grenztruppen mit ihren freiwilligen Helfern aus der Zivilbevölkerung eingesetzt. Durch diese Maßnahmen wurden in der Tat der größte Teil der Grenzverletzer vor Erreichen der Minenfelder festgenommen.

Gestatten Sie mir abschließend zu meiner Erklärung folgende Bemerkungen:

Es ist zu Beginn dieses Strafprozesses vor dem Berliner Landgericht mehrfach darauf hingewiesen worden, daß es sich um einen politischen Prozeß handelt, in dem letztendlich auch über die politische Tätigkeit der früheren DDR ein Urteil gefällt werden wird.

Ich möchte diese Argumentation nicht weiterverfolgt wissen, sondern für den wohl unvermeidlichen Strafprozeß auf folgendes hinweisen:

Im Vordergrund muß die absolute Sachaufklärung und konkrete Beschreibung der Verantwortung des einzelnen ebenso liegen wie die Einbindung der DDR in supranationale Verantwortlichkeiten. Hierbei kann die im Deutschland der Nachkriegszeit vorhandene doppelte Moral nicht außen vor bleiben. Es ist schon befremdend, daß die Verantwortungsträger der früheren BRD die frühere DDR besucht haben oder sich von deren Repräsentanten haben besuchen lassen und ihrem gesamten Umgang, sei es aus Überzeugung, sei es aus realpolitischer Einschätzung den Anstrich des Offiziellen gegeben haben. Vor der Wende in der damaligen DDR hatte letztendlich kein Politiker das Patentrezept zur Veränderung dieser damaligen Welt in der Hand. Es ist aber erwiesen, daß die im Herbst 1989 beginnende und letztlich erfolgreiche, friedliche Revolution eben nicht mit Gewalt verhindert wurde.

Bei allen politischen Gesprächen und Erörterungen über die Si tuation zwischen der BRD und der DDR wurde von westlichen Politikern immer hervorgehoben, daß die Politik der DDR letzt endlich von der Sowjetunion und letztendlich von den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges bestimmt wurde. Man dachte der DDR dabei die Rolle eines Satellitenstaates zu, versuchte damit auch die Gegenläufigkeit der beiden deutschen Entwicklungen zu erklären.

Wenn der gegen mich geführte Strafprozeß das Postulat dem Rechtsstaats zu erfüllen gedenkt, so frage ich mich, warum dieser Rechtsstaat bei einer so zweifelhaften Rechtssituation, wie sie diesem Strafverfahren zugrunde liegt, unbedingt darauf bestehen muß, daß ich mich nunmehr schon weit über eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft zu befinden habe.

Ich habe mehrfach unmißverständlich erklärt, daß ich mich diesem Prozeß und der anstehenden Sachaufklärung stelle. Ich fordere nun auch von diesem Rechtsstaat, daß er mich entsprechend behandelt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß bei noch längerer Untersuchungshaft dieser Rechtsstaat sich selbst vorverurteilend bindet. Um die seriöse Sachaufklärung auch zu gewährleisten, sollte sich das Gericht dazu entschließen, entsprechend dem Antrag meiner Verteidigung nun auch in absehbarer Zeit zumindest den gegen mich existierenden Haftbefehl außer Vollzug zu setzen. Es wird nach innen und außen dann sicherlich leichter werden, unbefangen und sachlich auf die in der Anklageschrift offen gebliebenen Fragen eine ehrliche und historisch vollständige Antwort zu geben.

Berlin, im Dezember 1992 Fritz Streletz

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